Bankrecht

5 HK O 3712/21

Aktenzeichen  5 HK O 3712/21

Datum:
9.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ZIP – 2022, 1442
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Beschluss der außerordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 19.2.2021 zum einzigen Tagesordnungspunkt, mit dem die Hauptversammlung beschlossen hat:
„Die auf den Inhaber lautenden Stückaktien der übrigen Aktionäre (Minderheitsaktionäre) der N… Aktiengesellschaft mit Sitz in München werden gemäß § 62 Absatz 5 Umwandlungsgesetz in Verbindung mit §§ 327a ff. Aktiengesetz gegen Gewährung einer von der N… SE mit Sitz in München (Hauptaktionär) zu zahlenden angemessenen Barabfindung in Höhe von EUR 822,00 je auf den Inhaber lautender Stückaktie der N… Aktiengesellschaft auf die N… SE übertragen.“
wird für nichtig erklärt.
II.Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III.Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 105 % des jeweils zu vollstreckendem Betrag.
IV.Der Streitwert wird auf € 56.000,– festgesetzt.  

Gründe

I. Die Anfechtungsklagen sind zulässig und begründet.
1. An der Zulässigkeit der Anfechtungsklagen bestehen keine Zweifel. Dabei muss insbesondere das Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtungsklage bejaht werden, auch wenn der Beschluss über den Squeeze out im Handelsregister eingetragen ist und die Kläger daher ihre Aktionärsstellung aufgrund von § 327 e Abs. 3 Satz 1 AktG kraft Gesetzes verloren haben. Dieses ließe sich nur dann verneinen, wenn aus einem entsprechenden Urteil keinerlei Rechtswirkungen zugunsten der Kläger hergeleitet werden könnten, wovon indes angesichts der Vorschriften der §§ 327 e Abs. 2, 319 Abs. 6 Satz 10 AktG nicht ausgegangen werden kann. Erweist sich die Klage nämlich als begründet, so ist die Gesellschaft, die den (Freigabe-)Beschluss erwirkt hat, verpflichtet, dem Antragsgegner – mithin dem klagenden Aktionär – den Schaden zu ersetzen, der ihm aus einer auf dem Beschluss beruhenden Eintragung des Hauptversammlungsbeschlusses entstanden ist. Demgemäß setzt ein Schadensersatzanspruch auf der Grundlage dieser Norm ein stattgebendes Urteil voraus, weshalb bereits der Gesetzgeber davon ausgeht, das Beschlussmängelverfahren müsse trotz Eintragung des Beschlusses fortgeführt werden.
2. Die Anfechtungsklagen sind auch begründet.
a. Die Kläger sind anfechtungsbefugt im Sinne des § 245 Nr. 1 AktG. Nach dieser Vorschrift ist zur Anfechtung befugt jeder in der Hauptversammlung erschienene Aktionär, wenn er die Aktien schon vor der Bekanntmachung der Tagesordnung erworben hatte und gegen den Beschluss Widerspruch zur Niederschrift erklärt hat. Da die Kläger ihre Aktien unstreitig bereits vor der am 14.1.2021 erfolgten Einberufung zu der außerordentlichen Hauptversammlung vom 19.2.2021 erworben hatte und während der Hauptversammlung Widerspruch zur Niederschrift erklärten, sind sie anfechtungsbefugt.
