Baurecht

Abweichung von den Abstandsflächen, Grenzbau, Grundsatz von Treu und Glauben bei wechselseitigem, gleichwertigem Abstandsflächenverstoß

Aktenzeichen  M 1 K 18.2833

Datum:
20.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 11706
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 1
BayBO Art. 63 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 71 S. 1
BGB § 242

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Anfechtungsklage ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Der angefochtene Vorbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen nachbarschützenden Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Maßgeblich für die Beurteilung der vorliegenden Anfechtungsklage ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Baugenehmigungserteilung.
Das Landratsamt konnte gemäß der danach zugrunde zu legenden Rechtslage die beantragte Abweichung im Rahmen eines Vorbescheids gemäß Art. 71 Satz 1 BayBO i.d.F.v. 14.7.2007 erteilen. Das streitgegenständliche, im Außenbereich befindliche Vorhaben des Beigeladenen war nicht verfahrensfrei nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 a) BayBO i.d.F.v. 12.7.2017, was die Erteilung eines Vorbescheids von vornherein ausschlösse (Michl in BeckOK, Bauordnungsrecht Bayern, 17. Edition, Art. 71 BayBO, Rn. 29). Die beantragte Abweichung von den Abstandsflächen wäre im vereinfachten Genehmigungsverfahren gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.d.F.v. 14.8.2007 zu prüfen gewesen, sodass kein Fall einer isolierten Abweichung vorlag (Michl in BeckOK, Bauordnungsrecht Bayern, 17. Edition, Art. 71 BayBO, Rn. 29).
2. Der Beklagte ist zu Recht davon ausgegangen, dass ihm keine Ablehnungsbefugnis zusteht, weil es dem Beigeladenen nicht am Sachbescheidungsinteresse im Hinblick auf den nach wasserrechtlichen Vorschriften zu schaffenden Retentionsraumausgleich fehlt. Die Schaffung eines derartigen Ausgleichs erschien entgegen der Ansicht des Klägers zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bescheidserteilung nicht von vornherein offensichtlich ausgeschlossen. Ein entsprechender Hinweis zur Erforderlichkeit eines solchen Ausgleichs im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens wurde folgerichtig in den Bescheid aufgenommen. Im Übrigen kommt der Ablehnungsbefugnis der Behörde wegen fehlenden Sachbescheidungsinteresses keine drittschützende Funktion zu (Lechner in Busse/Kraus, BayBO, 140. EL Februar 2021, Art. 68 Rn. 163).
3. Der Vorbescheid, der nach Antragsmodifizierung durch den Beigeladenen mit
E-Mail vom 3. Februar 2018 einzig die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen zum Grundstück des Klägers zum Gegenstand hat, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen nachbarlichen Rechten. Die Abweichung ist rechtmäßig.
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung – und insoweit auch gegen einen Vorbescheid – nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn der angefochtene Vorbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22).
Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO i.d.F.v. 12.7.2017 kann die Bauordnungsbehörde Abweichungen von Anforderungen dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO, vereinbar sind.
Die Zulassung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften setzt nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs voraus, dass Gründe vorliegen, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die die Einbuße an Belichtung, Belüftung und Freiflächen im konkreten Fall als vertretbar erscheinen lassen. Ferner dürfen ihr nachbarliche Belange nicht entgegenstehen (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 21.2.2001 – 2 CS 00.3283 – juris Rn. 17).
Im vorliegenden Fall ist zu beachten, dass der Kläger an der betroffenen Stelle direkt an der gemeinsamen Grundstücksgrenze ohne Einhaltung der Abstandsfläche selbst ein Gebäude errichtet hat und nutzt. Dies wirkt sich auf die abstandsflächenrechtlich geschützten Belange der Belichtung und Belüftung beider Grundstücke aus. Nach der herrschenden Rechtsprechung ist in einer solchen Konstellation unabhängig davon, ob das Gebäude des klagenden Nachbarn in der vorliegenden Form genehmigt ist, das auch im öffentlichen Recht grundsätzlich geltende Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zu beachten, wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichwertig sind und – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – nicht zu schlechthin untragbaren, als Missstand (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 BayBO) zu qualifizierenden Verhältnissen führen (BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn. 15 m.w.N.). Dies folgt aus dem System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten. Danach kann derjenige, der selbst mit seinem Gebäude die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält, billigerweise nicht verlangen, dass der Nachbar die Abstandsflächen freihält.
