Arbeitsrecht

Tat- und Verdachtskündigung: Darlegungs- und Beweislast

Aktenzeichen  3 Ca 329/19

Datum:
29.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7704
Gerichtsart:
ArbG
Gerichtsort:
Weiden
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 626 Abs. 1
ZPO § 286 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Bei der Tat- und bei der Verdachtskündigung trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast auch für das Nichtvorliegen von Tatsachen, die die Handlung des Gekündigten als gerechtfertigt erscheinen lassen, wie z. B. die Gestattung der Mitnahme. (Rn. 27)
2. Eine festgestellte Aktenkenntnis des Zeugen ist im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen und kann dazu führen, dass das Gericht die erforderliche volle Überzeugung von der Wahrheit der Aussage nicht erlangen kann. (Rn. 30)

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 27.03.2019 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst ist.
2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen als Senior-Mechaniker weiter zu beschäftigen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4. Der Streitwert wird auf 20.227,64 € festgesetzt.
5. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Gründe

Die Klage ist erfolgreich, weil sich die Kündigung als unwirksam erweist und der Kläger entsprechend bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiterzubeschäftigen ist.
I.
Der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen ist eröffnet. Für den Kündigungsschutzantrag ergibt sich dies ebenso wie für den Weiterbeschäftigungsantrag aus § 2 I Nr. 3 b ArbGG. Das Arbeitsgericht Weiden ist auch örtlich zuständig gem. § 48 I a 1 ArbGG.
II.
Die Klage ist hinsichtlich des Kündigungsschutzantrages zulässig. Das Feststellungsinteresse gem. § 256 I ZPO für diesen Kündigungsschutzantrag besteht mit Blick auf die drohende Präklusion in §§ 4, 7 KSchG. Der Zusatz im Klageantrag „sondern fortbesteht“ stellt ein unselbständiges Anhängsel ohne eigene prozessuale Bedeutung dar, über das nicht zu entscheiden war (vgl. BAG vom 15.03.2001, 2 AZR 141/00).
III.
Der Kündigungsschutzantrag ist begründet, da die Kündigung vom 27.03.2019 unwirksam ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien damit nicht aufgelöst hat.
1. Der Kläger hat rechtzeitig innerhalb der Dreiwochenfrist der §§ 13 I 2, 4, 7 KSchG Klage gegen die Kündigung erhoben, da die Klage der Beklagten am 10.04.2019 und damit jedenfalls innerhalb von drei Wochen ab Zugang der Kündigung am 27.03. oder 28.03. zugestellt wurde, § 253 I ZPO.
2. Das Kündigungsschutzgesetz findet vorliegend unstreitig Anwendung, da die Voraussetzungen gem. §§ 1 I, 23 I KSchG erfüllt sind.
3. Die Kündigung ist als fristlose unwirksam, da es an einem wichtigen Grund i.S.d. § 626 I BGB fehlt.
a. Gemäß § 626 I BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
Dabei ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich” und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist.
Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. BAG vom 20.10.2016, 6 AZR 471/17).
b. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann auch der auf objektive – unstreitige oder bewiesene – Tatsachen gründende dringende Verdacht einer Straftat mit Bezug zum Arbeitsverhältnis oder eines sonstigen erheblichen Fehlverhaltens, einer schwerwiegenden Verletzung von erheblichen arbeitsvertraglichen Pflichten ein an sich zur außerordentlichen Kündigung berechtigender Umstand sein.
An die Voraussetzungen einer solchen Verdachtskündigung sind aber strenge Anforderungen zu stellen. Insbesondere muss der Verdacht dringend sein, d.h. es muss eine große Wahrscheinlichkeit für die Pflichtwidrigkeit des gekündigten Arbeitnehmers bestehen. Die Umstände, die den Verdacht begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermag. Die Verdachtsmomente müssen auf objektiven Tatsachen beruhen und geeignet sein, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen aus der Sicht eines verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgebers zu zerstören; auf die subjektive Wertung des konkret kündigenden Arbeitgebers kommt es nicht an. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (vgl. Schaub ArbR-HdB, 18. Aufl., § 127 Rn. 137 ff. mit Nachweis der BAG-Rechtsprechung).
