Arbeitsrecht

Kündigung wegen langandauernder Erkrankung und bEM – Zielvereinbarung

Aktenzeichen  11 Ca 160/16

Datum:
2.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 149629
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
EFZG § 4a
BGB § 252, § 280 Abs. 3, § 283 S. 1, § 611
KSchG § 1
TzBfG § 14 Abs. 2
BeschFG § 1 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Legt der Arbeitgeber trotz einer entsprechenden vertraglichen Verpflichtung keine Kriterien für einen Zielvereinbarungsbonus fest, kann der Arbeitnehmer Schadensersatz statt der Leistung gem. § 280 Abs. 3 iVm § 283 BGB verlangen, wobei Arbeitsunfähigkeitszeiten mit Entgeltfortzahlungsanspruch nicht zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden können, soweit nicht abweichende Vereinbarungen bestehen, die sich in den Grenzen von § 4a EFZG bewegen; mit Ausspruch einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen Kündigung wird der Anspruch auf einen Jahresbonus schon vor Jahresende anteilig fällig. (Rn. 23 – 27) (red. LS Ulf Kortstock)
2 Eine krankheitsbedingte Kündigung wegen langandauernder Arbeitsunfähigkeit scheidet aus, wenn der Arbeitnehmer sich wieder arbeitsfähig meldet und der Arbeitgeber nur bestreitet, dass dies der Fall sei; die Kündigung ist auch unverhältnismäßig, wenn nicht zuvor ein betriebliches Eingliederungsmanagement versucht wird, zu dem sich der Arbeitnehmer jedenfalls kurz vor der Kündigung doch bereiterklärt hat. (Rn. 28 – 32) (red. LS Ulf Kortstock)
2 Die außerordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers in leitender Stellung wegen unwirtschaftlicher Handhabung der Reisekostenabrechnungen für untergebene Arbeitnehmer scheidet ohne Abmahnung aus, wenn die Entscheidungen mit dem höheren Vorgesetzten abgesprochen waren und eine anderweitige Regelung des Arbeitgebers nicht bestand. (Rn. 37 – 39) (red. LS Ulf Kortstock)

Tenor

1) Es wird festgestellt, dass die mit Kündigungsschreiben vom 24.10.2016 erklärte Kündigung das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht mit Ablauf des 30.4.2017 aufgelöst hat.
2) Es wird festgestellt, dass die mit Kündigungsschreiben vom 28.3.2017 erklärte Kündigung das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht mit sofortiger Wirkung aufgelöst hat.
3) Es wird festgestellt, dass die mit Kündigungsschreiben vom 29.03.2017 erklärte Kündigung das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht mit Ablauf des 30.9.2017 aufgelöst hat.
4) Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten Vertragsbedingungen als „Leiter Client Procurement Global Operations und taktisches Sourcing Region Europe” weiter zu beschäftigen.
5) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Euro 55.440,00 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 2.6.2017 zu bezahlen.
6) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Euro 13.860 brutto nebst Zinsen Höhe von 5% Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 2.6.2017 zu bezahlen.
7) Die Beklagte trägt von den Kosten des Rechtsstreits 13/17, der Kläger 4/17.
8) Der Streitwert für das Verfahren wird festgesetzt auf € 174.210,-.

Gründe

Die zulässige Klage war begründet.
I.
Die Klage war zulässig. Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3, 3 b ArbGG eröffnet. Die örtliche Zuständigkeit des erkennenden Gerichtes folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. §§ 12, 17 ZPO.
II.
