Baurecht

Befreiung von der Festsetzung einer Baulinie

Aktenzeichen  M 8 K 15.3804

Datum:
16.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauGB BauGB § 31 Abs. 2, § 34 Abs. 1
BauNVO BauNVO § 23 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein. Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG BeckRS 9998, 50863; BeckRS 2008, 38062). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens gesamtverbindlich zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Soweit die Hauptsache übereinstimmend erledigt erklärt wurde, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Zwar sieht das Gesetz insoweit eine Einstellung durch Beschluss vor. Bei einer nur teilweisen Erledigung der Hauptsache kann diese Entscheidung aber auch im Urteil getroffen werden (BVerwG, U. v. 6.2.1963 – V C 24/61 – juris; NJW 1963, 923).
2. Die Klage ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.
Den Klägern steht kein Anspruch auf die Erteilung der hier noch streitgegenständlichen Befreiung zu (§ 113 Abs. 5 VwGO).
3. Der Befreiungsanspruch beurteilt sich nach dem übergeleiteten Baulinienplan, der sowohl im maßgeblichen Bereich auf der Ostseite der …straße – zwischen … Straße und … Straße – als auch im gesamten Quartier …-straße/ … Straße/ … Straße sowie in den westlich, südwestlich und südlich benachbarten Quartieren eine straßenseitige Baulinie festsetzt und damit nicht die Anforderungen des § 30 Abs. 1 BauGB an einen so genannten „qualifizierten Bebauungsplan“ erfüllt, weshalb sich das Vorhaben im Übrigen nach § 34 Abs. 1 BauGB beurteilt.
3.1 Es kann vorliegend offenbleiben, ob die Kläger nunmehr mit ihrem in der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2017 reduzierten Tekturantrag nur noch eine isolierte Befreiung beantragen und dies, obwohl vorliegend die Legalisierung eines planabweichend errichteten, nicht verfahrensfreien Vorhabens im Raume steht, zulässig ist.
Das Gericht neigt allerdings der Auffassung zu, dass auch ein isolierter Befreiungsantrag für ein planabweichend errichtetes, nicht verfahrensfreies Vorhaben zulässig ist, da einer solchen isolierten Befreiung – auch soweit weitere, nicht durch Abweichungen und Befreiungen ausräumbare Mängel des Vorhabens gegeben sind – eine rechtliche Bedeutung im Hinblick auf eine eventuelle Rückbauanordnung durch die Bauaufsichtsbehörde zukommt.
Letztlich kann diese Frage aber offenbleiben, da den Klägern jedenfalls kein Anspruch auf die begehrte Befreiung zusteht.
3.2 Gemäß § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und
1. Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder
2. die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder
3. die Durchführung des Bebauungsplanes zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung – auch unter Würdigung nachbarrechtlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
3.2.1 Ein Anspruch auf die Erteilung einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von der Festsetzung der Baugrenzen steht den Klägern nicht zu, da durch die Befreiung bereits die Grundzüge der Planung berührt werden würden.
Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Was zum planerischen Grundkonzept zählt, beurteilt sich nach dem im Bebauungsplan zum Ausdruck kommenden Planungswillen der Gemeinde. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in den mit der Planung gefundenen Interessenausgleich eingreift, desto eher liegt es nahe, dass das Planungskonzept in einem Maße berührt wird, das eine (Um-)Planung erforderlich macht (vgl. BVerwG, B. v. 5.3.1999 – 4 B 5.99, NVwZ 1999, 1110 – juris; B. v. 19.5.2004 – 4 B 35.04 – juris; U. v. 18.11.2010 – 4 C 10/09 – juris Rn. 37; U. v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – juris Rn. 22). Was den Bebauungsplan in seinen „Grundzügen“, was seine „Planungskonzeption“ verändert, lässt sich nur durch (Um-)Planung ermöglichen und darf nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde zugelassen werden. Denn die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 2 BauGB der Gemeinde und nicht der Bauaufsichtsbehörde; hierfür ist ein bestimmtes Verfahren unter Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange vorgeschrieben, von dem nur unter engen Voraussetzungen abgesehen werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 9.6.1978 – 4 C 54.75 – juris Rn. 27; U. v. 2.2.2012 – 4 C 14/10 – juris Rn. 22). Von Bedeutung für die Beurteilung, ob die Zulassung eines Vorhabens im Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berührt, können auch Auswirkungen des Vorhabens im Hinblick auf mögliche Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung sein. Eine Befreiung von einer Festsetzung, die für die Planung tragend ist, darf nicht aus Gründen erteilt werden, die sich in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle oder gar für alle von einer bestimmten Festsetzung betroffenen Grundstücke anführen ließen (vgl. BVerwG, B. v. 5.3.1999 – 4 B 5.99 – juris Rn. 6; B. v. 29.7.2008 – 4 B 11/08 – juris Rn. 4; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: August 2015, § 31 Rn. 36).
