Baurecht

Baurecht: Großflächiger Einzelhandelsbetrieb

Aktenzeichen  AN 3 K 17.00430

Datum:
26.7.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 19108
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 3
BauGB § 30 Abs. 1
BayBO Art. 71

 

Leitsatz

1 Zur Entkräftung der Vermutung des § 11 Abs. 3 S. 3 BauNVO ist das Vorliegen eines atpyischen Sachverhalts erforderlich, von dem nur ausgegangen werden kann, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Annahme gerechtfertigt erscheint, bei dem 1.200 m² Geschossfläche überschreitendem großflächigen Einzelhandelbetrieb handele es sich um ein Vorhaben, das aufgrund seiner betrieblichen Besonderheiten oder einer besonderen städtebaulichen Situation nicht zu dem Betriebstyp gerechnet werden kann, den der Verordnungsgeber dem § 11 Abs. 3 S. 3 BauNVO zu Grunde gelegt hat (hier verneint). (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ob die Vermutung widerlegt werden kann, hängt maßgeblich davon ab, welche Waren angeboten werden, auf welchen Einzugsbereich der Betrieb angelegt ist und in welchem Umfang zusätzlicher Verkehr hervorgerufen wird. Entscheidend ist, ob der Betrieb über den Nahbereich hinauswirkt und dadurch, dass er unter Gefährdung funktionsgerecht gewachsener städtebaulicher Strukturen weiträumig Kaufkraft abzieht, auch in weiter entfernten Wohngebieten die Gefahr heraufbeschwört, dass Geschäfte schließen, auf die insbesondere nicht motorisierte Bevölkerungsgruppen angewiesen sind. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist weder im Haupt- noch im Hilfsantrag begründet.
Die Klägerin hat weder Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids noch auf Neuverbescheidung unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Gerichts.
Die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 14. Februar 2017 nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Dem Vorhaben der Klägerin stehen öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegen, um deren Prüfung die Klägerin im Vorbescheidsverfahren gebeten hat (vgl. Art. 71 Satz 1 und Satz 4 i.V.m. Art. 68 Abs. 1 BayBO).
Das Vorhaben der Klägerin, einen bestehenden … Markt auf den Grundstücken FlNr. … und …, Gemarkung …, die sich in einem festgesetzten Gewerbegebiet befinden, auf eine Verkaufsfläche von ca. 1.100 m² und eine Geschossfläche von ca. 1.506 m² zu erweitern, ist planungsrechtlich unzulässig, da der Tatbestand des § 11 Abs. 3 BauNVO erfüllt ist und das Vorhaben somit nur in einem Kerngebiet oder einem Sondergebiet zulässig ist (dazu 1.). Dementsprechend war auch der Hilfsantrag abzulehnen (dazu 2.).
1. Zwar sind im vorliegenden festgesetzten Gewerbegebiet nach § 8 BauNVO Gewerbe aller Art, mithin auch Lebensmittelmärkte, zulässig. Nach der geplanten Erweiterung überschreitet der … Markt mit nunmehr ca. 1.100 m² Verkaufsfläche die bei 800 m² liegende Schwelle zur Großflächigkeit (vgl. zu diesem Schwellenwert BVerwG, U. v. 24. November 2005 – 4 C 10.04 – juris). Damit handelt es sich um einen großflächigen Einzelhandelsbetrieb im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO. Nach allgemeiner Auffassung setzt die Zulässigkeit eines den Schwellenwert von 800 m² Verkaufsfläche überschreitenden Einzelhandelsgeschäfts im Gewerbegebiet voraus, dass keine negativen Auswirkungen im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 BauNVO bestehen. Dabei sind nach § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO derartige negative Auswirkungen in der Regel anzunehmen, wenn die Geschossfläche 1.200 m² überschreitet. Die Regel gilt nach Satz 4 der Vorschrift allerdings nicht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen bei mehr als 1.200 m² Geschossfläche nicht vorliegen.
Bei Betrieben oberhalb dieser Größe trägt der Bauantragsteller die Darlegungslast für das Vorliegen von Anhaltspunkten, die die Vermutung widerlegen können (BVerwG, B.v. 9.7.2002 – 4 B 14.02 – juris).
