Baurecht

Bürgerbegehren, Sicherungsanspruch, Bestimmtheit der Fragestellung

Aktenzeichen  4 CE 21.2992

Datum:
22.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6562
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GO § 18a

 

Leitsatz

Die notwendige Bestimmtheit der in einem Bürgerentscheid zur Abstimmung gestellten Frage darf sich nicht erst aus einer Zusammenschau mit der Begründung des zugrundeliegenden Bürgerbegehrens ergeben.

Verfahrensgang

M 7 E 21.4629 2021-11-05 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren als Vertreter eines von der Antragsgegnerin für unzulässig erklärten Bürgerbegehrens den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Sicherung ihres Zulassungsanspruchs.
Das bei der Antragsgegnerin eingereichte Bürgerbegehren „Expansions-Stopp der Chemiefirma …“ (Im Folgenden: Chemiewerk oder Chemiefirma) möchte folgende Frage in einem Bürgerentscheid zur Abstimmung stellen:
„Sind Sie dafür, dass die Gemeinde P.alle rechtlich zur Verfügung stehenden, sowie baurechtlichen und planungsrechtlichen Maßnahmen ergreift, um eine (weitere) Expansion der Chemiefirma … in P. zu verhindern?“
Zur Begründung führten die Antragsteller aus: Der in Aufstellung befindliche Bebauungsplan Nr. … „Industriegebiet …“ Stand 09-2020 und die gleichzeitige Teiländerung des Flächennutzungsplans „Industriegebiet …“ Stand 09-2020 seien ihrer fachlichen Einordnung gemäß die Basis von zukünftigen massiven Produktionsausweitungen dieses Chemiewerks. Sie verwiesen auf den bereits bestehenden Verbrauch von Umweltressourcen durch das Chemiewerk, die erschreckende Umweltbilanz, die Gesundheitsbelastung der Bürger und die Klimaschutzziele.
Mit Bescheid vom 2. August 2021 wies die Antragsgegnerin das streitgegenständliche Bürgerbegehren als unzulässig zurück. Das Bürgerbegehren genüge den Anforderungen an eine ausreichende Bestimmtheit der Fragestellung nicht und in seiner Begründung würden in entscheidungsrelevanter Weise unzutreffende Tatsachen behauptet, d.h. die Rechtslage werde unzutreffend und unvollständig erläutert.
Einen Eilantrag der Antragsteller mit dem Ziel, der Antragsgegnerin bis zur rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung alle bau- und planungsrechtlichen Maßnahmen zu untersagen, die eine Ausweitung des Chemiewerks ermöglichen, insbesondere die erste Teiländerung des Flächennutzungsplans „Industriegebiet …“ sowie die Neuaufstellung des Bebauungsplans Nr. … „Industriegebiet …“, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 5. November 2021 ab. Ein Sicherungsanspruch bestehe nicht, da das Bürgerbegehren unzulässig sei. Zum einen fehle es an einer hinreichend bestimmten Fragestellung, da selbst bei wohlwollender Auslegung unklar bleibe, was genau unter dem Begriff der „(weiteren) Expansion“ zu verstehen sei. Dieser Formulierung der Fragestellung könne weder allein noch in Zusammenschau mit der Begründung mit der hinreichenden Klarheit entnommen werden, ob sich das Bürgerbegehren nur auf die in der Begründung ausdrücklich genannte „Produktionsausweitung“ beziehe oder ob mit „Vergrößerung/Expansion“ auch jede bauliche Ausweitung ohne Bezug auf die Produktion gemeint sei. Ebenso bleibe unklar, ob jede vom Status quo abweichende Ausweitung oder nur solche Ausweitungen erfasst seien, die auf Grundlage der aktuellen Bauleitplanung gegebenenfalls ermöglicht würden. Zum anderen dürfte das Bürgerbegehren gegen das aus der verfassungsrechtlich gewährleisteten Abstimmungsfreiheit (Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3 BV) folgende Täuschungs- und Irreführungsverbot verstoßen, da das Bürgerbegehren die Antragsgegnerin zur Ergreifung aller „rechtlich zur Verfügung stehenden, sowie baurechtlichen und planungsrechtlichen Maßnahmen“ verpflichten wolle, die eine Expansion der Chemiefirma verhinderten, in der Begründung jedoch ausschließlich auf die aktuelle Bauleitplanung der Antragstellerin eingegangen werde. Daher dürfte davon auszugehen sein, dass die Begründung insoweit defizitär und daher irreführend sei und die Bürger die Auswirkungen des Bürgerbegehrens nicht überblicken und die wesentlichen Vor- und Nachteile nicht abschätzen könnten.