Nach dem Bundesarbeitsgericht kann der Verdacht im Lauf des Kündigungsschutzprozesses bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung rückwirkend durch Be- oder Entlastungstatsachen ausgeräumt oder verstärkt werden. Dies u.a. deshalb, da dann, wenn den Arbeitnehmer entlastende Tatsachen, die erst im Prozess zutage getreten sind, außer Betracht bleiben würden, der Arbeitgeber nur nachzuweisen bräuchte, dass jedenfalls zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung ein dringender Tatverdacht bestand. Das aber würde der bei der Verdachtskündigung bestehenden Gefahr, einen „Unschuldigen“ zu treffen, nicht gerecht werden (vgl. BAG vom 23.10.2014, 2 AZR 644/13).
c. Im Kündigungsschutzprozess obliegt dem kündigenden Arbeitgeber die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes. Den Arbeitgeber trifft die Darlegungs- und Beweislast auch für diejenigen Tatsachen, die einen vom Gekündigten behaupteten Rechtfertigungsgrund ausschließen (vgl. BAG vom 17.03.2016, 2 AZR 110/15). Diese Grundsätze gelten auch bei der Verdachtskündigung (vgl. Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 4, 4.Aufl., 2018, § 390, Rn. 70).
d. Bei Anwendung dieser Grundsätze kann ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung i.S.d. § 626 I BGB nicht festgestellt werden.
Zwar geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass eine Straftat zu Lasten des Vermögens des Arbeitgebers wie z.B. ein Diebstahl und nach den aufgezeigten Regeln auch ein starker Verdacht hierauf eine Kündigung durchaus begründen kann. Eine solche Tat oder einen ausreichenden entsprechenden Verdacht hat die Beklagte im Ergebnis aber weder im Hinblick auf das mitgenommene Räumschild, noch auf die Rückfahrkamera oder die Schrauben nachweisen können. Davon ist das Gericht aufgrund des Akteninhalts und des Ergebnisses der Beweisaufnahme überzeugt.
Insbesondere hat die Beklagte die klägerische Einlassung, wonach ihm die Mitnahme des Schildes durch den Zeugen R… gestattet wurde, nicht widerlegt. Hierzu hat der Kläger substantiiert vorgetragen, Anfang Februar 2019 erst den Zeugen H… und dann am 28.02.2019 den Zeugen R… wegen des Schildes gefragt zu haben, wobei Ersterer auf den Zeugen R… verwiesen und Letzterer der Mitnahme zugestimmt habe.
Zwar hat der Zeuge H… diesen auf ihn bezogenen Vortrag nicht bestätigt, sondern ausgesagt, dass es ein Gespräch über das Schild weder mit dem Zeugen L…, noch mit dem Kläger gegeben habe. Die Kammer hat hierzu keinesfalls festgestellt, dass der Zeuge H… die Unwahrheit gesagt hat, im Gegenteil hält sie es aufgrund der Ausführungen des Zeugen für durchaus möglich, dass diese Aussage wahr ist. Letztlich konnte das Gericht aber keine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für die zeugenseits behaupteten Umstände – Nichtstattfinden der Gespräche – feststellen, was aber Voraussetzung für eine ausreichende Überzeugung i.S.d. § 286 I ZPO, nämlich die volle Überzeugung, wäre.