b. Die Klagen wurden fristgerecht innerhalb der gem. § 246 Abs. 1 AktG einen Monat betragenden und daher am 19.3.2021 endenden Klagefrist erhoben, auch wenn die Klage erst mit ihrer Zustellung gem. § 253 Abs. 1 ZPO erhoben wird. Dabei erfolgte die Zustellung der Klage am 26.4.2022 an die Prozessbevollmächtigten der Beklagten. Es greift nämlich auch im Anwendungsbereich von § 246 Abs. 1 AktG die Vorschrift des § 167 ZPO ein, wonach in den Fällen, in denen durch die Erhebung der Klage eine Frist gewahrt werden soll, die Wirkung bereits mit Eingang des Antrags bei Gericht eintritt, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Die Voraussetzungen des § 167 ZPO müssen bejaht werden, weshalb auf den am 12.3.2021 bzw. am 19.3.2021 erfolgten Eingang der Klagen bei Gericht abgestellt werden muss. Die Verzögerung der Zustellung ist zu einem erheblichen Teil der Organisationssphäre des Gerichts zuzuordnen und steht folglich einer demnächst erfolgten Zustellung nicht entgegen. Mit Beschlüssen vom 22.3.2021 (Bl. 35 d.A.) bzw. 30.3.2021 (Bl. 69/70 d.A. im hinzuverbundenen Verfahren 5HK O 4191/21) hat das Gericht den Streitwert jeweils vorläufig festgesetzt. Die Einzahlung des darauf beruhenden Kostenvorschusses erfolgte am 31.3. bzw. am 12.4.2021. Wenn die Zustellung der Klageschrift aufgrund der Verfügung vom 12.4.2021 erst am 26.4.2021 erfolgte, so beruht dies auf der Zeitdauer zwischen der Einzahlung und dem Eingang des Zahlungsnachweises beim Landgericht München I sowie dem Nachweis der Zustellung durch das Empfangsbekenntnis des Prozessbevollmächtigten der Beklagten. Dann aber ist die weitere Verzögerung der Zustellung ausschließlich der Organisationssphäre des Gerichts sowie dem Zeitpunkt der Entgegennahme der Zustellung durch die Prozessbevollmächtigten der Beklagten zuzuordnen. Die Kläger selbst hatten alles Erforderliche veranlasst, um eine zeitnahe Zustellung der Klageschrift durch das Gericht zu ermöglichen. Gerade bei einem nicht bezifferten Klageantrag sind sie auch berechtigt, die Aufforderung zur Zahlung des Gerichtskostenvorschusses abzuwarten.
c. Der Beschluss der Hauptversammlung vom 19.2.2021 verstößt gegen das Gesetz im Sinne des § 243 Abs. 1 AktG und ist daher für nichtig zu erklären.
(1) Eine Gesetzesverletzung muss in der Tatsache gesehen werden, dass die Ausübung des Fragerechts nur solchen Aktionären gestattet wurde, die sich bis zum Ende der Frist am 16.2.2021, 24:00 Uhr fristgerecht zur Hauptversammlung angemeldet hatten und die Zugangskarten mit persönlichen Zugangsdaten für die Ausübung der Aktionärsrechte aus den hinterlegten Aktien übermittelt bekommen haben. Durch diese Anforderungen wird das Recht der Aktionäre aus § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG auch unter Berücksichtigung der einschränkenden Bestimmungen in Art. 2 § 1 Abs. 2 Satz 2 2. Hs. des Gesetzes zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie in Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.3.2020, BGBl I S. 569 (im Folgenden COVMG) a.F. verletzt. Nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG ist jedem Aktionär auf Verlangen in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu geben, sofern sie zur ordnungsgemäßen Beurteilung des Gegenstandes der Tagesordnung erforderlich ist. Diese Regelung wurde indes durch Art. 2 § 1 Abs. 2 Satz 2 COVMG dahingehend verändert, dass im Rahmen einer virtuellen Hauptversammlung der Vorstand nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen entscheidet, wie er Fragen beantwortet; der Vorstand kann auch vorgeben, dass Fragen bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen sind. Da Art. 11 des Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22.12.2020, BGBl I S. 3328 aufgrund von Art. 14 Abs. 3 dieses Gesetzes erst am 28.2.2021 in Kraft getreten ist, finden auf die Hauptversammlung der Beklagten die Regelungen aus Art. 2, § 1 Abs. 2 COVMG a.F. Anwendung.