Gegen diesen Beschluss wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde. Das Verwaltungsgericht habe die inhaltlichen Anforderungen an die Formulierung eines Bürgerbegehrens überspannt und verkannt, dass eine wohlwollende, bürgerbegehrensfreundliche Auslegung bei einem von Bürgern gestalteten komplexen Vorgang anzuwenden sei. Es müsse dem einfachen Bürger möglich sein, ohne detaillierte rechtliche und technische Vorkenntnisse ein Bürgerbegehren initiieren zu können.
Die Fragestellung sei bestimmt genug. Bei der gebotenen wohlwollenden, bürgerbegehrensfreundlichen Auslegung sei für den Bürger klar erkennbar gewesen, dass der Begriff Expansion weit zu verstehen sei und jegliche, auch eine bloß bauliche Expansion der Chemiefirma verboten werden solle. Das Unternehmen solle auf den derzeit bestehenden baulichen Zustand beschränkt bleiben. Das schließe auch ein, dass Erweiterungsmöglichkeiten nach den geltenden Bebauungsplänen ausgeschlossen würden. Für die Bestimmtheit der Fragestellung komme es darauf an, wie die Frage bei wohlwollender Tendenz ihrem objektiven Erklärungsinhalt nach verstanden werden könne. Bürger müssten nur in wesentlichen Grundzügen erkennen können, wofür und wogegen sie ihre Unterschrift abgeben und wie weit die gesetzliche Bindungswirkung im Fall eines Erfolges reichen würde. Das Bürgerbegehren meine jegliche Vergrößerung oder Erweiterung des Chemiewerks und umfasse daher alle vom Erstgericht genannten Alternativen. In der Begründung werde auch auf die Aufhebung bestehenden Baurechts eingegangen und dabei mögliche Maßnahmen im Rahmen der vorgeschlagenen Grundsatzentscheidung genannt. Es gehe zwar darum, eine weitere Umwelt- und Gesundheitsbelastung der Bürger durch eine Produktionsausweitung zu vermeiden, eine solche könne aber auch aus einer bloßen baulichen Erweiterung resultieren.
Die Begründung des Bürgerbegehrens verstoße auch nicht gegen das Täuschungs- und Irreführungsverbot, da es mehrere Maßnahmen nenne, die der Gemeinde zur Verfügung stünden, um eine allgemeine Expansion des Chemiewerks zu verhindern. Die Fragestellung grenze die zur Verfügung stehenden Umsetzungsmaßnahmen bereits auf „rechtlich zulässige“ Maßnahmen ein. Für den Bürger sei daher erkennbar, dass Maßnahmen wie politische Appelle oder offensichtlich unzulässige Mittel nicht gemeint seien. Der Inhalt der Begründung sei demnach nicht defizitär gegenüber der Fragestellung. Eine Darstellung von Maßnahmen und deren Konsequenzen sei in der Begründung eines Bürgerbegehrens, das eine Grundsatzentscheidung zum Gegenstand habe, nicht erforderlich. Vielmehr könnten in pauschaler und plakativer Weise die aus Sicht der Initiatoren wichtigsten Gründe für die Ablehnung des Projekts präsentiert werden. Die Chemiefirma habe ihre Expansionsabsicht öffentlich kundgetan, die gegenwärtige Bauleitplanung diene dieser. Durch die vorgesehenen Bauleitpläne werde das Baurecht der Chemiefirma im Hinblick auf Produktionsflächen erweitert. Maßgeblich bei einem Industriebetrieb, der ebenerdige Produktionsstätten aufweise, sei nicht die Baumasse, sondern die überbaubare Grundfläche. Diese vergrößere sich durch die beabsichtigte Bauleitplanung erheblich. Insbesondere die beabsichtigte Umwandlung von Gewerbefläche in Industriefläche ermögliche eine Produktionsausweitung. Die Information, dass die Chemiefirma über noch nicht ausgeschöpftes Baurecht verfüge, sei in der Begründung enthalten. Detaillierte Angaben hierzu, wie die von der Antragsgegnerin genannten noch nicht ausgeschöpften 40%, seien nicht erforderlich.