Dies ergibt sich daraus, dass die Aussage recht skripthaft erfolgte. Der Zeuge hat diese auf Basis von Schriftsätzen zum gegenständlichen Verfahren, die ihm von der Geschäftsleitung gezeigt wurden, vorbereiten können. Solches ist zwar nicht verboten und wurde vom Zeugen auch eingeräumt, ist aber aussagepsychologisch nicht unproblematisch, da durch das Lesen die Gefahr der Veränderung des Gedächtnisinhalts besteht und im Extremfall nurmehr der Unterlageninhalt, aber nicht mehr die originäre („lebendige“) Erinnerung bezeugt wird (vgl. Hoffmann/Maurer, Voraussetzungen und Grenzen anwaltlicher Zeugenvorbereitung, NJW 2018, 257; vgl. auch Ullrich, Außergerichtliche Kontakte zwischen Anwalt und Zeugen im Zivilprozess NJW, 2014, 1341: Schriftsätze lesen lassen riskiert die Glaubwürdigkeit). Eine volle Überzeugung vom Nichtstattfinden der Gespräche vermochte sich die Kammer damit jedenfalls nicht zu verschaffen. Die Aussage des Zeugen H… konnte der Entscheidung damit nicht zugrunde gelegt werden.
Dass dieser die klägerseits geltend gemachten Gespräche über das gegenständliche Räumschild nicht bestätigt hat, kann aus Sicht des Gerichts daran liegen, dass diese eher beiläufig stattgefunden haben und der Zeuge H… sich für eine entsprechende Genehmigung auch nicht als (alleine) zuständig erachtete. Für eine solche Erklärung spricht jedenfalls der Umstand, dass auch der Kläger nicht geltend gemacht hat, dass der Zeuge die Genehmigung alleine erteilte, sondern ihn auch an den Zeugen R… verwiesen habe und auch die Aussage des Zeugen L…, wonach seine Nachfrage eher beiläufig erfolgt sei. Dies kann aber letztlich für die Fallentscheidung dahinstehen.
Dem Zeugen L… glaubt die Kammer uneingeschränkt. Zwar hat auch der Zeuge L… eingeräumt, dass er im Vorfeld seiner Einvernahme etwas zu den gegenständlichen Vorgängen gehört habe. Der Zeuge offenbarte auch – jedenfalls sinngemäß – Kenntnisse vom Inhalt der Aussage des Zeugen H… (Begrüßung). Eine Kontaktaufnahme zu (potentiellen) Zeugen ist aber, wie oben ausgeführt, keineswegs verboten, sondern zur Sachverhaltsermittlung u.U. geradezu geboten (vgl. Ullrich, Außergerichtliche Kontakte zwischen Anwalt und Zeugen im Zivilprozess NJW, 2014, 1341). Erkenntnisse des Zeugen L… führt das Gericht daher auf – zulässige – Nachfragen der Klägerseite im Nachgang zur Aussage des Zeugen H… zurück (vgl. die Ausführungen in der Klageerweiterung vom 17.01.2020). Vor allem aber hat der Zeuge kein erkennbares oder von einer Seite behauptetes Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens. Er hat seine Erkenntnisse lebhaft und detailreich, auch anderweitig nachprüfbar, geschildet, wobei die Ausführungen stets gut nachvollziehbar waren. Das Gericht ist damit insgesamt davon überzeugt, dass sich der Zeuge L… wahrheitsgemäß geäußert hat.
Mit dem Kläger ist daher davon auszugehen, dass der Zeuge L… den Zeugen H… im Sommer 2017 darauf angesprochen hat, ob er das Schild erhalten könne, woraufhin der Zeuge H… sinngemäß gesagt hat, dass man da schon eine Lösung finden werde. Dies hat der Zeuge L… so erklärt. Im Weiteren hat die Beklagte aufgrund der obigen Beweiswürdigung den Klagevortrag nicht widerlegt, wonach auch der Kläger Anfang 2019 den Zeugen H… auf das Schild angesprochen und nachgefragt hat, ob er dies für den L… mitnehmen könne, woraufhin der Zeuge H… keine Einwände hatte, sondern ihm lediglich aufgab, auch noch den Zeugen R… zu fragen.