3.2.2 Zwar ist der Klagepartei zuzugeben, dass sich in der maßgeblichen Umgebung Vorbauten und vor allem Balkonanlagen in nicht unerheblicher Zahl finden, die vor die Baulinie treten.
Die maßgebliche Umgebung besteht nach den Feststellungen des Augenscheins aus der Bebauung beidseits der …straße zwischen … Straße und … Straße sowie der Nordseite der … Straße im Kreuzungsbereich mit der …-straße. Die Heranziehung des gesamten Quartiers würde den Anforderungen an die maßgebliche Umgebung – die so weit reicht, als sich die Ausführung des Vorhabens auf diese auswirken kann und andererseits als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Grundstücks prägt bzw. beeinflusst (BayVGH, U. v. 18.7.2013 – 14 B 11.1238 – juris Rn. 19 m.w.N.) – nicht gerecht.
Dies gilt zum einen deshalb, weil insoweit keinerlei Sichtbeziehung vom und zum streitgegenständlichen Grundstück besteht, der in Bezug auf einzelne Gebäudeteile ein höherer Stellenwert zukommt, als bei der Beurteilung der Frage des Einfügens von ganzen Gebäuden. Abgesehen von der fehlenden Sichtbeziehung weist die Bebauung zum Teil auch eine andere Struktur auf – die von der Klagepartei herangezogene … Str. 39/41 – sodass insoweit schon die für einen Bezugsfall notwendige Vergleichbarkeit fehlt.
In der so definierten maßgeblichen Umgebung finden sich keine Gebäudeteile vergleichbaren Ausmaßes, die vor die Baulinie treten. Die größten, vor die Baulinie tretenden Balkone finden sich bei den Gebäuden „… Str. 20 und 26“ – jeweils zwei aufgeständerte, 3 m lange und 1,50 m tiefe Balkone im 1. und 2. Obergeschoss an der Nord- und Südseite bzw. nur an der Nordseite, aber mit Überdachung des Balkons im 2. Obergeschoss (… Str. 26) – und „… Str. 21“ – jeweils zwei nicht aufgeständerte Balkone von 4 m bzw. 2 m im 1. und 2. Obergeschoss, die allerdings nicht mehr als 1,50 m vor die Baulinie treten. Keiner dieser Balkone erreicht somit die Länge der Streitgegenständlichen von 4,50 m, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass die Gebäude „… Str. 20 und 21“ zwar über zwei 4 m lange Balkone im 1. und 2. Obergeschoss verfügen, straßenseitig aber mehr als doppelt so lang sind wie das streitgegenständliche Gebäude.
Insoweit kommt dem Hervortreten der streitgegenständlichen Balkonanlage vor die Baulinie optisch ein weit größeres Gewicht zu, als den Balkonen der Gebäude „… Str. 20 und 21“. Ganz erheblich verschärft wird diese optische Dominanz durch den 4,50 m langen – in einer Gesamtanlage mit den Balkonen des 1. und 2. Obergeschosses -, vor die Baulinie tretenden Dachgeschossbalkon. Dieser allein durch die Aufständerung und die Durchschneidung der Dachtraufe schon auffällig in Erscheinung tretende Dachgeschossbalkon wird durch die dahinter liegende, 4,90 m breite und knapp 3,50 m hohe Gaube optisch zusätzlich in den Vordergrund gerückt. Ein vergleichbar dominierender, vor die Baulinie tretender Gebäudeteil existiert in der Umgebung nicht. Die vorgenannten Balkone sind maximal 4 m lang, treten 1,50 m vor die Baulinie und werden vor allem nicht von einem weiteren Dachgeschossbalkon überlagert.