Entgegen der Ansicht der Klägerin kann die „Erweiterte Wirkungsanalyse“ vom Juli 2016 (jedenfalls für sich allein genommen) nicht begründen, dass das streitgegenständliche Vorhaben nicht unter § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO fällt.
Zur Entkräftung der Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO ist das Vorliegen eines a-tpyischen Sachverhalts erforderlich. Von einem solchen kann nur ausgegangen werden, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte die Annahme gerechtfertigt erscheint, im betreffenden Fall handele es sich um ein Vorhaben, das aufgrund seiner betrieblichen Besonderheiten (Warenangebot des Betriebs) oder einer besonderen städtebaulichen Situation (Gliederung und Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile, Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung, vgl. § 11 Abs. 3 Satz 4 Halbsatz 2 BauNVO) nicht zu dem Betriebstyp gerechnet werden kann, den der Verordnungsgeber dem § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zu Grunde gelegt hat (vgl. BVerwG, B.v. 9.7.2002 – 4 B 14.02 – juris; OVG NRW, B.v. 19.9.2017 – 2 A 1494/16 – juris; VG Ansbach, B. v. 29. Dezember 2017 – AN 9 S 17.2265 – juris; VG Berlin, U. v. 23. Februar 2018 – VG 13 K 163.16 – juris). Dabei dürfen einzelne Besonderheiten nicht isoliert vom Gesamtbild des Betriebs und den maßgeblichen städtebaulichen Verhältnissen betrachtet werden; so kann ein Anhaltspunkt, der für die Atypik spricht, durch andere Anhaltspunkte, die gegen die Atypik sprechen, „aufgehoben“ werden (Stock in König/Röser/Stock BauNVO, § 11 Rn. 79).
Ziel des Verordnungsgebers war es, durch diese Regelung die Genehmigungsbehörden davon zu entlasten, einen größeren Prüfungsaufwand zur Beurteilung tatsächlicher Auswirkungen von Vorhaben nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 BauNVO betreiben zu müssen. Die Überwindung der normativen Typisierung bedarf folglich auch hier einer atypischen Fallgestaltung. Erst wenn aufgrund von Anhaltspunkten die Annahme einer solchen atypischen Fallgestaltung gerechtfertigt erscheint und folglich die Vermutungsregel nicht eingreift, ist in einem zweiten Schritt im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls konkret aufzuklären, ob der zur Genehmigung gestellte großflächige Einzelhandelsbetrieb gleichwohl im Einzelfall mit Auswirkungen der in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO genannten Art verbunden sein wird (vgl. zum Ganzen OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.2.2017 – OVG 10 N 6.13 – juris Rn. 6; OVG NRW, U.v. 2.12.2013 – 2 A 1510/12 – juris Rn. 52 ff).
Zu der Prüfung nach § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO führt das BVerwG in seiner Entscheidung vom 24. November 2005 a.a.O. aus, dass hierbei insbesondere die Gliederung und Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile, die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und das Warenangebot des Betriebs zu berücksichtigen sind.
Ob die Vermutung widerlegt werden kann, hängt maßgeblich davon ab, welche Waren angeboten werden, auf welchen Einzugsbereich der Betrieb angelegt ist und in welchem Umfang zusätzlicher Verkehr hervorgerufen wird. Entscheidend ist, ob der Betrieb über den Nahbereich hinauswirkt und dadurch, dass er unter Gefährdung funktionsgerecht gewachsener städtebaulicher Strukturen weiträumig Kaufkraft abzieht, auch in weiter entfernten Wohngebieten die Gefahr heraufbeschwört, dass Geschäfte schließen, auf die insbesondere nicht motorisierte Bevölkerungsgruppen angewiesen sind. Nachteilige Wirkungen dieser Art werden noch verstärkt, wenn der Betrieb in erheblichem Umfang zusätzlichen gebietsfremden Verkehr auslöst. Je deutlicher die Regelgrenze von 1.200 m² Geschossfläche überschritten ist, mit desto größerem Gewicht kommt die Vermutungswirkung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zum Tragen. Dabei kann allerdings die jeweilige Siedlungsstruktur nicht außer Betracht bleiben. Je größer die Gemeinde oder der Ortsteil ist, in dem der Einzelhandelsbetrieb