1. Der vom Kläger für das Jahr 2016 geltend gemachte Bonusanspruch war inhaltlich begründet und daher zuzusprechen.
Ein Bonus wird – wie hier – vielfach in einer Zielvereinbarung festgelegt. Wegen des Motivationsgedankens ist Kernpunkt der Führung durch Zielvereinbarung, dass sich Leitungspersonen und Arbeitnehmer über die vorzugebenden Ziele einigen. Hat ein Arbeitnehmer nach dem Arbeitsvertrag Anspruch auf einen variablen Gehaltsbestandteil gemäß einer Zielvereinbarung, verpflichtet dies den Arbeitgeber, mit dem Arbeitnehmer Verhandlungen über den Abschluss einer Zielvereinbarung zu führen und ihm realistische Ziele für die jeweilige Zielperiode anzubieten. Soll eine Zielvereinbarung bis zum Abschluss einer Folgevereinbarung fortgelten, bleibt die Verpflichtung des Arbeitgebers, für das Folgejahr dem Arbeitnehmer ein neues Angebot zu unterbreiten und über eine neue Zielvereinbarung zu verhandeln, regelmäßig bestehen. Aus der vereinbarten Nachwirkung folgt zwar die vorübergehende Weitergeltung der abgelaufenen Zielvereinbarung. Die Verhandlungspflichten in Bezug auf eine sich anschließende Zielvereinbarung sind dadurch aber nicht erledigt. Weist der Arbeitgeber nach, dass er seiner arbeitsvertraglichen Verpflichtung, für jede Zielperiode gemeinsam mit dem Arbeitnehmer Ziele festzulegen, nachgekommen ist und dem Arbeitnehmer Ziele vorgeschlagen hat, die dieser nach einer auf den Zeitpunkt des Angebotes bezogenen Prognose hätte erreichen können, fehlt es an einer Verletzung der Verhandlungspflicht des Arbeitgebers und damit an einer Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers. Als Schadensersatz kann die vertraglich geregelte Vergütung ganz oder anteilig zu leisten sein, wobei dem Richter nach § 287 ZPO die Möglichkeit eröffnet ist, den entgangenen Gewinn des Arbeitnehmers im Sinne von § 252 BGB zu schätzen. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes findet diese schadensrechtliche Lösung auch dann Anwendung, wenn die nach der Rahmenvereinbarung notwendige Zielvereinbarung nicht abgeschlossen wird. Die Festlegung von Zielen wird jedenfalls mit Ablauf der Zielperiode im Sinne von § 275 BGB unmöglich, so dass der Arbeitnehmer nach § 280 i.V.m. Abs. 3 i.V.m. § 283 BGB statt der Festlegung von Zielen Schadensersatz verlangen kann (siehe hierzu Müller-Glöge in: Münchner Kommentar zum BGB, § 611, Rn 758 ff. m.w.N.).
a. Gemessen an diesen Maßstäben hat der Kläger den geltend gemachten Anspruch in Form eines Schadensersatzanspruches. Maßgeblich für die abzuschließende Zielvereinbarung ist bei der Beklagten der sogenannte „Lead to Win“ Zielprozess. Für das Jahr 2016 wurde seitens des Arbeitgebers aber keine Zielvereinbarung mit dem Kläger getroffen. Auf Nachfrage räumte der Beklagtenvertreter ausdrücklich ein, dass die zeitlichen Vorgaben dieses Prozesses nicht eingehalten wurden. Darüber hinaus wurde tatsächlich auch keine Verhandlung über die Ziele vorgenommen. Es kann letztlich daher dahinstehen, ob die Beklagte dem Kläger einseitig Ziele vorgegeben hat, da in der vertraglichen Konkretisierung des Zielvereinbarungsprozesses, der bei der Beklagten gilt, eine entsprechende Verhandlungspflicht konstituiert ist. Diese Verhandlungspflicht korrespondiert mit der von der Rechtsprechung vorgegebenen Verhandlungspflicht, wie oben nachgewiesen wurde. Jedenfalls dieser Verhandlungspflicht ist die Beklagte nicht nachgekommen.
b. Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang die im Jahr 2016 teilweise bestehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers. Denn für Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hat, kann dies die variable Vergütung grundsätzlich nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers beeinflussen. Eine entsprechende Kürzungsvereinbarung müsste sich in den Grenzen des § 4 a EFZG halten. Eine solche Kürzungsvereinbarung ist vorliegend nicht ersichtlich.