Eine Vergleichbarkeit lässt sich auch nicht aus einer fehlenden – bauordnungsrechtlichen – Unterordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 8 BayBO der Bezugsfälle ableiten. Dies schon deshalb, weil sich bauordnungsrechtliche Gesichtspunkte grundsätzlich nicht zur Auslegung des Bauplanungsrechts eignen. Auch können sich Bauteile, die bauordnungsrechtlich nicht mehr untergeordnet sind, in ihrer Dimension noch erheblich voneinander unterscheiden und dementsprechend unterschiedliche planungsrechtliche Relevanz aufweisen. Vielmehr lässt sich die planungsrechtliche Relevanz eher anhand des Rechtsgedankens des § 23 Abs. 2 Satz 2 bzw. 5 BauNVO beurteilen (vgl. M 8 K 15.1838 – U.v. 27.6.2016 – juris), auch wenn dieser auf übergeleitete Baulinienpläne nicht (direkt) anwendbar ist (BVerwG, U. v. 23.8.1968 – IV C 103.66, BayVBl 1969, S. 26 ff.; BayVGH, U. v. 7.9.2007 – 26 B 04.1591 – juris Rn. 36).
Vorliegend handelt es sich aber weder um eine Nebenanlage im Sinne von § 14 BauNVO noch um eine nach Landesrecht in den Abstandsflächen zulässige bauliche Anlage, sondern um einen abstandsflächenrelevanten Bestandteil des Hauptgebäudes (Art. 6 Abs. 8 BayBO – die Balkonanlage tritt mehr als 1,50 m vor die Außenwand und nimmt mit 4,50 m Länge auch mehr als ein Drittel der 11 m langen westlichen Außenwand ein), sodass eine Betrachtung im Lichte des § 23 Abs. 5 BauNVO ausscheidet.
Auch kann die streitgegenständliche Balkonanlage – wie oben dargestellt – nicht mehr als Gebäudeteil geringfügigen Ausmaßes im Sinne von § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO angesehen werden.
Auch der bis in das Dachgeschoss reichende Erker auf der Südseite des Gebäudes …-str. 24 stellt keinen geeigneten Bezugsfall dar.
Die Dimensionierung des allenfalls knapp 1 m vor die Baulinie tretenden Erkers mit einer Breite von 4 m erweist sich sowohl in den Abmessungen geringer als auch optisch weniger auffällig als die streitgegenständliche Balkonanlage. Aufgrund der Aufständerung der Balkone wirkt die streitgegenständliche Anlage als einheitlicher, vom Erd- bis zum Dachgeschoss hervortretender Gebäudeteil, der sowohl breiter als auch tiefer als der Erker auf der Südseite der …str. 24 ist. Der Erker auf der Westseite der …-str. 24 ist ohnehin deutlich kleiner als der auf der Südseite und eignet sich daher erst recht nicht als Vergleichsfall.
Da somit trotz der teilweise relativ großzügigen Zulassung von vor die Baulinie tretenden Gebäudeteilen durch die Beklagte keine Abweichung vergleichbarer Dimension existiert, würde durch die Zulassung eine neue Qualität von Überschreitungen erreicht, die die Grundzüge der Planung tangiert.
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die erheblichen Vorbild- und Folgewirkungen für die Umgebung.
Eine Befreiung für die streitgegenständliche Balkonanlage scheidet daher bereits mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB aus.
3.2.3 Im Übrigen bestünde auch bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB kein Rechtsanspruch auf die begehrte Befreiung, da insoweit ein Ermessen der Baugenehmigungsbehörde eröffnet ist. Im Hinblick darauf, dass die streitgegenständliche Balkonanlage deutlich aus dem Rahmen der bisher erteilten Befreiungen fällt, konnte die Beklagte die streitgegenständliche Befreiung jedenfalls ermessensfehlerfrei ablehnen. Die fehlende Vergleichbarkeit der streitgegenständlichen Balkonanlage mit den baulichen Anlagen für die bisher Befreiungen erteilt wurden, hat die Beklagte auch zu Recht als Grundlage ihrer Entscheidung herangezogen.
Die sich hieraus ergebende erhebliche Bezugsfallwirkung stellt einen gewichtigen, die Ablehnung rechtfertigenden, städtebaulichen Grund dar.
4. Da die Beklagte die streitgegenständliche Befreiung zu Recht abgelehnt hat, war die Klage im streitgegenständlichen Umfang abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 159 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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