Die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 5. November 2021 zu verpflichten, vorläufig, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über die Zulässigkeit der Durchführung des beantragten Bürgerbegehrens gegen insbesondere die Ausweitung des Betriebs des Chemiewerks, alle bau- und planungsrechtlichen Maßnahmen zu unterlassen, die eine Ausweitung des Betriebs des Chemiewerks ermöglichen, insbesondere die erste Teiländerung des Flächennutzungsplans „Industriegebiet …“ im Parallelverfahren zur Neuaufstellung des Bebauungsplans Nr. … „Industriegebiet …“ sowie die Neuaufstellung des vorgenannten Bebauungsplans.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Fragestellung sei zu unbestimmt, da sie nicht erkennen lasse, was mit einer „(weiteren) Expansion“ gemeint sei. Unklar bleibe für die Bürgerinnen und Bürger insbesondere, ob die Fragestellung die Antragsgegnerin nur dazu verpflichten soll, die derzeitigen in Aufstellung befindlichen Bauleitpläne, den Bebauungsplan Nr. … sowie die entsprechende erste Teiländerung des Flächennutzungsplans, einzustellen, oder ob auch eine „Expansion“ des Betriebs auf der rechtlichen Grundlage der bereits rechtsgültigen Bebauungspläne Nr. 23 und 23a verhindert werden solle. Auch stelle die Begründung des Bürgerbegehrens die geltende Rechtslage nicht vollständig dar, weshalb ein Verstoß gegen das Täuschungs- und Irreführungsverbot vorliege. Das Bürgerbegehren vermittle den unzutreffenden Eindruck, die Chemiefirma betreibe aktuell Expansionsbestrebungen im Sinne von Produktionsausweitungen, zu deren Realisierung die Antragsgegnerin aktuell die bauplanungsrechtlichen Grundlagen schaffe. Diese Aussage sei erweislich unrichtig bzw. auch insoweit defizitär, als sich zum einen aus dem genannten Bebauungsplan Nr. … gerade keine Baurechtsmehrung für die Chemiefirma ergebe, die Grundlage einer Expansion der Betriebsproduktion sein könne. Die aktuellen Bauleitplanungen der Gemeinde zielten nachweislich ausschließlich auf eine Neuordnung ab, die es ermögliche, zusätzliche Lagerkapazitäten auf dem Betriebsgelände zu schaffen. Zum anderen werde gänzlich verschwiegen, dass die Chemiefirma mit den rechtsgültigen Bebauungspläne Nr. 23 und 23a bereits über festgesetztes Baurecht verfüge, welches sie erst zu etwa 60% ausgeschöpft habe.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts sowie auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
1. Die Beschwerde, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe prüft (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen. Es fehlt an dem für den Erlass einer solchen Sicherungsanordnung erforderlichen Anordnungsanspruch der Antragsteller. Das von ihnen vertretene Bürgerbegehren erfüllt nicht alle rechtlichen Mindestanforderungen, so dass es insgesamt unzulässig ist. Die konkret gewählte Formulierung weist nicht das für den Vollzug eines erfolgreichen Bürgerentscheids notwendige Mindestmaß an inhaltlicher Bestimmtheit auf.