2. Vorstehendes gilt auch für den anteiligen Bonus für das Jahr 2017. Der Kläger hat für das Jahr 2017 entsprechend seinem Arbeitsvertrag in Verbindung mit § 611 BGB sowie den Regelungen zum vorgenannten „Lead to Win“ Zielprozess einen entsprechenden Anspruch aus § 280 Abs. 1, Abs. 3 i.V.m. § 283 Satz 1, § 252 BGB. Mit Ausspruch der arbeitgeberseitigen außerordentlichen Kündigung wurde dieser Anspruch auch für das Jahr 2017 anteilig zur Zahlung fällig.
III.
Die mit Kündigungsschreiben vom 24.10.2016 arbeitgeberseitig erklärte krankheitsbedingte Kündigung war unwirksam und hat das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst.
1. Ist der Arbeitnehmer bereits längere Zeit arbeitsunfähig krank und ist im Zeitpunkt der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit für die nächsten 24 Monate völlig ungewiss, steht diese Ungewissheit der dauernden Arbeitsunfähigkeit gleich und führt deshalb zu einer grundsätzlich nicht näher darzulegenden erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen. Sie besteht darin, dass der Arbeitgeber auf unabsehbare Zeit gehindert ist, sein Direktionsrecht auszuüben und die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers anzufordern. Allerdings kann es in diesem Fall für den Arbeitgeber sinnvoll sein, sich mit einer vorübergehenden Vertretung zu behelfen. Die 24-Monatsfrist entnahm das BAG für § 1 Abs. 1 BeschFG und entnimmt sie nun § 14 Abs. 2 TzBfG. Denn ein solcher Zeitraum kann durch Einstellung einer Ersatzkraft risikolos, d.h. ohne Sachgrund und damit ohne Prüfung überbrückt werden (Vossen in: Kündigungsschutzrecht, 5. Auflage 2017, § 1 KSchG, Rn 193 ff. m.w.N.).
2. Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, ist der Arbeitgeber verpflichtet, ein sogenanntes betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen. Der Arbeitgeber muss klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann und mit welchen Vorkehrungen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Die Beteiligten sollen feststellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den Ausfallzeiten gekommen ist und welche Möglichkeiten bestehen, sie künftig zu verringern, um so eine Kündigung zu vermeiden. Das betriebliche Eingliederungsmanagement konkretisiert den aus dem Kündigungsrecht bekannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zu den Vorkehrungen gehören daher alle Maßnahmen, zu denen der Arbeitgeber zum Vermeiden von Kündigungen verpflichtet ist, wie unter anderem die Veränderung der Arbeitsaufgabe oder der Arbeitsbedingungen (siehe hierzu Eisenmann in: Küttner, Personalbuch, 24. Auflage 2017, betriebliches Eingliederungsmanagement, Rn 1 m.w.N.).
3. Gemessen an diesen Maßstäben ist die arbeitgeberseitig ausgesprochene Kündigung rechtsunwirksam. Dies zum einen schon deshalb, weil sich der Kläger zum Zeitpunkt des Ausspruches der arbeitgeberseitigen Kündigung arbeitsfähig gemeldet hat. Der diesbezügliche Einwand der Beklagten, dass bestritten werde, dass der Kläger arbeitsfähig gewesen sei, ist insoweit unsubstantiiert und nicht ausreichend. Der Kläger hat eine entsprechende Anzeige gemacht, seinen Arzt von der Schweigepflicht entbunden und die entsprechenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt. Zudem wurde in diesem Zusammenhang nicht weiter erörtert, auf welchen etwaigen anderen Arbeitsplatz der Kläger eingesetzt werden könnte. Der Vortrag der Beklagten, der Kläger sei insgesamt daher nicht arbeitsfähig gewesen, entbehrt der weiteren Differenzierung, die aus diesem Grund bereits notwendig gewesen wäre. Für eine Kündigung nach den oben genannten Voraussetzungen ist es bei einer langandauernden Erkrankung jedenfalls aber erforderlich, dass zum Zeitpunkt des Zuganges der Kündigung die Arbeitsunfähigkeit noch andauert und der Zeitpunkt der Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit objektiv nicht absehbar ist. Dies ist vorliegend gerade nicht gegeben. Ist der Arbeitnehmer im maßgeblichen Zeitpunkt des Zuganges der Kündigung – wie hier – arbeitsfähig, kann keine negative Gesundheitsprognose seitens des Arbeitgebers gestellt werden.