Die Anordnung in der Einberufung der Hauptversammlung zum Einreichen von Fragen innerhalb einer Frist von zwei Tagen vor der Hauptversammlung sowie die Verknüpfung des Fragerechts mit der ordnungsgemäßen Hinterlegung der Aktien und daran anknüpfend dem Versand der Zugangsdaten als Voraussetzung für die Ausübung von Aktionärsrechten führt zu einer gesetzeswidrigen Verkürzung des Fragerechts der Aktionäre. Die ordnungsgemäße Hinterlegung der Aktien setzt nach § 16 Abs. 1 Satz 2 der Satzung der Beklagten voraus, dass die Aktien mit Zustimmung der Hinterlegungsstelle für die Aktionäre bei einem anderen Kreditinstitut bis zur Beendigung der Hauptversammlung gesperrt gehalten werden. Sodann erhalten die Aktionäre anstelle der herkömmlichen Zugangskarten Zugangskarten mit persönlichen Zugangsdaten, um überhaupt ihre Aktionärsrechte ausüben zu können. Zu diesen Aktionärsrechten muss ohne jeden Zweifel auch das durch Art. 14 Abs. 1, Satz 2 GG als Ausfluss des Eigentumsrechts grundrechtlich geschützte Fragerecht der Aktionäre gehören (vgl. BVerfG NJW 2000, 349, 350 = NZG 2000, 192, 192 = AG 2000, 74 = ZIP 1999, 1798, 1799).
Dieses Zusammenspiel zwischen Nachweis der ordnungsgemäßen Hinterlegung und Erhalt der Zugangsdaten zur Ausübung dieses Aktionärsrechts führt indes dazu, dass ein Aktionär die Frist aus Art. 2 § 1 Abs. 2 Satz 2 COVMG nicht ausschöpfen kann, wenn er von seiner Fragemöglichkeit Gebrauch machen will. Er muss nämlich abwarten, bis er seine Zugangskarte erhält. Dies kann bei einem Erhalt der für die Rechteausübung erforderlichen Unterlagen erst ganz kurz vor Mitternacht des 16.2.2021 nicht mehr ausreichen, um die Fragen rechtzeitig vor dem Fristende in elektronischer Form bei der Beklagten einzureichen, weil er dann die Zugangsdaten nicht mehr vor dem Ende der für die Ausübung des Fragerechts gesetzten Frist erhalten kann. Die Möglichkeit, eine gesetzte Frist vollumfänglich auszuschöpfen, ist indes ein allgemein anerkannter Grundsatz (vgl. für prozessuale Fristen BVerfGE 40, 42, 44 = NJW 1975, 1405, 1406; BVerfGE 69, 381, 385 = NJW 1986, 244; BGH VersR 2018, 1278, 1279 = MDR 2018, 1074, 1075 = NJW-RR 2018, 958, 959). Der tragende Gedanke, das Fristen auch Überlegungsfristen sind (vgl. BVerfGE 40, 42, 44 = NJW 1975, 1405, 1406), gilt hier in gleicher Weise. Durch die mit der Einberufung gesetzten Fristen soll dem Aktionär gerade auch die Möglichkeit gegeben werden, sich auf den Hauptversammlungstermin einzustellen und sich insbesondere auch sachlich darauf vorbereiten zu können (vgl. Reger in: Bürgers/Körber/Lieder, AktG, 5. Aufl., § 123 Rdn. 1; Kubis in: Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl., § 123 Rdn. 1; Noack/Zetzsche in: Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl., § 123 Rdn. 2; Müller in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl., § 123 Rdn. 5).
Wenn der Aktionär die erforderlichen Daten der Hinterlegungsstelle nicht bis zum oder erst sehr spät am letzten Tag der für die Fragen eingeräumten Frist erhält, ist es diesem Aktionär trotz Aktionärsstellung nach der Einberufung in der Satzung verwehrt, von seinem Fragerecht Gebrauch zu machen. Dies stellt sich als Gesetzesverletzung dar. Dem können organisatorische Schwierigkeiten nicht entgegengehalten werden. Sollte ein Aktionär den Nachweis seiner Aktionärsstellung entsprechend den Vorgaben aus § 16 der Satzung nicht erbringen können, ist er an der Hauptversammlung nicht teilnahmeberechtigt – in diesem Fall muss dann aber auch die vorab eingereichte Frage nicht beantwortet werden. Ein Abgleich der Fragesteller mit den teilnahmeberechtigten Aktionären muss der Beklagten problemlos möglich sein. Damit aber trägt auch das Argument der Beklagten nicht, es komme zu einer Verbesserung der Rechtsposition des Aktionärs, weil er zwar keine Fragen stellen, aber immerhin an der Hauptversammlung teilnehmen und sein Stimmrecht ausüben dürfe. Die in der Einberufung enthaltene Beschränkung des Fragerechts ist rechtswidrig, weshalb eine Verbesserung der Rechtsstellung nicht angenommen werden kann. Bei rechtmäßiger Ausgestaltung der Einberufung wäre es gerade nicht zur unzulässigen Verkürzung des Fragerechts der Aktionäre gekommen.