a) Ein Bürgerbegehren kann nur zugelassen werden, wenn die mit ihm unterbreitete Fragestellung ausreichend bestimmt ist (BayVGH, U.v. 17.5.2017 – 4 B 16.1856 – BayVBl. 2018, 22 Rn. 24 m.w.N.). Das bedeutet zwar nicht zwingend, dass es zum Vollzug des Bürgerentscheids nur noch der Ausführung durch den Bürgermeister im Rahmen der laufenden Angelegenheiten nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO bedarf. Mit einem Bürgerentscheid können vielmehr auch Grundsatzentscheidungen getroffen werden, die erst noch durch nachfolgende Detailregelungen des Gemeinderates ausgefüllt werden müssen (BayVGH, U.v. 19.2.1997 – 4 B 96.2928 – VGH n.F. 50, 42/44 = BayVBl 1997, 276/277). Die Fragestellung muss aber in jedem Fall so bestimmt sein, dass die Bürger zumindest in wesentlichen Grundzügen erkennen können, wofür oder wogegen sie ihre Stimme abgeben und wie weit die gesetzliche Bindungswirkung des Bürgerentscheids (Art. 18a Abs. 13 GO) im Fall eines Erfolgs reicht (BayVGH, B.v. 8.4.2005 – 4 ZB 04.1246 – BayVBl 2005, 504 m.w.N.; vgl. auch für Volksentscheide VerfGH, E.v. 13.4.2000 – Vf. 4-IX-00 – VerfGH 53, 81/105 f. = BayVBl 2000, 460/464). Die auf eine Grundsatzentscheidung abzielenden Bürgerbegehren unterliegen damit strengeren Bestimmtheitsanforderungen als entsprechende Beschlussanträge im Gemeinderat, der an seine früheren Entscheidungen in keiner Weise gebunden ist und nicht vollzugsfähige Beschlüsse jederzeit präzisieren kann.
Die vorgenannten Grundsätze gelten auch bei den auf einen negativen Erfolg abzielenden Bürgerbegehren, die sich etwa gegen ein auf dem Gemeindegebiet geplantes Projekt eines öffentlichen oder privaten Trägers richten. Die in solchen Fällen häufig verwendeten Formulierungen der Abstimmungsfrage, mit denen die Organe der Gemeinde verpflichtet werden sollen, zur Verhinderung des Vorhabens „alle rechtlichen Mittel“ einzusetzen (BayVGH, U.v. 19.2.1997, a.a.O., 42) oder „alle zulässigen rechtlichen Möglichkeiten“ auszuschöpfen (BayVGH, U.v. 14.10.1998 – 4 B 98.505 – VGH n.F. 52, 12/14), verstoßen dann nicht gegen das Bestimmtheitsgebot, wenn sie sich auf ein laufendes fachplanungsrechtliches oder sonstiges Zulassungsverfahren beziehen, das der Gemeinde eine selbständige Rechtsposition vermittelt (§ 36 BauGB) oder bei dem ihre Einwände zumindest in der Abwägung zu berücksichtigen sind (§ 38 BauGB). Zwar steht auch hier wegen des noch offenen Verfahrensausgangs nicht schon im Voraus fest, welche rechtlichen Mittel die Gemeinde ergreifen muss, um ihren ablehnenden Standpunkt möglichst wirksam zur Geltung zu bringen. Für die Abstimmungsberechtigten, die an dem Bürgerentscheid teilnehmen, ist aber ohne weiteres erkennbar, dass mit der Forderung nach einem Einsatz „aller“ rechtlichen Mittel nicht lediglich die aktive Beteiligung an dem Verwaltungsverfahren gemeint ist, sondern – im Fall der Zulassung des Vorhabens – vor allem auch das Beschreiten des (Verwaltungs-)Rechtswegs, sofern dies aus juristischer Sicht nicht offensichtlich aussichtslos ist (vgl. BayVGH, U.v. 19.2.1997, a.a.O., 45; U.v. 13.3.2019 – 4 B 18.1851 – BayVBl 2020, 276 Rn. 36 ff.).