Zum anderem hat der Arbeitgeber gegen den im Kündigungsrecht verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Letztlich kann hier dahinstehen, dass der Kläger arbeitgeberseitig vorgeschlagene Termine zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements verstreichen hat lassen. Denn spätestens zum Zeitpunkt der Anhörung des Betriebsrates hat der Kläger eine Bereitschaft zur Mitwirkung an einem betrieblichen Eingliederungsmanagements ausdrücklich bestätigt. Vor dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wäre es in diesem Zusammenhang daher geboten gewesen, ein betriebliches Eingliederungsmanagement nochmals zu versuchen, bevor die streitgegenständliche Kündigung ausgesprochen wurde.
IV.
Auch die mit Kündigungsschreiben vom 28.03.2017 erklärte außerordentliche Kündigung, hilfsweise außerordentliche Verdachtskündigung, hat das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst.
1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes ist der wichtige Grund in zwei systematisch zu trennenden Abschnitten zu prüfen. Bei der Prüfung, ob eine fristlose Kündigung gerechtfertigt ist, muss demnach zunächst in der ersten Stufe geprüft werden, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne besondere Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden. Sodann sind in der zweiten Stufe die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, die gegenseitigen Interessen abzuwägen und alle vernünftigen in Betracht kommenden Umstände vollständig und widerspruchsfrei zu berücksichtigen. Die außerordentliche Kündigung ist also nur zulässig, wenn sie die ausweislich letzte Maßnahme (ultima ratio) für den Kündigungsberechtigten ist. Bei der Interessensabwägung ist Maßstab, ob unter Berücksichtigung der im konkreten Fall schutzwürdigen personenbezogene Interessen des Gekündigten eine so starke Beeinträchtigung betrieblicher oder vertraglicher Interessen des Kündigenden vorliegen, dass das Kündigungsinteresse gegenüber dem Bestandsschutzinteresse des Gekündigten überwiegt.
Bei verhaltensbedingten Gründen kommt es wesentlich auf den Grad des Verschuldens an (BAG, EzA, § 626 BGB, neue Fassung Nr. 40, m.w.N.).
2. In Abgrenzung zur Tatkündigung ist es bei der Verdachtskündigung alleine der Verdacht, der das zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit des Arbeitnehmers zerstört oder zu einer unerträglichen Belastung führt. Bei der Tatkündigung ist für den Kündigungsentschluss maßgebend, dass der Arbeitnehmer nach der Überzeugung des Arbeitgebers eine beispielsweise strafbare Handlung tatsächlich begangen hat und dem Arbeitgeber aus diesem Grund die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist. Der Verdacht eines (nicht erwiesenen) vertragswidrigen Verhaltens ist ein eigenständiger Kündigungsgrund und nicht denknotwendig mit dem Vorwurf einer (als sicher hingestellten) Vertragsverletzung selbst enthalten. Für die Frage, ob eine Verdachtskündigung vorliegt, kommt es deshalb allein darauf an, worauf der Arbeitgeber die Kündigung stützt. Die Verdachtskündigung ist nur unter sehr eingeschränkten und strengen Voraussetzungen möglich. Der Verdacht muss sich aus objektiven, konkreten, im Zeitpunkt der Kündigung vorliegenden Tatsachen ergeben, die geeignet sind, das für eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zu zerstören. Entscheidend ist, ob sie einen verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zur Kündigung veranlassen können. Wie der kündigende Arbeitgeber die vorliegenden Indizien subjektiv wertet, ist unerheblich. Aufgrund der objektiven Tatsachen muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Arbeitnehmer die Pflichtwidrigkeit begangen hat. Die Umstände, die den Verdacht begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, dass eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen des Arbeitgebers, reichen nicht. Zudem muss die Vertragsverletzung, derer der Arbeitnehmer verdächtigt wird, schwerwiegend sein. Für die arbeitsrechtliche Beurteilung ist es nicht entscheidend, ob das Verhalten, dessen der Arbeitnehmer verdächtigt wird, Straftatbestände erfüllt. Entscheidend sind der Verstoß gegen arbeitsvertragliche Haupt- oder Nebenpflichten und der mit ihm verbundene Vertrauensbruch. Der Arbeitgeber muss – anders als bei der Tatkündigung – alles Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhaltes getan haben (siehe hierzu Schmidt in: Küttner, Personalbuch, 24. Auflage 2017, Verdachtskündigung, Rn 5 ff., m.w.N.).