Hinsichtlich der systematischen Einordnung des Grundsatzes von Treu und Glauben in der vorliegenden Konstellation werden unterschiedliche Ansätze vertreten. Während beispielsweise der 1. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs annimmt, dass sich der Nachbar dann im Sinne einer unzulässigen Rechtsausübung nicht auf eine etwaige Verletzung des Abstandsflächenrechts berufen kann, sodass die Prüfung der Voraussetzungen der Abweichung hinfällig ist (BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 36 f.), käme auch eine Berücksichtigung des Grundsatzes bei der im Rahmen der Abweichungsentscheidung vorzunehmenden Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange in Betracht. Schließlich könnte das Gebot von Treu und Glauben auch nachrangig als Korrektiv nach Feststellung des (Nicht) Vorliegens der Voraussetzungen einer Abweichung Anwendung finden (zur systematischen Einordnung des Grundsatzes von Treu und Glauben siehe BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – juris Rn. 16 ff.).
Im vorliegenden Fall kann die systematische Einordnung jedoch offenbleiben. Der Kläger, der sich nach o.g. Voraussetzungen das Gebot von Treu und Glauben entgegenhalten lassen muss, vermag sich im Ergebnis nach keiner der oben genannten Ansichten erfolgreich gegen die streitgegenständliche Abweichung zu wehren.
a) Der Grundsatz von Treu und Glauben ist nach o.g. Voraussetzungen vorliegend einschlägig, denn die wechselseitige Nichteinhaltung der Abstandsflächen ist etwa gleichgewichtig. Bei der Beurteilung der Gleichgewichtigkeit ist dabei keine zentimetergenaue quantitative Entsprechung gefordert. Vielmehr ist eine wertende Betrachtung in Bezug auf die Qualität der mit der Nichteinhaltung der Abstandsflächenvorschriften jeweils einhergehenden Beeinträchtigungen anzustellen (Schönfeld in BeckOK, Bauordnungsrecht Bayern, Art. 6 Rn. 296 m.w.N.). Diese Betrachtung kommt zu dem Ergebnis, dass beide Grenzgebäude in etwa gleichgewichtige Beeinträchtigungen hervorrufen. Dies ergibt sich hier maßgeblich aus der Tatsache, dass beide Gebäude in etwa die gleiche Höhe aufweisen und jeweils als Nebengebäude, insbesondere nicht zum Wohnen oder Aufenthalt, dienen. Die vom Beigeladenen vorgelegten Lichtbilder legen sogar nahe, dass das Grenzgebäude des Klägers möglicherweise eine größere Firsthöhe aufweist als das vorhandene Grenzgebäude des Beigeladenen, an das sich das streitgegenständliche Vorhaben höhengleich anschließen soll. Schließlich führt auch der Hinweis auf das nach Westen breitere Bestandsgebäude des Beigeladenen bei der hier vorzunehmenden Bewertung zu keinem anderen Ergebnis. Abgesehen davon, dass die in den Akten befindlichen Lichtbilder in diesem Bereich auf dem Grundstück des Klägers ein grenznahes Hochsilo erkennen lassen, kommt es auf die Beeinträchtigungen in diesem Bereich im vorliegenden Zusammenhang nicht an. Maßgeblich ist allein, inwieweit die abstandsflächenrechtlich geschützten Belange im Bereich des streitgegenständlichen Vorhabens beeinträchtigt werden. Denn nur insoweit steht die Erteilung einer Abweichung und die damit verbundenen Auswirkungen auf die abstandsflächenrechtlichen Belange im Streit.
Schließlich ist weder vorgetragen noch erkennbar, dass die beiderseitige Nichteinhaltung der Abstandsflächen zu schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierbaren Verhältnissen führt.
b) Damit kann sich der Kläger nach einer Ansicht im Sinne einer unzulässigen Rechtsausübung nicht mehr auf eine etwaige Rechtswidrigkeit der erteilten Abweichung berufen (BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 36 f.). Diese erweist sich allerdings ohnehin als rechtmäßig, weil sie unter Berücksichtigung des Zwecks des Abstandsflächenrechts und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar ist. Die systematische Einordnung kann daher dahinstehen.
Im Rahmen der Entscheidung über eine Abweichung ist nämlich relevant, dass Belichtung und Belüftung beider Grundstücke bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Grenzgebäude des Klägers beeinträchtigt sind. Damit liegt eine atypische Konstellation vor, welche die durch die Abweichung zu erwartende Einbuße als gerechtfertigt erscheinen lässt. Die ebenso in die Würdigung mit einzustellenden geschützten nachbarlichen Belange, namentlich der Belichtung und Belüftung des klägerischen Grundstücks, werden im Hinblick auf den vorhandenen Grenzbau des Klägers ebenso kaum beeinträchtigt, sodass die Abweichung sich als mit öffentlichen Belangen vereinbar erweist. Auch im Hinblick auf den Brandschutz entspricht die Würdigung des Landratsamts den öffentlichen Belangen, da die Erteilung der abstandsflächenrechtlichen Abweichung die allgemeinen Anforderungen an die Bauausführung und damit auch Art. 12 BayBO unberührt lässt.
4. Damit war die Klage mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Es entspricht billigem Ermessen i.S.v. § 164 Abs. 3 VwGO, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser einen Sachantrag gestellt und sich damit nach § 154 Abs. 3 VwGO auch einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.
5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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