Arbeitsrecht

Pflegestufe zur Anleitung und Beaufsichtigung vs. Pflegestufe zur Unterstützung und Übernahme

Aktenzeichen  S 6 P 24/18

Datum:
15.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 52328
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB XI § 45a, § 140 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die insbesondere form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig, aber unbegründet und daher abzuweisen. Die angegriffenen Bescheide der Beklagten vom 23.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.01.2018 sind rechtmäßig und beschweren den Kläger nicht (vgl. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Ein Pflegebedarf im Umfang der Pflegestufe I lässt sich bei dem Kläger zum 31.12.2016 nicht feststellen. Eine Umwertung in einen höheren Pflegegrad als 2 ist daher nicht möglich.
Vorliegend finden die Vorschriften des SGB XI in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung Anwendung. Nach § 140 Abs. 1 SGB XI erfolgt die Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit oder einer erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung jeweils auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts. Der Erwerb einer Anspruchsberechtigung auf Leistungen der Pflegeversicherung richtet sich ebenfalls nach dem zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Recht.
Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI i.d.F. bis 31.12.2016 sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße Hilfe bedürfen (§ 14 Abs. 1 SGB XI). Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen in diesem Sinne sind gemäß § 14 Abs. 4 SGB XI und dort abschließend genannt:
1.im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,
2.im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,
3.im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,
4.im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.
Zu berücksichtigen sind Hilfeleistungen in Form von Unterstützung (= U), teilweise Übernahme (= TÜ), vollständige Übernahme (= VÜ), Beaufsichtigung (= B), Anleitung (= A).
Für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XI sind pflegebedürftige Personen einer der folgenden drei Pflegestufen zuzuordnen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI):
1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
3. Pflegebedürftige der Pflegestufe 3 (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt
1.in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen,
2.in der Pflegestufe II mindestens 3 Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 2 Stunden entfallen,
3.in der Pflegestufe 3 mindestens 5 Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Satz 1 SGB XI).
Die gesetzlichen Vorschriften haben durch die zwischenzeitlich mehrfach geänderten Pflegebedürftigkeits-Richtlinien und Begutachtungs-Richtlinien eine Konkretisierung erfahren. Diese Richtlinien sind zwar für die Gerichte nicht bindend, gleichwohl – schon aus Gründen einer gleichmäßigen Behandlung der Versicherten – anwendbar, soweit sie mit höherrangigem Recht in Einklang stehen. Hinsichtlich der Einzelheiten ist auf die vorstehend genannten umfangreichen Richtlinien zu verweisen.
Unter Beachtung dieser Vorgaben liegen bei dem Kläger die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht vor. Dies hat das Ergebnis der Beweisaufnahme ergeben. Das Gericht hat hierzu die Gutachten das MDK und des vom Gericht bestellten ärztlichen Sachverständigen Dr. H. ausgewertet.
Danach ist die Diagnose Minimale Cerebrale Dysfunktion pflegebegründend.
Daraus ergibt sich folgender berücksichtigungsfähiger Hilfebedarf:
(Legende: Unterstützung (= U), teilweise Übernahme (= TÜ), vollständige Übernahme (= VÜ), Beaufsichtigung (= B), Anleitung (= A)).
Im Bereich Körperpflege
Ganzkörperwäsche in Form B/A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Teilwäsche Hände/Gesicht in Form A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Duschen in Form B/A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Zahnpflege in Form B/A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Kämmen in Form in Form von A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Rasieren im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Wasserlassen in Form von A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
Stuhlgang in Form von A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
insgesamt 8 Minuten
Im Bereich Ernährung Mundgerechte Zubereitung in Form von B/A im täglichen Durchschnitt 1 Minute Aufnahme der Nahrung oral in Form von B/A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
insgesamt 2 Minuten
Im Bereich Mobilität Ankleiden Gesamt in Form von A im täglichen Durchschnitt 1 Minute
insgesamt 1 Minuten
Dies ergibt einen täglichen Gesamtzeitbedarf an Grundpflege im Umfang von 11 Minuten.
Die hauswirtschaftliche Versorgung ist erforderlich im Umfang von 45 Minuten täglich.
Da das Vorliegen der Pflegestufe I einen berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf von insgesamt mindestens 90 Minuten täglich, davon mehr als 45 Minuten Grundpflege erfordert, wird die Pflegestufe I nicht erreicht.
Zur näheren Begründung der Gesamtbeurteilung:
Die Hilfebedürftigkeit des Klägers im Hinblick auf Körperpflege, Ernährung, Mobilität und Hauswirtschaft resultiert in erster Linie aus der cerebralen Dysfunktion mit kognitiven Einschränkungen und Verhaltensauffälligkeiten. Bezüglich der Körperpflege ist bei der Körperwäsche, beim Duschen, bei der Zahnpflege und beim Kämmen Anleitung bzw. teilweise auch Beaufsichtigung erforderlich. Ebenso bedarf es der Anleitung zur Hygiene nach dem Wasserlassen und nach dem Stuhlgang. In diesem Kontext ist auf einen entsprechenden Wechsel der Körperwäsche zu achten. Aufgrund des gierigen und unkontrollierten Essverhaltens des Klägers ist sowohl bei der mundgerechten Nahrungszubereitung als auch bei der Nahrungsaufnahme Beaufsichtigung und Anleitung in der Hinsicht erforderlich, dass die Nahrung entsprechend kleiner proportioniert wird und nicht heruntergeschlungen, sondern gekaut werden soll. Die Kleidung muss witterungsgerecht bereitgelegt werden. Das An- und Ausziehen geschieht selbständig, allerdings kommt es vor, dass Kleidungsstücke verkehrt angezogen werden, dann ist eine Korrektur durchzuführen. Die hauswirtschaftliche Versorgung wird nahezu komplett übernommen, der Kläger hilft nur beim Abtrocknen mit.
Das Gericht ist im Ergebnis unter eigener sorgfältiger Prüfung der vorliegenden medizinischen und sonstigen Unterlagen davon überzeugt, dass die gutachterliche Einschätzung des Dr. H. zutreffend ist. Der Kläger hat hierzu auch nicht konkret vorgetragen, in welchen Punkten das Gutachten unzutreffend sein soll. Das Pflegetagebuch vom 20.07.2018 lag im Rahmen der Begutachtung bereits vor. Die dortigen Zeitangaben berücksichtigen nicht, dass der Kläger nur der Anleitung und Beaufsichtigung bedarf und nicht einer Unterstützung oder Übernahme, die wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen würden. Das Gericht hat daher im Ergebnis keine Bedenken, sich der Einschätzung des Gutachters, die im Wesentlichen auch mit den Feststellungen des MDK übereinstimmt, anzuschließen.
Versicherte, bei denen eine erheblich eingeschränkte Alltagskompetenz nach § 45a SGB XI in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung festgestellt wurde, werden bei nicht gleichzeitigem Vorliegen einer Pflegestufe nach den §§ 14 und 15 in der am 31. Dezember 2016 geltenden Fassung in den Pflegegrad 2 übergeleitet (§ 140 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 Buchst. a SGB XI).
Im Ergebnis sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden, die Klage war abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.


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