3. Gemessen an diesen Maßstäben ist die ausgesprochene außerordentliche Kündigung weder als Tat- noch als Verdachtskündigung wirksam.
a. Selbst wenn die beklagtenseits vorgetragenen Vorwürfe als wahr unterstellt werden, rechtfertigt dies für sich genommen noch keine Kündigung ohne vorherige Abmahnung. Maßgeblich für eine Tatkündigung ist der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers. Vorliegend trägt der Kläger substantiiert und in sich schlüssig vor, dass er die Handhabung der Reisekostenabrechnung mit seinem Vorgesetzten abgesprochen habe. Dieser Vortrag rechtfertigt ein entsprechendes Vorgehen jedenfalls dahingehend, dass es aus Sicht des Klägers in Absprache mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten erfolgte. Ist dies aber der Fall, rechtfertigt ein solches Verhalten keine Kündigung ohne vorherige Abmahnung. Dies insbesondere deshalb, weil hier keinerlei eindeutige und klare Regelungen bezüglich der Handhabung der Reisekosten bestanden. Die Beklagte räumt auf Nachfrage selbst ein, dass die von ihr zitierten Regelungen, betreffend die Reisekosten, erst zum 01.01.2017 in Kraft traten, also zeitlich nach den dem Kläger vorgeworfenen Zeiträumen. Zudem ergibt sich aus dem Vortrag der Beklagten selbst, dass der ehemalige Dienstvorgesetzte des Klägers, Herr S., durchaus in die Abstimmungsprozesse, betreffend die Reisekostenabrechnung, einbezogen war. So trägt die Beklagte selbst vor (auf Bl. 393 d.A. wird Bezug genommen), dass Herr S. einräume, dass zumindest phasenweise internationale Reisen von Mitarbeitern aus dem Bereich des Klägers mit ihm direkt hätten abgestimmt werden müssen. Lediglich für nationale Reisen sei ihm nicht erinnerlich, dass ihm jemals eine innerdeutsche Standortreise zur Genehmigung vorgelegt worden sei. Aus dem Vortrag ergibt sich also selbst, dass entsprechende Rücksprachen mit dem Vorgesetzten getätigt wurden. Hinsichtlich der innerdeutschen Reisen bezieht sich der Vortrag der Beklagten lediglich darauf, dass eine entsprechende Absprache dem Herrn S. nicht mehr erinnerlich sei. Dementsprechend bestreitet die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 18.10.2017 auch entsprechenden Sonderlösungen. In einer solchen Konstellation, indem es um den Grad des Verschuldens bzw. überhaupt das Vorliegen eines Verschuldens, betreffend eine bestimmte Vorgehensweise geht, genügt dieser Vortrag jedoch nicht, um hinsichtlich einer Tatkündigung einen entsprechenden substantiierten Vortrag annehmen zu können. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist der Arbeitgeber im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses auch bezüglich fehlender Rechtsfertigungs- und Entschuldigungsgründe jedenfalls in der sekundären Darlegungs- und Beweislast vortragsbelastet. Vor diesem Hintergrund genügt das bloße Bestreiten der Beklagten nicht. Vielmehr kann bereits aus dem Vortrag der Beklagten selbst nicht mit hinreichender Sicherheit geschlossen werden, dass es sich bei dem Vorgehen tatsächlich um ein vertragswidriges und schuldhaftes Vorgehen des Klägers handelte.
