Baurecht

Gemeindenutzungsrecht – Strukturwandel der Landwirtschaft

Aktenzeichen  4 ZB 16.373

Datum:
17.10.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2017, 239
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayGO Art. 80 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, S. 3

 

Leitsatz

Bei der Verwendung von Erzeugnissen aus öffentlichen Nutzungsrechten, die “ausschließlich landwirtschaftlichen Zwecken dienen” (Art. 80 Abs. 2 Satz 3 GO), ist der Berechtigte nicht kraft Gesetzes an die zum Zeitpunkt der Begründung des Rechts praktizierten landwirtschaftlichen Betriebsformen oder -abläufe gebunden. (amtlicher Leitsatz)

Verfahrensgang

W 2 K 15.512 2015-10-28 Urt VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I. Die Beteiligten streiten um den Fortbestand von im 19. Jahrhundert begründeten öffentlichen Nutzungsrechten an Wiesengrundstücken, die im Eigentum der beklagten Gemeinde stehen.
Auf der vom Kläger 1989 erworbenen Hofstelle, auf der die streitigen Wiesennutzungsrechte Nr. 16, 17 und 18 ruhen, wird seinen Angaben zufolge seit dem Jahr 1900 ununterbrochen Weinbau betrieben.
Mit Urteil vom 28. Oktober 2015 stellte das Verwaltungsgericht Würzburg fest, dass die Gemeindenutzungsrechte fortbestünden. Es handle sich nach den vorgelegten Dokumenten um sog. radizierte Gemeindenutzungsrechte, die die Nutzung des Mähguts zu landwirtschaftlichen Zwecken, vor allem für die Tierhaltung oder Gründüngung, zum Inhalt hätten und mangels Einstellung des landwirtschaftlichen Betriebs nicht nach Art. 80 Abs. 2 Satz 3 GO erloschen seien. Die Wiesennutzungsrechte würden nach den glaubhaften Angaben des Klägers zumindest seit 1922 ununterbrochen u. a. in der Weise genutzt, dass das Mähgut zur Gründüngung in den Weinbergen ausgebracht werde. Diese Art der Bodenverbesserung zähle im Weinbau zu den allgemein anerkannten Methoden. Deshalb sei die im streitgegenständlichen Bescheid aufgestellte Behauptung, die Wiesennutzungsrechte seien erloschen, weder substantiiert dargelegt noch sonst nachvollziehbar nachgewiesen.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung.
Der Kläger tritt dem Antrag entgegen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
II. 1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der von der Beklagten geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils) liegt nicht vor.
Zur Begründung ihres Antrags trägt die Beklagte vor, der Inhalt von Nutzungsrechten könne sich nicht verändern, so dass keine Anpassung an die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Berechtigten oder an den jeweiligen Stand der technischen Nutzungsmöglichkeiten erfolge. Abzustellen sei daher auf das landwirtschaftliche Nutzungsverhalten bei Begründung der Nutzungsrechte im 19. Jahrhundert. Damals hätten Wiesennutzungsrechte den Zweck gehabt, Gras und Heu für die Fütterung von Rindern, Pferden und Kleinvieh zu gewinnen. Die Verwendung von Grasschnitt zur Bodenverbesserung in den Weinbergen sei vom ursprünglichen Zweck des Wiesennutzungsrechts nicht gedeckt. Diese Verwendungsart sei auf neuzeitliche Erkenntnisse zurückzuführen und das Ergebnis einer radikal geänderten Landwirtschaft. Zudem existiere die ursprüngliche Hofstelle nicht mehr, sondern bilde eine Einheit mit dem heutigen Anwesen des Klägers. Weiterhin sei davon auszugehen, dass der Kläger das auf den Wiesengrundstücken erwirtschaftete Heu auch nicht selbst behalte und auf den Gassen der Weinberge unterpflüge, sondern an Dritte weiterveräußere.
Diese Ausführungen begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Sie beruhen auf einer unzutreffenden Vorstellung vom Inhalt der Gemeindenutzungsrechte.