(2) Der Beschluss der Hauptversammlung beruht auch auf diesem Gesetzesverstoß; die Kausalität zwischen der Gesetzesverletzung und der Beschlussfassung muss bejaht werden. Dabei kann nicht auf eine mathematisch-naturwissenschaftliche Kausalität abgestellt werden. Für die Nichtigerklärung eines Beschlusses ist vielmehr die Relevanz des hier in der Verkürzung des Fragerechts liegenden Verfahrensverstoßes für das Mitgliedschafts- bzw. Mitwirkungsrecht eines objektiv urteilenden Aktionärs maßgebend, insbesondere auch des in der Abstimmung unterlegenen Minderheitsaktionärs, im Sinne eines dem Beschluss anhaftenden Legitimationsdefizits, das bei einer wertenden, am Schutzzweck der verletzten Norm orientierten Betrachtung die Rechtsfolge der Anfechtbarkeit gemäß § 243 Abs. 1 AktG rechtfertigt (vgl. BGHZ 160, 385, 391 f. = NJW 2005, 828, 830 = NZG 2005, 77, 79 = AG 2005, 87, 89 = ZIP 2004, 2428, 2430 = WM 2004, 2489, 2491 = DB 2004, 2803, 2805 = BB 2005, 65, 66 f. = DNotZ 2005, 302, 305; NZG 2010, 843, 945 = AG 2010, 632, 634 = ZIP 2010, 1437, 1439 = WM 2010, 1502, 1504 = DB 2010 1697, 1699 = NJW-RR 2010, 1339, 1341 = DNotZ 2011, 138, 140; BGHZ 216, 110, 134 = NJW 2018, 52, 58 = NZG 2017, 1374, 1380 = AG 2018, 28, 35 = ZIP 2017, 2245, 2252 = WM 2007, 2263, 2270 f. = DB 2017, 2794, 2801 = DNotZ 2018, 382, 397; NZG 2020, 1106, 1109 = AG 2020, 789, 793 = ZIP 2020, 1857, 1860 = WM 2020, 1784, 14887 = DB 2020, 2008, 2012; OLG München AG 2019, 266, 268 = ZIP 2018, 2369, 2371 = Der Konzern 2019, 140, 143; Koch, AktG, 16. Aufl., § 243 Rdn. 13; Ehmann in: Grigoleit, AktG, 2. Aufl., § 243 Rdn. 8).
Die Möglichkeit der Verweigerung des Fragerechts kann sehr wohl dazu führen, dass ein Aktionär auf seine Teilnahme an der Hauptversammlung verzichtet. Gerade die Entscheidung über die Teilnahme kann durch die Fehlerhaftigkeit der Bekanntmachung und den Ausschluss des Fragerechts im negativen Sinn beeinflusst werden. Es besteht sehr wohl die Gefahr, dass Aktionäre von der Teilnahme an der Hauptversammlung abgehalten werden, weil sie davon ausgehen, keine Fragen zu dem Tagesordnungspunkt stellen zu können. Folglich kann auch von einem lediglich marginalen Verstoß nicht gesprochen werden. (vgl. BGHZ 153, 32, 36 f. = NJW 2003, 970, 971 f. = NZG 2003, 216, 217 = AG 2003, 319 f. = ZIP 2003, 290, 292 = WM 2003, 437, 438 = DB 2003, 383, 384 = BB 2003, 462, 463 = GmbHR 2003, 408, 409 f. = DNotZ 2003, 358, 360 f.). Es besteht die Gefahr, dass Aktionäre auch aufgrund unvollständiger Informationen eine Entscheidung für oder gegen den Beschluss auf nicht hinreichend informierter Basis treffen.
