Arbeitsrecht

Opferentschädigung wegen sexuellen Missbrauchs

Aktenzeichen  S 13 VG 25/19

Datum:
19.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42965
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
OEG §§ 1 Abs. 1, § 10a Abs. 1 S. 1
BVG § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Sexuelle Übergriffe aus der Zeit bis 1976 können nur dann Ansprüche nach dem OEG auslösen, wenn diese allein zur Schwerbeschädigung, also mindestens zu einem Grad der Schädigung von 50 geführt haben. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anspruchsbegründende Tatsachen, hier Missbrauch im Kindesalter durch einen 1990 verstorbenen Pfarrer, müssen im Vollbeweis, dh mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 14.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.09.2019 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die zu entscheidende Angelegenheit mit keinen besonderen Schwierigkeiten verbunden und der Sachverhalt hinlänglich geklärt ist. Die Rechte der Beteiligten gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG wurden gewahrt, da sie zur Absicht des Gerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, gehört wurden. Nicht maßgeblich ist die Auffassung der Klägerin, dass die Entscheidung „von höchstem öffentlichen Interesse“ sei. Ein besonderes öffentliches Interesse am Klageverfahren der Klägerin ist für das Gericht nicht ersichtlich.
Das SG C-Stadt ist das für die Entscheidung örtlich und sachlich zuständige Gericht. Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist im Übrigen auch zulässig. Die Klage ist in der Sache jedoch nach Überzeugung des Gerichts nicht begründet, da die Ausführungen des Beklagten in den erteilten Bescheiden rechtlich nicht zu beanstanden sind. Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG in ihren Rechten verletzt, da diese rechtmäßig sind. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG besteht aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. Grundsätzlich bedürfen diese drei Glieder der Kausalkette des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit. Abweichend vom grundsätzlichen Erfordernis des Vollbeweises des schädigenden Ereignisses sind nach § 6 Abs. 3 OEG i.V.m. § 15 Satz 1 Kriegsopfer-Verwaltungsverfahrensgesetz (KriegsopfVwVfG) die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.
Während der Anwendungsbereich des OEG grundsätzlich auf Schädigungshandlungen nach dessen Inkrafttreten am 16.5.1976 beschränkt ist, erhalten nach § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG auch solche Personen, die in der Zeit vom 23.05.1949 bis zum 15.05.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie
1. allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und
2. bedürftig sind und
3. im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Dies bedeutet, dass die mutmaßlichen Übergriffe bis 1976 nur dann einen Leistungsanspruch auslösen, wenn diese allein zur Schwerbeschädigung geführt haben, was gemäß § 31 Abs. 2 BVG einen Grad der Schädigung (GdS) von 50 erfordert. Nach Auffassung des Gerichts bedarf es keiner entsprechenden Prüfung anhand einer sozialmedizinischen Begutachtung der Klägerin.
Nach Überzeugung des Gerichts ist vielmehr bereits ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff auf die Klägerin durch die vorgetragenen Missbrauchshandlungen durch den Pfarrer H. im streitgegenständlichen Zeitraum nicht nachgewiesen. Nach den Grundsätzen im sozialgerichtlichen Verfahren sind die anspruchsbegründenden Tatsachen grundsätzlich im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachzuweisen. Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit verstehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt, d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R; C. in Meyer-Ladewig/C./Leitherer/S.t, SGG-Kommentar, § 128 Rn. 3b).
Die Angaben der Klägerin sind auch in der Gesamtschau ihrer Aussagen, der vorgelegten Unterlagen und der Zeugenaussagen nicht nachgewiesen und auch nicht glaubhaft. Insofern kann dahinstehen, ob der Anwendungsbereich von § 15 KriegsopfVwVfG hier überhaupt eröffnet ist, wogegen immerhin der Umstand spricht, dass die Klägerin erst mehr als 40 Jahre nach den vermeintlichen Übergriffen Ansprüche geltend gemacht hat (vgl. BSG, Urteil vom 13.12.1994, Az: 9/9a RV 9/92). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht in Bezug auf den zu fordernden Vollbeweis für den schädigenden Vorgang nicht zu der vollen Überzeugung gelangt, dass Pfarrer H. die Klägerin missbraucht hat. Zeugen für die von der Klägerin dargelegten Missbrauchshandlungen gibt es nicht. Vielmehr haben die Befragten mit Schüler*innen bzw. Kommunionkinder angegeben, dass zwar die Beichte in der Sakristei bei geschlossener Tür durch Pfarrer H. abgenommen wurde, Missbrauchshandlungen oder besondere Erinnerungen im Zusammenhang mit dem Beichtvorgang allerdings nicht in Erinnerung sind. Allein aufgrund einer geschlossenen, aber nicht verschlossenen Sakristeitür auf eine Missbrauchshandlung zu schließen liegt fern. Auch die Missbrauchsbeauftragte der Diözese hat auf Nachfrage angegeben, dass zu Pfarrer H. keine Missbrauchsvorwürfe bekannt sind. Weitere Personen oder Tatzeugen sind nicht vorhanden oder konnten nicht ermittelt werden. Die Schwester oder Mutter der Klägerin als „Zeuginnen vom Hörensagen“ stehen nicht mehr zur Verfügung. Ebenso sind in Betracht kommende polizeiliche Ermittlungen aufgrund einer zeitnahen Strafanzeige durch die Klägerin nicht vorhanden. Die erst im Dezember 2017 von der Klägerin getätigte Strafanzeige hat zu keinem Ergebnis geführt, das Verfahren wurde aufgrund eines Verfahrenshindernisses eingestellt, da der beschuldigte Pfarrer H. bereits im März 1990 verstorben war.
Das Gericht schließt sich somit auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin im Klageverfahren der Begründung der oben genannten Bescheide des Beklagten an und macht sich diese zu Eigen.
Nach alledem war die Klage daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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