Auch verfahrensleitende Entscheidungen wie die Einstellung eines Bebauungsplanverfahrens und die Einleitung eines neuen Planungsprozesses, etwa ein Planaufstellungsbeschluss nach § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB (vgl. BayVGH, B.v. 13.12.2010 – 4 CE 10.2839 – VGH n.F. 63, 282 Rn. 29 = BayVBl 2011, 309) oder die Einleitung einer gemeindlichen Rahmenplanung nach § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB (vgl. BayVGH, B.v 20.12.2021 – 4 CE 21.2576 – juris Rn. 25), können Gegenstand eines Bürgerbegehrens sein. Wird die Einleitung eines neuen Planungsprozesses begehrt, muss das hinreichend bestimmt zum Ausdruck kommen, etwa durch konkrete Benennung der Ziele in Form von Rahmenfestlegungen (vgl. BayVGH, B.v. 28.7.2005 – 4 CE 05.1961 – juris Rn. 28; B.v. 20.12.2021, a.a.O., Rn. 22), die noch nicht gegen das Abwägungsgebot (§ 1 Abs. 7 BauGB) verstoßen (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2012 – 4 CE 12.517 – juris Rn. 28 m.w.N.).
Hieran gemessen ist die Fragestellung des Bürgerbegehrens nicht hinreichend bestimmt. Die abstimmungsberechtigten Bürger können bei der Unterschriftsleistung nicht mit der gebotenen Sicherheit erkennen, zu welchen Maßnahmen die Vollzugsorgane der Antragsgegnerin im Falle eines Erfolgs des Bürgerentscheids verpflichtet werden sollen.
aa) Unklar ist bereits, was mit der zu verhindernden „Expansion“ der Chemiefirma gemeint ist. Wörtlich bedeutet dieser Begriff Vergrößerung oder Ausdehnung, bei Unternehmen auch wirtschaftliches Wachstum. Er kann damit im vorliegenden Zusammenhang nicht nur auf jede bauliche Erweiterung der vorhandenen Betriebsanlagen abzielen, sondern ebenso auf eine mögliche Produktionsausweitung durch Änderungen von Betriebsabläufen, auf die eine Standortgemeinde allenfalls indirekt Einfluss nehmen kann. Wie unklar und mehrdeutig der Begriff der Begriff der Expansion im vorliegenden Zusammenhang ist, zeigt die intensive Auseinandersetzung der Parteien über diese Frage. Insbesondere besteht keine Einigkeit darüber, ob das Bürgerbegehren über jene baulichen Erweiterungen hinaus, die – wenn auch nur mittelbar – zu einer Produktionsausweitung führen können, auch alle sonstigen baulichen Erweiterungen, wie etwa die Errichtung von Parkplätzen oder Werkswohnungen verhindern will.
Zwar könnte der dem Bürgerbegehren beigefügten offiziellen Begründung, also den auf der Vorderseite des Unterschriftsblatts enthaltenen Erläuterungen (vgl. BayVGH, B.v. 16.12.2021 – 4 CE 21.2839 – juris Rn. 24), zu entnehmen sein, dass nach dem erkennbaren Willen der Unterzeichnenden nur solche baulichen Erweiterungen des Chemiewerks verhindert werden sollen, die der Produktionsausweitung dienen (können). Diese Präzisierung kann aber den in der Unbestimmtheit der Fragestellung liegenden Mangel nicht beheben. Die geforderte inhaltliche Bestimmtheit der gestellten Frage muss sich bereits unmittelbar aus dem Abstimmungstext ergeben und darf sich nicht erst aufgrund einer Zusammenschau mit der auf den Unterschriftenlisten abgedruckten Begründung ermitteln lassen. Dies folgt aus dem Umstand, dass die nach Art. 18a Abs. 4 Satz 1 GO geforderte Begründung lediglich den Unterzeichnern des Bürgerbegehrens in der Phase der Unterschriftensammlung vorliegt, nicht hingegen den abstimmenden Bürgern im Rahmen des später stattfindenden Bürgerentscheids. Ab der Zulassung des Bürgerbegehrens (Art. 18a Abs. 9 GO) verliert die ursprüngliche Begründung jede rechtliche Bedeutung. Von diesem Zeitpunkt an können die vertretungsberechtigten Personen des Bürgerbegehrens etwa bei der Darstellung ihres Abstimmungsvorschlags in Veröffentlichungen der Gemeinde (Art. 18a Abs. 15 GO) auch gänzlich andere oder zusätzliche Gründe anführen, die aus ihrer (nunmehrigen) Sicht für eine Stimmabgabe zugunsten des Bürgerentscheids sprechen. Die bei der Unterschriftensammlung verwendete Begründung des Bürgerbegehrens kann daher im Falle eines erfolgreichen Bürgerentscheids grundsätzlich nicht zur Auslegung des von der Aktivbürgerschaft Gewollten herangezogen werden.
