Baurecht

4 C 2/19

Aktenzeichen  4 C 2/19

Datum:
29.4.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:290421U4C2.19.0
Spruchkörper:
4. Senat

Leitsatz

1. Der Begriff der Überwachungs- oder Aufsichtsmaßnahmen im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 UmwRG ist weit auszulegen (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 – 9 A 22.19 – BVerwGE 168, 368).
2. Die Untersagung des Betriebs einer nach der Seeanlagenverordnung genehmigten Anlage auf der Grundlage des § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV ist immer zeitlich beschränkt; sie ist keine endgültige, mit der die betrieblichen Verhältnisse der Anlage – wie mit nachträglichen Auflagen auf der Grundlage des § 16 Abs. 2 SeeAnlV – im Sinne einer Dauerlösung geregelt werden sollen, sondern nur eine vorläufige Maßnahme.
3. Die Untersagung des Betriebs setzt nicht voraus, dass zuvor die seeanlagenrechtliche Genehmigung wegen der Nichterfüllung der Betreiberpflichten aufgehoben worden ist.
4. Die Vorschriften über die Anordnung von Gefahrvermeidungsmaßnahmen nach § 7 Abs. 2 Nr. 2, § 6 USchadG werden gemäß § 1 Satz 1 USchadG von der Anordnungsbefugnis zur Gefahrenabwehr nach § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV verdrängt.