(3) Ein Anfechtungsausschluss lässt sich nicht aus Art. 2 § 1 Abs. 7 COVMG herleiten. Nach dieser Vorschrift kann die Anfechtung eines Beschlusses unter anderem nicht auf eine Verletzung von Art. 2 § 1 Abs. 2 COVMG gestützt werden. Allerdings sind die Voraussetzungen dieser Norm bereits nicht erfüllt, weil sich dieser Verstoß auch auf die Teilnahmebedingungen im Übrigen zumindest mittelbar auswirkt. Dann aber handelt es sich zumindest auch um einen inhaltlichen Mangel der Einberufung, der von Art. 2 § 1 Abs. 7 COVMG nicht erfasst sein kann (vgl. Schäfer NZG 2010, 481, 486 f.). Bei dieser Vorschrift handelt es sich nämlich um eine Sonderregelung, die den besonderen Bedingungen der Abhaltung einer Hauptversammlung während der Pandemie geschuldet ist (vgl. BT-Drucks 19/18110, Satz 27) und die daher eng auszulegen ist, um den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Justizgewährungsanspruch der Aktionäre hinreichend Rechnung zu tragen.
(4) Die Klagen wurden nicht rechtsmissbräuchlich erhoben. Zwar ist weithin anerkannt, dass die Ausübung der Anfechtungsbefugnis ungeachtet ihrer Kontrollfunktion den für die private Rechtsausübung auch sonst geltenden Schranken – hier dem aus § 242 BGB folgenden Verbot des individuellen Rechtsmissbrauchs – unterliegt und dass eine rechtsmissbräuchlich erhobene Anfechtungsklage unbegründet ist (vgl. BGHZ 107, 296, 310 f. = NJW 1989, 2689, 2692 = ZIP 1989, 980, 983 = DB 1989, 1664, 1666 = BB 1989, 1782, 1784; OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.3.2002, Az. 20 W 32/2001; LG München I Der Konzern 2006, 700, 703). Da es zur Erhebung einer Anfechtungsklage eines berechtigten Eigeninteresses grundsätzlich nicht bedarf und ihr gerade die Aufgabe der Rechtmäßigkeitskontrolle in Bezug auf Beschlüsse der Hauptversammlung zukommt, kann eine Klageerhebung nur in Ausnahmefällen, für die die Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast trägt, als rechtsmissbräuchlich angesehen werden. Der Aktionär muss sachfremde, eigene Interessen verfolgen und somit das Klagerecht in zweckentfremdender Weise zum eigenen Vorteil nutzen. Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.
(a) Dies gilt zunächst für den Kläger zu 1). Allein die Tatsache, dass er nach Scheitern der Verhandlungen über eine Veräußerung der insbesondere von ihm und seinem Vater gehaltenen Aktien einen Antrag auf Durchführung einer Sonderprüfung nach § 315 Satz 2 AktG gestellt hat und im Wesentlichen nur unter Hinweis auf die Rechtsmissbräuchlichkeit der Durchführung eines verschmelzungsrechtlichen Squeeze out die Anfechtungsklage erhoben hat, rechtfertigt nicht die Annahme eines Rechtsmissbrauchs. Es geht dem Kläger zu 1) nicht ausschließlich um die Verfolgung selbstsüchtiger Motive. Der Antrag auf Durchführung einer Sonderprüfung stellt sich als legitimes Mittel des Minderheitenschutzes dar, der die Durchsetzung von Ansprüchen nach §§ 317, 318 AktG erleichtern soll und zudem den außenstehenden Aktionären die Möglichkeit gibt, ihre Informationsgrundlage zu verbessern (vgl. Fett in: Bürgers/Körber/Lieder, AktG, a.a.O., § 315 Rdn. 2; Altmeppen in: Münchener Kommentar zum AktG, a.a.O., § 315 Rdn. 1 und 4; J. Vetter in: Schmidt/Lutter, AktG, 4. Aufl., § 315 Rdn. 2; Schatz/Schödel in: Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, a.a.O., § 315 Rdn. 1 und 2). Allein die Tatsache der Einreichung eines Antrages auf Bestellung eines Sonderprüfers nach dem Scheitern von Verkaufsgesprächen begründet – entgegen der Auffassung des 31. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München im Beschluss vom 6.7.2021, Az. 31 Wx 236/21 (NZG 2021, 1403, 1404 f = AG 2021, 891 f. = ZIP 2022, 79,80 f. mit krit. Anm. Hippeli, jurisPR – HaGesR 1/2022 Anm. 5) – selbst bei gleichzeitiger und fortdauernder Bereitschaft zum Verkauf der Aktien im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht den Rechtsmissbrauch der Anfechtungsklage. Dies zeigt sich bereits darin, dass die Anfechtungsklage einen völlig anderen Streitgegenstand hat als die Durchführung einer Sonderprüfung nach § 315 Satz 2 AktG. Nun wehrt sich der Kläger zu 1) gegen den Verlust der Aktionärsstellung der Minderheitsaktionäre, ohne dass er eine unangemessene Gegenleistung für einen freiwilligen Verkauf der Aktien gefordert hätte. Die Verhandlung über einen Verkauf von Aktien stellt sich nicht als rechtsmissbräuchlich dar. Dabei muss insbesondere berücksichtigt werden, dass der Kläger zu 1) auch in diesem Verfahren ein Privatgutachten vorgelegt hat, aus dem er herleitet, dass der Kaufpreis für die Immobilie P… 5 / R… 9 deutlich zu niedrig angesetzt sei.