bb) Unzureichend bestimmt ist die Fragestellung auch insoweit, als zur Verhinderung einer Expansion der Chemiefirma „alle rechtlich zur Verfügung stehenden, sowie baurechtlichen und planungsrechtlichen Maßnahmen“ ergriffen werden sollen. Zur Umsetzung dieses umfassenden Auftrags kommt über die Einstellung der gegenwärtigen Bauleitplanung (Bebauungsplan Nr. …; Änderung des Flächennutzungsplans) hinaus eine Vielzahl aktiver Handlungen grundsätzlich in Betracht. Zu denken wäre etwa an die Einleitung eines neuen Bebauungsplanverfahrens mit dem Ziel einer Reduzierung des bestehenden Baurechts, an die Verweigerung des Einvernehmens für planabweichende künftige Bauvorhaben oder auch an indirekt wirkende Maßnahmen, die den Produktionsstandort wirtschaftlich weniger attraktiv werden lassen, wie z. B. eine spürbare Erhöhung der Grund- oder Gewerbesteuer oder eine investitionshemmende kommunale Umwelt- und Verkehrspolitik.
Fände in einem späteren Bürgerentscheid die zur Abstimmung gestellte Frage nach dem Einsatz „alle(r) rechtlich zur Verfügung stehenden… Maßnahmen“ die nötige Mehrheit, so müsste die Antragsgegnerin sämtliche oben genannten Maßnahmen auf ihre mögliche Erfolgseignung hin untersuchen und von ihnen gegebenenfalls Gebrauch machen. Eine solche Vielfalt voneinander unabhängiger, auch kumulativ nutzbarer Handlungsoptionen – auch über das Bauplanungsrecht hinaus – vermag aber selbst ein umfassend informierter Bürger bei seiner Stimmabgabe nicht zu überblicken. Er kann nicht im Vorhinein anhand objektiver Maßstäbe oder allgemeiner Erfahrungswerte abschätzen, in welcher Reihenfolge und mit welchem Nachdruck die einzelnen Maßnahmen eingesetzt werden müssten, um das Ziel einer Verhinderung der weiteren Expansion der Chemiefirma sicher zu erreichen (vgl. BayVGH, U.v. 13.3.2019 – 4 B 18.1851 – BayVBl 2020, 276 Rn. 39). Soweit die Antragsgegnerin nach dem Wortlaut der Fragestellung nicht bloß zur Einstellung der gegenwärtig laufenden Planungsverfahren, sondern auch zur nachträglichen Aufhebung einer bisher bauplanungsrechtlich zulässigen Nutzung bestehender Freiflächen auf den Betriebsgrundstücken verpflichtet wäre, könnten daraus auch Entschädigungs- oder Übernahmepflichten entstehen, die sich im Vorhinein kaum überblicken lassen.
b) Da das Bürgerbegehren somit schon aufgrund fehlender Bestimmtheit unzulässig ist, kann offenbleiben, ob die Begründung des Bürgerbegehrens gegen das aus der verfassungsrechtlich gewährleisten Abstimmungsfreiheit (Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3 BV) folgende Täuschungs- und Irreführungsverbot verstößt (dazu BayVGH, U.v. 4.7.2016 – 4 BV 16.105 – BayVBl 2017, 92 Rn. 27 f. m.w.N.). Insbesondere ist nicht mehr entscheidungserheblich, ob in der Aussage, die in Aufstellung befindlichen Bauleitpläne ermöglichten eine Produktionsausweitung, eine unrichtige Tatsachenbehauptung liegt bzw. ob damit die maßgebende Rechtslage unzutreffend erläutert wird (vgl. BayVGH, U.v. 17.5.2017 – 4 B 16.1856 – BayVBl 2018, 22 m.w.N.)
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert aus § 47 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. Nr. 1.5, Nr. 22.6 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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