angesiedelt werden soll, desto eher ist die Annahme gerechtfertigt, dass sich die potentiellen negativen städtebaulichen Folgen relativieren. Für den Bereich des Lebensmitteleinzelhandels kommt es ferner auf die Größe der Gemeinde/des Ortsteils, auf die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und das Warenangebot des Betriebs an. Bei der gebotenen Einzelfallprüfung kann es an negativen Auswirkungen auf die Versorgung der Bevölkerung und den Verkehr insbesondere dann fehlen, wenn der Non-Food-Anteil weniger als zehn v.H. der Verkaufsfläche beträgt und der Standort verbrauchernah und hinsichtlich des induzierten Verkehrsaufkommens „verträglich“ sowie städtebaulich integriert ist. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lassen sich unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles sachgerechte Standortentscheidungen für den Lebensmitteleinzelhandel treffen, ohne dass es von Rechts wegen einer weiteren Erhöhung beim Merkmal der Großflächigkeit bedürfte.
Unter Berücksichtigung eben genannter Vorgaben kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass sich weder aus dem vorgelegten Gutachten noch aus den sonstigen Unterlagen Anhaltspunkte für das Vorliegen einer atypischen Situation ergeben. Vielmehr liegen Anhaltspunkte für die Beibehaltung der Regelvermutung vor.
Gegen eine atypische Situation und für die Beibehaltung der Regelvermutung spricht, dass der Lebensmittelmarkt mit seinem breiten, zentrenrelevanten Warenangebot in der Größenordnung eines Lebensmittelsupermarkts weit außerhalb des Ortskerns von …gelegenen ist (ca. 800 m von der nächsten Wohnbevölkerung, ca. 1,5 bis 2 km zu weiter nördlich gelegenen Wohnhäusern) und damit gerade nicht zentral und für die Wohnbevölkerung allgemein gut erreichbar ist.
Mit der Lage in einer kleinen Gemeinde mit ca. 3.100 Einwohnern ohne zentralörtliche Funktionen und einem Umsatz, der zu ca. 88% außerhalb des Gemeindegebietes erwirtschaftet wird, dient er nicht der Sicherung der verbrauchernahen Versorgung.
Das Argument der Klägerin, der … Markt sei mittlerweile der einzige Vollversoger in der Gemeinde und kleine zentral gelegene Geschäfte hätten schon geschlossen, verfängt nicht. Denn die Zulassung des streitgegenständlichen Vorhabens würde möglicherweise die erneute Ansiedelung städtebaulich integrierter Geschäft verhindern. Die Zulassung des Vorhabens würde eine Situation vertiefen, die vom Gesetzgeber durch die Schaffung des § 11 Abs. 3 BauNVO verhindert werden sollte.
Letztlich kommt der Vermutungsregel auch durch die geplante Geschossfläche ein größeres Gewicht zu, da sie mit 1.506 m² die Schwelle von 1.200 m² um mehr als 25% deutlich überschreitet.
Die eben genannten Punkte machen den geplanten … Markt zu einem Musterbeispiel eines vom Gesetzgeber angedachten Vorhabens nach § 11 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO (vgl. Stock in König/Röser/Stock BauNVO, § 11 Rn. 76), das in dieser Form nur in Kern- oder Sondergebieten zulässig ist, aber eben nicht im Gewerbegebiet.
Das vorgelegten Gutachten ist für die Beurteilung einer atypischen Situation auch deshalb nicht geeignet, da es ausweislich seines Auftrags nur die ökonomischen, städtebaulichen und raumordnerischen Auswirkungen des Vorhabens untersuchen soll. Dabei handelt es sich um Punkte, die erst dann relevant werden können, wenn die Regelvermutung widerlegt ist.
2. Der Hilfsantrag ist schon deshalb unbegründet, weil der Tatbestand des § 11 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO erfüllt ist, da die Regelvermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO nicht widerlegt werden konnte. Eine gerichtliche Überprüfung der tatsächlichen Auswirkungen nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 BauNVO war daher nicht veranlasst. Hierzu wird auf Ziffer 1 der Entscheidungsgründe verwiesen.
Die Klage war demnach abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.


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