Dem lässt sich gerade nicht entgegenhalten, dass im Spruchverfahren nach zutreffender Ansicht (vgl. OLG München, ZIP 2008, 2117, 2122; AG 2007, 452, 453 = ZIP 2007, 699, 700; auch BGHZ 169, 221, 228 f. = NJW 2007, 300, 302 = NZG 2007, 26, 28 = AG 2006, 931, 933 = ZIP 2006, 2167, 2170 = WM 2006, 2216, 2218 f. = DB 2006, 2566, 2567 f = BB 2006, 2601, 2603; OLG München NZG 2021, 1160, 1164 f. = AG 2022, 47, 52 f.; Hüttemann/Meinert in: Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung, a.a.O., Rdn. 8.49) die Frage des Bestehens von Ansprüchen auf Nachteilsausgleich im Falle einer Unterwertveräußerung geprüft werden muss und daher den Rechtsschutzinteressen des Klägers zu 1) Genüge getan sei. Dies ergibt sich bereits aus dem strukturellen Unterschied zwischen der Prüfung der Strukturmaßnahme als solcher im Rahmen der eine kassatorische Wirkung erstrebenden Anfechtungsklage und der Überprüfung der Angemessenheit der Barabfindung im Spruchverfahren.
(2) Der gegen die Kläger zu 2) bis 4) erhobene Vorwurf, Sonderinteressen angesichts einer Vielzahl von Anfechtungsklagen unter Hinweis auf die Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit der Bestimmungen des COVMG zu verfolgen, trägt ebenfalls nicht den Rechtsmissbrauch der Klageerhebung durch die Kläger zu 2) bis 4). Die Kammer hat zwar bereits mit Endurteil vom 29.7.2021, Az. 5 HK O 8083/21, entschieden, dass die Regelungen im COVMG weder gegen das Grundgesetz noch gegen europarechtliche Vorgaben aus Art. 9 der RL 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften verstoßen, wobei dies auch dann gilt, wenn man deren Vorgaben entgegen ihrem Wortlaut auch auf die nicht börsennotierte Beklagte anwenden wollte. Allerdings muss gesehen werden, dass in der Literatur durchaus mit beachtlichen Argumenten vertreten wird, namentlich die Beschränkung des Fragerechts aus § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG verstoße gegen Art. 14 Abs. 1 GG (vgl. Heidel/Lochner in: Hirte/Heidel, das neue Aktienrecht, 1. Aufl., § 1 GesCoronaG Rdn. 32 ff.). Angesichts dieser Auffassung lässt sich eine Rechtsmissbrauch nicht bejahen. Die gegenteilige Auffassung wird der Schutzfunktion der Anfechtungsklage nicht gerecht.
Folglich muss die Kammer nicht abschließend entscheiden, inwieweit die weiteren von den Klägern vorgetragenen Anfechtungsgründe tatsächlich gegeben sind.
Da die Anfechtungsklage bereits im Hauptantrag Erfolg hatte, ist die Bedingung für die hilfsweise erhobenen Feststellungsklagen nicht eingetreten; über sie muss ebenfalls nicht entschieden werden.
II. 1. Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO; als Unterlegene hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.
3. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 247 Abs. 1 AktG.


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