Verfahrensgang

vorgehend Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, 8. April 2019, Az: 1 Bf 200/15, Urteilvorgehend VG Hamburg, 18. September 2015, Az: 7 K 2983/14, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 8. April 2019 aufgehoben, soweit die Klage auf Verpflichtung zum Einschreiten auf der Grundlage des § 16 Abs. 3 Satz 1 Seeanlagenverordnung abgewiesen worden ist. Insoweit wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein anerkannter Umweltverband, begehrt die zeitlich beschränkte Untersagung des Betriebs des Offshore-Windparks “Butendiek” zur Vermeidung weiterer Umweltschäden durch Beeinträchtigung der Seetaucherpopulationen.
2
Der in den Jahren 2014/2015 errichtete und im Sommer 2015 in Betrieb genommene Windpark besteht aus 80 Windenergieanlagen einschließlich Nebenanlagen auf einer Fläche von ca. 34 km². Er liegt etwa 30 km vor Sylt in der deutschen ausschließlichen Wirtschaftszone und im Naturschutzgebiet “Sylter Außenriff – Östliche Deutsche Bucht”. Es vereint seit 2017 eine im April 2005 als europäisches Vogelschutzgebiet ausgewiesene und im September 2005 als Naturschutzgebiet festgesetzte Meeresfläche und ein im Juli 2011 ausgewiesenes FFH-Gebiet. Zu den im Naturschutzgebiet verfolgten Schutzzwecken gehören die Erhaltung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands, insbesondere der Sterntaucher (Gavia stellata) und Prachttaucher (Gavia arctica) und des Gebiets in seiner Funktion als Nahrungs-, Überwinterungs-, Mauser-, Durchzugs- und Rastgebiet für diese Vogelarten.
3
Mit Bescheid vom 18. Dezember 2002 erteilte das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) dem Rechtsvorgänger der Beigeladenen auf der Grundlage der Seeanlagenverordnung eine Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb des Windparks: Ein Versagungsgrund liege nicht vor. Insbesondere sei eine Gefährdung der Meeresumwelt nicht zu erwarten. Das Ergebnis der in einem möglicherweise vorliegenden faktischen Vogelschutzgebiet erforderlichen Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Abs. 1 BNatSchG stehe dem Vorhaben nicht entgegen. Das Nahrungs- und Rasthabitat der störanfälligen Seetaucher, die sich dort im März und April auf dem Weg zu ihren Brutrevieren aufhielten, werde durch die vom Windpark ausgehende Scheuchwirkung beeinträchtigt, die bei einem anzunehmenden Scheuchabstand von 2 km zu einem Lebensraumverlust von ca. 101 km2 führe. Dies sei jedoch sowohl nach einer funktional-artenspezifischen Betrachtung als auch nach einem Flächenvergleich unbeachtlich. Auch unter dem Gesichtspunkt des Vogelzugs sei eine Beeinträchtigung der Seetaucherpopulationen nicht zu erwarten. Die vom Kläger gegen die Genehmigung erhobene Klage wurde vom Verwaltungsgericht Hamburg wegen fehlender Klagebefugnis als unzulässig abgewiesen. Mit Bescheiden aus den Jahren 2005, 2007 und 2011 wurde der in einer Nebenbestimmung der Genehmigung gesetzte Termin für den spätesten Beginn der Bauarbeiten zuletzt auf den 31. Dezember 2014 verschoben. Den Antrag des Klägers vom Februar 2014, die Errichtung und den Betrieb des Windparks wegen eines Lebensraumverlusts für Stern- und Prachttaucher in ihrem Hauptkonzentrationsgebiet zu untersagen, lehnte das Bundesamt für Naturschutz (BfN) ab. Die Klage blieb beim Verwaltungsgericht Köln ohne Erfolg: Sie sei insgesamt unzulässig. Hinsichtlich der begehrten Sanierungsmaßnahmen fehle es am erforderlichen Vorverfahren. Für die Untersagung der Errichtung und des Betriebs des geplanten Windparks sei das BfN nicht passivlegitimiert; zuständig sei hierfür das BSH.
4
Im Mai 2014 wandte sich der Kläger an das BSH mit dem Antrag, die weitere Errichtung und den Betrieb des Windparks zu untersagen. Dies lehnte das BSH mit Bescheid vom 1. August 2014 ab: Der Kläger sei für die geltend gemachten Gefahrabwehrmaßnahmen nach dem Umweltschadensgesetz nicht antragsbefugt. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mangels Klagebefugnis als unzulässig ab.
5
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Zuletzt hatte der Kläger verschiedene Haupt- und Hilfsanträge gestellt, die das Oberverwaltungsgericht bis auf einen aus verschiedenen Gründen als unzulässig angesehen hat. Zulässig sei hingegen der erste Hilfsantrag, mit dem die Verpflichtung der Beklagten begehrt werde, der Beigeladenen den Betrieb des Windparks zeitlich unbeschränkt oder jedenfalls bis zur Herstellung eines ordnungsgemäßen Zustands zu untersagen. Insoweit fehle es nicht am Rechtsschutzbedürfnis. Auch wenn mit dem Betrieb bereits ein Schaden eingetreten sei, drohe jedoch während der Betriebszeit der Anlage von Jahr zu Jahr weiterer Schaden. Der Kläger sei auch klagebefugt. Dies gelte allerdings nicht für einen aus dem Umweltschadensgesetz hergeleiteten Anspruch. Die Verbandsklagebefugnis nach § 11 Abs. 2 USchadG bestehe nicht für Vermeidungsmaßnahmen gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 2 USchadG, sondern nur für die Durchsetzung von Sanierungspflichten, für die § 10 USchadG auch eine Antragsbefugnis des Verbands gegenüber der zuständigen Behörde eröffne. Die Klagebefugnis folge aber aus § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV i.V.m. §§ 2, 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 UmwRG. Die Betriebsuntersagung als eine Überwachungsmaßnahme solle “zur Umsetzung oder Durchführung einer Entscheidung” nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG erfolgen. Die Klage sei unbegründet. § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV ermächtige weder zu einer dauerhaften noch zu einer vorübergehenden Untersagung des Betriebs zur Abwehr von Gefahren, deren Prüfung bereits Gegenstand der Genehmigung gewesen und die somit von deren Legalisierungswirkung erfasst seien. Bei der nach § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV abzuwehrenden Gefahr für die Meeresumwelt müsse es sich wegen der Bestandsschutzinteressen des Genehmigungsinhabers um eine solche handeln, die bei der Genehmigung von der Behörde nicht habe vorhergesehen werden können. Die vom Windpark ausgehende Beeinträchtigung der Seetaucher sei im Genehmigungsverfahren ausführlich geprüft worden mit dem Ergebnis, dass insoweit keine Gefährdung der Meeresumwelt gegeben sei. Schließlich folge auch aus dem Störungsverbot des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL kein unmittelbarer Anspruch des Klägers auf Untersagung des Betriebs des Windparks. Vielmehr müssten entgegenstehende Genehmigungen zunächst in einem gesonderten Verwaltungsverfahren auf der Grundlage von §§ 48, 49 VwVfG oder vorrangiger Spezialvorschriften aufgehoben werden.
6
Zur Begründung seiner Revision, die vom Oberverwaltungsgericht beschränkt auf den ersten Hilfsantrag zugelassen worden ist, trägt der Kläger vor: Zu Unrecht gehe das Oberverwaltungsgericht von einer Legalisierungswirkung der erteilten Genehmigung aus, die nur durch deren Aufhebung beseitigt werden könne. Die Aufhebung der Genehmigung wäre nur dann erforderlich, wenn der Betrieb des Windparks endgültig untersagt werden solle. Dies gelte aber nicht für eine von ihm nunmehr allein erstrebte nur vorübergehende – gegebenenfalls auf die Tageslichtzeit während der Monate März und April beschränkte – Betriebsstilllegung nach § 16 Abs. 3 Satz 1 SeeAnlV. Ein etwaiges Ermessen sei gemäß Art. 6 Abs. 2 FFH-RL auf Null reduziert. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen einer Legalisierungswirkung nicht vor. Denn der tatsächliche Schadensumfang sei sehr viel größer als im Genehmigungsverfahren vorhersehbar und angenommen. Die gravierenden Schadwirkungen seien erst nach Inbetriebnahme des Windparks deutlich erkennbar geworden. Der aufgrund neuer Untersuchungen anzunehmende Scheuchradius von 5,5 km führe zu einem Lebensraumverlust von 265 km2. Die Genehmigung habe des Weiteren das artenschutzrechtliche Störungsverbot übersehen. Eine Klagebefugnis ergebe sich auch aus dem Umweltschadensgesetz.
7
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 8. April 2019 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 18. September 2015 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 1. August 2014 und des Widerspruchsbescheids vom 1. Oktober 2014, soweit diese entgegenstehen, zu verpflichten, den Betrieb des Offshore-Windparks “Butendiek” zu untersagen.
8
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,
die Revision zurückzuweisen.
9
Sie verteidigen das angefochtene Berufungsurteil im Ergebnis, sind jedoch der Ansicht, die Klage sei insgesamt unzulässig.


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