Öffentliche Nutzungsrechte nach Art. 80 ff. GO sind dadurch gekennzeichnet, dass die Berechtigten gegenüber der Gemeinde als Eigentümerin der belasteten Gegenstände (z. B. Grundstücke) einen öffentlich-rechtlichen Anspruch auf einen bestimmten Anteil der Nutzungen (§ 100 BGB) haben. Um welche Art von Nutzungen es sich handelt, ist in den jeweiligen Rechtsgrundlagen des Nutzungsrechts bestimmt, also entweder in einem besonderen Rechtstitel oder im sog. rechtsbegründeten Herkommen (Art. 80 Abs. 2 Satz 1, Alt. 1 und 2 GO). Da in jeder Änderung der Nutzung eine – seit dem bayerischen Gemeindeedikt von 1818 nicht mehr zulässige – (partielle) Neubegründung eines solchen Rechts läge, ist der Inhalt der Nutzungsrechte unabänderlich festgelegt; er passt sich also nicht an sich ändernde Nutzungswünsche und -bedürfnisse der Rechtler oder an aktuelle technische Nutzungsmöglichkeiten an (BayVGH, U. v. 5.10.1962 – 75 IV 57 – VGH n. F. 15, 106/111 f. m. w. N.). Ändert sich die bisherige Nutzungsart eines belasteten gemeindlichen Grundstücks grundlegend und dauerhaft, etwa durch Umwandlung einer Wiesen- und Weidefläche in Ackerland oder Wald (U. v. 5.10.1962, a. a. O.), durch Umstellung der Bewirtschaftungsform von Niederwald auf Hochwald (BayVGH, U. v. 8.6.1988 – 4 B 86.03554 u. a. – FSt 1988/292) oder durch Bebauung (BayVGH, U. v. 6.2.1991 – 4 B 88.3429 – n. v.), und kann das öffentliche Nutzungsrecht demzufolge nicht mehr in der herkömmlichen Weise ausgeübt werden, so erlischt es mit Beendigung seiner tatsächlichen Ausübung (BayVGH, a. a. O.; B. v. 11.4.2007 – 4 ZB 06.693 – juris Rn. 5; LT-Drs. 7/3103 S. 37; Vorwerk, Wesen und Inhalt gemeindlicher Nutzungsrechte, 1965, S. 145 f.; Bauer, Die öffentlichen Nutzungsrechte in Bayern, 1993, S. 151 ff.; vgl. auch BVerfG, B. v. 19.6.1990 – 1 BvR 564/89 – juris; BVerwG, B. v. 3.3.1989 – 3 B 70.88 – juris).
Nicht zu verwechseln mit dieser kraft Gesetzes bestehenden Unabänderlichkeit des Inhalts der öffentlichen Nutzungsrechte ist die Frage, ob die gezogenen Nutzungen nur für festgelegte Zwecke verwendet werden dürfen (vgl. Bauer, a. a. O., S. 83 f.). Sie betrifft nicht den zulässigen Umfang des Zugriffs auf das belastete („dienende“) Gemeindegrundstück, sondern die Art der wirtschaftlichen Verwertung der dort gewonnenen Erzeugnisse. Ob ein Nutzungsberechtigter, also bei einem an die Haus- oder Hofstätte gebundenen (sog. radizierten) Nutzungsrecht der Inhaber des „herrschenden“ Grundstücks bzw. Anwesens, mit der gezogenen Nutzung nach Belieben oder nur in bestimmter Weise verfahren darf, ist im Gesetz an keiner Stelle geregelt. Auch der aus Art. 80 Abs. 2 Satz 3 GO abzuleitende Umkehrschluss, wonach ein ausschließlich der Landwirtschaft dienendes Nutzungsrecht nur solange fortbesteht wie der entsprechende (Haupt- oder Nebenerwerbs-)Betrieb des Berechtigten, zwingt keineswegs zu der Annahme, dass solche Nutzungen nur im jeweils eigenen landwirtschaftlichen Betrieb verwendet werden dürften. Da mit der Vorschrift lediglich die vorangegangene geschichtliche Entwicklung nachgezeichnet werden sollte (LT-Drs. 12/6130 S. 14), ist es den Inhabern rein landwirtschaftlicher Nutzungsrechte auch nach der Einfügung des Art. 80 Abs. 2 Satz 3 GO – entsprechend der schon zuvor herrschenden Auffassung – nicht verwehrt, die auf den Grundstücken der Gemeinde gewonnenen Erzeugnisse wie z. B. Getreide, Heu, Stroh oder Brennholz auf andere Weise als im eigenen Anwesen zu verwenden und insbesondere zu verkaufen, soweit Titel oder Herkommen dazu nichts anderes bestimmen (vgl. BayVGH, U. v. 19.10.1960 – 77 IV 57 – VGH n. F. 13, 112/113; Vorwerk, a. a. O., S. 90; Bauer, a. a. O., S. 83 f.).