Die klägerseits geltend gemachte Zustimmung durch den Zeugen R… vom 28.2.2019 hat die Beklagte nicht widerlegen können. Auch hier hat das Gericht zwar keineswegs festgestellt, dass der Zeuge R… gelogen hat. Andererseits ist die Kammer aber nach dem Akteninhalt und dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht voll davon überzeugt, dass der Zeuge dem Kläger die Mitnahme tatsächlich nicht gestattet hat. Der Zeuge steht als Arbeitnehmer im Abhängigkeitsverhältnis zur Beklagten. Dies allein spricht zwar nicht gegen seine Glaubwürdigkeit, gebietet aber eine besonders genaue Überprüfung, um Entscheidungen aufgrund von „passgenauen“ oder gar Gefälligkeitsaussagen zu vermeiden.
Dies berücksichtigend ist das Gericht von der Aussage nicht ausreichend überzeugt. Nach der glaubwürdigen Aussage des Zeugen L… hat der Zeuge R… ihm wiederholt gebrauchte Teile – Ersatzreifen und Scheinwerfer – überlassen. Dazu passt auch der klägerseits in der Anlage K4 vorgelegte umfangreiche zusätzliche Zuständigkeitskatalog des Zeugen R…, der unwidersprochen geblieben ist und woraus sich eine Vorgesetztenstellung mit weitreichenden Kompetenzen ergibt. Den Ausführungen des Zeugen R… zu seiner fehlenden Berechtigung, die auch dem Kläger bekannt gewesen sein soll, vermag das Gericht daher nicht zu folgen.
Hinzu kommt, dass sich der Zeuge bei Kernpunkten des Geschehens nicht sicher festlegte bzw. seine Aussage hier relativierte. So erklärte der Zeuge zunächst, dass im Vorfeld der Mitnahme des Schildes, mit ihm über das Schild nicht gesprochen worden sei und zwar weder durch den Zeugen L… noch durch den Kläger. Im Anschluss erklärte der Zeuge dann aber, dass er sich ziemlich sicher sei, dass er auch mit dem Kläger nicht über das Schild gesprochen habe, jedenfalls wisse er dies nicht, was eine Abschwächung der zunächst getroffenen Aussage darstellt. Auf weitere Nachfragen zu diesem entscheidenden Punkt durch den Beklagtenvertreter und den Kläger legte sich der Zeuge dann zwar wieder fest – er habe die Genehmigung zur Mitnahme mit Sicherheit nicht erteilt bzw. diese Behauptung des Klägers stimme nicht. Allerdings verband der Zeuge diese Erklärungen immer mit dem Hinweis, dies auch gar nicht zu dürfen. Da das Gericht aber davon ausgeht, dass der Zeuge R… (jedenfalls) zuvor gebrauchte Gegenstände der Beklagten durchaus in eigener Verantwortung an Mitarbeiter überlassen hat (so der Zeuge L… zu den Ersatzreifen, wonach der Zeuge R… ihm auf seine Frage nach einem Ersatzreifen gleich vier hinten draufgeschmissen habe), stellt dies den Gehalt des Aussagekomplexes insgesamt in Frage. Eine hinreichende Überzeugung davon, dass es sich so zugetragen hat, wie der Zeuge R… dies schildert, konnte sich das Gericht daraus jedenfalls nicht verschaffen.
Der ebenfalls einvernommene Zeuge J…, den das Gericht auch aufgrund der teilweise durchaus vom Beklagtenvortrag abweichenden Aussagen – z.B. zum Zustand des gegenständlichen Räumschildes, sehr gut bzw. misshandelt und zur Verschrottung anstehend – als uneingeschränkt glaubwürdig erachtet, hat zur Frage der Genehmigung nichts Erhellendes mehr beigetragen. Er hat aber ausgeführt, dass es sich beim Schild um ein auch so markiertes Schrottteil vom Schrottplatz gehandelt habe und er dessen Transport für den Kläger von dort zur Palette auf dem Hof während der Arbeitszeit erledigt habe.
Aus alldem folgert das Gericht, dass der Kläger das Schild aufgrund der Genehmigung durch Herrn R… mitnehmen durfte. Da der hierfür erforderliche Transport auf die Palette auf dem Hof auch für jeden ersichtlich während der Arbeitszeit und unter Einschaltung eines Arbeitskollegen erfolgte, verhielt sich der Kläger auch in der Folgezeit nicht verdächtig, sondern handelte offen – nicht heimlich – und offenbar ohne Unrechtsbewusstsein.
Selbst wenn der Zeuge R… bei der Erlaubnis seine innerbetrieblichen Kompetenzen überschritten haben sollte, ließe sich daraus jedenfalls mit Blick auf die vom Zeugen R… in der Vergangenheit erteilten Mitnahme-Erlaubnisse und sein Auftreten als Repräsentant des Arbeitgebers keinesfalls ein Kündigungsgrund für den Kläger ableiten. Dies folgt im Übrigen auch daraus, dass das Gericht aus Rechtsgründen davon ausgeht, dass der Kläger zunächst den übergeordneten Vorgesetzten H… gefragt hat.
Wegen der erteilten Erlaubnis scheidet eine Tatkündigung ebenso wie eine Verdachtskündigung – die nicht widerlegte Erlaubnis stellt hierbei die entscheidende Entlastungstatsache dar – mangels Vorliegens eines wichtigen Grundes aus. Die Kammer stellt zur Verdachtskündigung bezüglich des Räumschildes ergänzend noch fest, dass sie auch aus dem beklagtenseits angeführten – bestrittenen – Umstand, wonach der Kläger im Rahmen seiner Anhörung am 20.03.2019 kein definitives Einverständnis seiner Vorgesetzten bzw. ein widersprüchliches Datum behauptet habe, keinen dringenden Verdacht zu seinen Lasten abzuleiten vermag. Eine starke Betroffenheit angesichts der erhobenen Vorwürfe und der ihm vorgehaltenen Aussagen seiner Vorgesetzten mit der Konsequenz einer nur eingeschränkten Verteidigung im Rahmen einer offenbar spontan angesetzten mündlichen Anhörung/Konfrontation erscheint gut nachvollziehbar. Belastendende Umstände ergeben sich hieraus keine. Das Gericht ist auch nicht gehalten, solche anzunehmen, da der Arbeitnehmer mit im Rahmen der Anhörung ggf. nicht bzw. nicht vollständig vorgebrachtem Entlastungsvortrag nicht präkludiert ist (vgl. ErfK, 20. Aufl., § 626 BGB Rn. 178 c; Klinkhammer, Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch von Verdachtskündigungen, ArbRAktuell 2020, 7).
Es besteht auch kein dringender Verdacht, dass der Kläger eine Rückfahrkamera oder Schrauben gestohlen hat. Bezüglich der Kamera gilt, dass unklar ist, woher der Kläger den Mähdrescher, an den die Kamera montiert gewesen sei, hatte. Mit dem Beklagtenvortrag hierzu erscheint es ebenso möglich, dass der Kläger den Mähdrescher samt Kamera irgendwoher erworben und weiterverkauft hat. Gegen einen starken Verdacht zu Lasten des Klägers spricht hier auch, dass der Kläger den Zeugen R… über den Verkauf des Mähdreschers informierte und damit eine Überprüfungsmöglichkeit schuf. Die Schrauben können nach den Erklärungen im zweiten Kammertermin auch beim Fachhändler gekauft werden. Außerdem können nach dem Beklagtenvortrag (Schriftsatz vom 17.9.2019) auch Kleinteile wie z.B. Schrauben nach Absprache mitgenommen werden. Dass der Kläger auf diesem Wege – ggf. auch über einen Kollegen – oder über eine Verschrottung – kleinere Verschrottungsaktionen finden nach dem Zeugen J… immer statt – ein paar noch gut erhaltene Schrauben ohne sofort feststellbare Gebrauchsspuren erhalten und verwendet hat, hält das Gericht für ebenfalls möglich und auch nicht abwegig. Für einen dringenden Verdacht bezüglich eines Diebstahls sind die geltend gemachten Umstände nach alldem jedenfalls zu unergiebig.
Eine gegebenenfalls unterbliebene Eintragung bezüglich des ausgeliehenen Gerüsts kann alleine, aber auch in der Gesamtschau mit dem übrigen Beklagtenvortrag mangels hinreichender Erheblichkeit weder eine Tat- noch eine Verdachtskündigung begründen.
4. Die Kündigung ist auch als ordentliche unwirksam, da sozial ungerechtfertigt, § 1 II i.V.m. I KSchG. Ein für eine verhaltensbedingte Kündigung ohne vorherige einschlägige Abmahnung ausreichender Pflichtverstoß – das BAG fordert insoweit eine erhebliche Pflichtverletzung (vgl. BAG vom 15.12.2016, 2 AZR 42/16) – bzw. ein entsprechender dringender Verdacht liegt nach den obigen Ausführungen ebenso wenig vor. Auch die beklagtenseits geltend gemachten Umstände beim Kündigungszugang führen zu keinem anderen Ergebnis. Die Beklagte hat auf das klägerische Bestreiten hin nicht nachgewiesen, dass der Kläger etwaige Zugangserschwernisse veranlasst hat und ihm solches damit überhaupt zurechenbar wäre. Zudem wäre eine echte, dem Kläger zurechenbare und schwerwiegende Zugangsvereitelung mit der Annahme einer Zugangsfiktion sanktioniert. Eine darüber hinausgehende zusätzliche Sanktion in Form eines Kündigungsgrundes ist nicht angebracht. Es lagen auch besonderen Umstände – zu erwartende Kündigung nach über 26 Jahren Betriebszugehörigkeit – und damit eine insbesondere auch für den Kläger angespannte Situation ohne ersichtliche Wiederholungsgefahr vor, was aus Sicht des Gerichts dazu führt, dass ohnehin hier nicht sogleich eine Kündigung ohne vorangegangene einschlägige Abmahnung in Betracht käme.
IV.
Der damit zur Entscheidung anfallende allgemeine Weiterbeschäftigungsantrag gem. Klageerweiterung vom 17.01.2020 ist ebenfalls erfolgreich.
1. Der Antrag ist zulässig, § 259 ZPO.
2. Der Antrag ist auch begründet. Der Kläger macht seine Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens mit Erfolg geltend.
Der Anspruch ergibt sich aus dem Arbeitsvertrag i.V.m. §§ 611 I, 613 BGB i.V.m. § 242 BGB i.V.m. Art. 1 I und Art. 2 I GG.
Nach der maßgebenden Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts (Beschluss vom 27.2.1985, AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14) hat der gekündigte Arbeitnehmer grundsätzlich einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist oder bei einer fristlosen Kündigung über deren Zugang hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsprozesses, sofern er erstinstanzlich mit seinem Kündigungsschutzantrag durchdringt. Nur im Einzelfall können dann noch zusätzliche, vom Arbeitgeber nachzuweisende Umstände zu einem zu Gunsten der Arbeitgeberseite überwiegenden Interesse an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers führen.
Mit der getroffenen Entscheidung entspricht die Kammer im Kündigungsschutzantrag dem klägerischen Begehr. Umstände, die bezüglich der Weiterbeschäftigung ein vom Regelfall abweichendes Abwägungsergebnis zu Lasten des Klägers rechtfertigen würden, sind hier nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich.
Bei Abwägung aller vorgetragenen Gesichtspunkte sieht das Gericht hier insgesamt ein Überwiegen des klägerischen Beschäftigungsinteresses als gegeben an.
V.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO. Der Streitwert wurde gem. §§ 61 I ArbGG, 42 II GKG, 3 ZPO festgesetzt. Ein gesetzlich begründeter Anlass für eine gesonderte Berufungszulassung bestand nicht, § 64 III ArbGG.

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