b. Auch der Verdacht als solcher begründet keinen eigenständigen Kündigungsgrund im vorliegenden Fall. Die objektiven Indizien, die vorliegen müssen, um einen entsprechenden Verdacht (siehe oben) hinreichend zu begründen, müssen im Zeitpunkt des Kündigungsausspruches vorliegen. Vorliegend räumt die Beklagte selbst ein, dass die von ihr in Bezug genommene Richtlinie zeitlich erst nachgelagert zu den dem Kläger vorgeworfenen Sachverhalten in Kraft trat. Dieses Indiz kann also nicht zur Begründung eines Verdachtes herangezogen werden. Auch liegen, selbst zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlungen, nicht hinreichend erhärtete Verdachtsmomente vor, die eine mögliche Absprache mit dem Vorgesetzten des Klägers, Herrn S., ausräumen. Gemessen an den oben aufgezeigten Maßstäben, die an einer außerordentliche Verdachtskündigung seitens der Rechtsprechung gestellt werden, erfüllt der Vortrag der Beklagten diese nicht. Jedenfalls hat die Beklagte für eine Verdachtskündigung nicht alle notwendigen aufklärenden Maßnahmen unternommen um vortragen zu können, dass die Umstände, die den Verdacht begründen, nicht auch ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein könnten, dass eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte.
V.
Auch die hilfsweise ordentliche Kündigung, hilfsweise vorsorgliche ordentliche Verdachtskündigung vom 29.03.2017 hat das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst. Diesbezüglich kann auf das soeben zur außerordentlichen Kündigung, betreffend die Tat- und Verdachtskündigung, Bezug genommen werden. Seitens der Beklagten sind keine Umstände vorgetragen, die zwar eine außerordentliche nicht zuließen, aber eine ordentliche Kündigung rechtfertigten. Insoweit kann vollumfänglich auf das eben Gesagte Bezug genommen werden.
VI.
Aufgrund der Unwirksamkeit der Kündigungen hat der Kläger einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsvertragsbedingungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens. Das erkennende Gericht folgt insoweit den Grundsätzen, wie sie der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts im Urteil vom 27.02.1985 – GS 1/84 aufgestellt hat. Danach besteht aufgrund des Arbeitsvertrages unter Berücksichtigung der Art. 1 u. 2 GG im bestehenden Arbeitsverhältnis grundsätzlich ein Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers. Im Fall einer Kündigung überwiegt jedoch nach Ablauf der Kündigungsfrist das Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung, soweit offen ist, ob das Arbeitsverhältnis überhaupt noch besteht oder nicht. Ergeht im arbeitsgerichtlichen Verfahren ein die Instanz abschließendes Urteil, durch welches die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt wird, überwiegt das Interesse des Arbeitnehmers an der Beschäftigung, die Interessen des Arbeitgebers, soweit dieser nicht besondere Gründe geltend macht, die über den noch offenen Streit über das Bestehen des Arbeitsverhältnisses hinausgehen. Solche Gründe hat die Beklagte vorliegend nicht genannt. Vielmehr geht sie in ihrem Schriftsatz vom 21.07.2017 selbst davon aus, dass sie eine Position des Leiter Client Procurement Global Operations und taktisches Sourcing Region Europe geschaffen habe und diese dem Kläger übertragen habe. Der geltend gemachte Weiterbeschäftigungsanspruch des Klägers bezieht sich ausdrücklich auf diese Stelle, so dass inhaltlich hier keine Differenz besteht. Das Gericht geht, wie dargelegt, von der Unwirksamkeit der Kündigungen und dem derzeitigen Bestand des Arbeitsverhältnisses aus. Damit überwiegen die Interessen des Klägers an der Beschäftigung. Aus diesem Grund ist der Klage auch in diesem Punkt stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 246 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 91 Abs. 1 ZPO,§ 269 ZPO.
VIII.
Die Streitwertentscheidung beruht auf § 61 Abs. 1 ArbGG§ 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 3 ZPO.


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