Gelten demnach für die ausschließlich landwirtschaftlichen Zwecken dienenden Nutzungsrechte keine gesetzlichen Verwendungs- bzw. Verwertungsbeschränkungen, so besteht erst recht keine Bindung an bestimmte Zweige der Landwirtschaft oder an tradierte landwirtschaftliche Betriebsweisen. Die im Zulassungsantrag geäußerte Auffassung, das landwirtschaftliche Nutzungsverhalten zum Zeitpunkt der Begründung der Nutzungsrechte im 19. Jahrhundert sei für deren heutige Ausübung noch immer maßgebend, findet im geltenden Recht keine Grundlage. Der seit dem Beginn des Industriezeitalters auch in der Landwirtschaft stattfindende Strukturwandel, der zur Anwendung immer modernerer Arbeitsmittel und zu grundlegenden Änderungen der Betriebsabläufe geführt hat, war dem Gesetzgeber beim Erlass der Art. 80 ff. GO bekannt. Er hat dem damit verbundenen Erfordernis betrieblicher Umstrukturierungen mit der Bestimmung des Art. 80 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 GO explizit Rechnung getragen und die Aufrechterhaltung der ausschließlich landwirtschaftlichen Zwecken dienenden Nutzungsrechte in Art. 80 Abs. 2 Satz 3 GO allein an die Existenz eines landwirtschaftlichen Betriebs geknüpft und nicht an die Fortführung bisheriger Betriebsweisen. Änderungen in der Art des Betriebs oder in den Bewirtschaftungsmethoden führen daher erst dann zum Erlöschen des Nutzungsrechts, wenn infolgedessen der Begriff der Landwirtschaft (§ 201 BauGB) nicht mehr erfüllt ist. Dies ist aber bei dem Weinbaubetrieb des Klägers nicht der Fall, der eine landwirtschaftliche Sonderkultur zum Gegenstand hat und daher unter die Legaldefinition des § 201 BauGB fällt.
Wie die von der Klägerseite im Zulassungsverfahren vorgelegten Lichtbilder und Kopien von Zulassungsbescheinigungen zeigen und von der Beklagten auch nicht substantiiert in Frage gestellt wird, führt der Kläger die Bewirtschaftung des von seinem Vater übernommenen Weinbaubetriebs auch heute noch fort. Ob und in welchem Umfang er dabei von dem aus den Gemeindenutzungsrechten gewonnenen Mähgut Gebrauch macht, muss hier nicht weiter aufgeklärt werden. Da sich aus dem Gesetz, wie oben dargelegt, keine Verwendungsbeschränkung bezüglich der gewonnenen Erzeugnisse ergibt, würde selbst deren vollständiger Verkauf an Dritte noch nicht zum Erlöschen des Nutzungsrechts führen. Es bestehen auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die auf dem Herkommen beruhenden Wiesennutzungsrechte nach dem Willen der ursprünglich Beteiligten dauerhaft nur einer bestimmten Art von Landwirtschaft, z. B. nur der Viehwirtschaft und nicht auch dem Weinbau, wirtschaftlich zugutekommen sollten. Der Fortbestand dieser Rechte wird daher nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Kläger als heutiger Betriebsinhaber das aus den Wiesennutzungsrechten gewonnene Mähgut – entgegen einer (möglicherweise feststellbaren) früheren Praxis – nicht als Tierfutter, sondern für andere Zwecke verwendet.
Die Beklagte kann sich schließlich auch nicht darauf berufen, dass die die ursprüngliche Hofstelle heute nicht mehr existiere, sondern zusammen mit dem klägerischen Anwesen eine Einheit bilde. Bei den „radizierten“ landwirtschaftlichen Nutzungsrechten bilden nicht einzelne Wohn- oder Wirtschaftsgebäude, sondern das damit verbundene Hofgrundstück den rechtlichen Bezugspunkt (vgl. BayVGH, U. v. 10.8.1983 – 4 B 81 A.2482 – BayVBl 1984, 210/211 m. w. N.). Daher kommt es nicht auf das Fortbestehen eines früher vorhandenen Bauwerks an, sondern allein darauf, dass die landwirtschaftliche Haus- und Hofstätte nicht endgültig aufgegeben worden ist. Selbst der vollständige Abbruch aller bestehenden Gebäude reicht dafür nicht aus, wenn der Eigentümer die Möglichkeit und den Willen hat, das Anwesen binnen eines angemessenen Zeitraums wieder aufzubauen (BayVGH, U. v. 26.10.1988 – 4 B 87.00171 – VGH n. F. 42, 17/19 m. w. N. = BayVBl 1989, 466). Solange hiernach kein Erlöschen eingetreten ist, kann der Eigentümer sein Nutzungsrecht sogar auf ein anderes Grundstück zum Zweck des Wiederaufbaus des Anwesens an anderer Stelle oder auf eine andere geeignete Haus- und Hofstätte übertragen (BayVGH, a. a. O.). Bloße Veränderungen der Bausubstanz oder der grundbuchrechtlichen Zuordnung, wie sie die Beklagte vorträgt, berühren demnach nicht den Bestand des Nutzungsrechts.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG (vgl. BayVGH, B. v. 17.3.2006 – 4 C 06.471 – juris Rn. 3).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben