Baurecht

Grundsatz der Elastizität der Widmung

Aktenzeichen  M 2 K 16.5378

Datum:
14.2.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayStrWG BayStrWG Art. 6 Abs. 8
BayKAG BayKAG Art. 5a Abs. 9

 

Leitsatz

1 Eine Widmung nach Art. 6 Abs. 1 BayStrWG erfasst in der Regel nur die Bestandteile einer Straße, die sich Grundstücken befinden, deren Flurnummern in der Widmungsverfügung ausdrücklich aufgeführt sind. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Widmungsfunktion des Grundsatzes der Elastizität der Widmung tritt nicht ein bei Straßenbaumaßnahmen, für die abweichend von der förmlichen Widmung Teilflächen in Anspruch genommen werden. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 21. März 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Mit Einverständnis der Beteiligten konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist als Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) zulässig. Die Sperrfrist von drei Monaten seit Einlegung des Widerspruchs am 20. April 2016 (§ 75 Satz 2 VwGO) ist abgelaufen. Es ist auch kein zureichender Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, dass über den Widerspruch bislang noch nicht entschieden ist (§ 75 Satz 1 VwGO).
Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 21. März 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil die sachlichen Beitragspflichten noch nicht entstanden sind.
Die sachlichen Beitragspflichten entstehen im Erschließungsbeitragsrecht ungeachtet weiterer Voraussetzungen (wie insbesondere der endgültigen Herstellung der Erschießungsanlage, Art. 5a Abs. 9 KAG i.V.m. § 133 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 BauGB) erst dann, wenn die von der Erschließungsanlage in Anspruch genommenen Flächen straßenrechtlich gewidmet sind (Driehaus, Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Auflage 2012, § 19 Rdnr. 16 m.w.N.; Matloch/Wiens, Das Erschließungsbeitragsrecht in Theorie und Praxis, Stand Juli 2016, Rdnr. 1104 m.w.N.). Vorliegend fehlt es an einer vollständigen Widmung des …wegs: Die von diesem bereits seit den Baumaßnahmen in den Jahren 1993 bis 1997 tatsächlich in Anspruch genommenen, jedoch erst nach der im Jahr 2013 verfügten Widmung bis Juni 2015 zusätzlich erworbenen Flächen – es handelt sich um einen schmalen Randstreifen auf der Westseite sowie eine kleine Randfläche auf der Ostseite des …wegs im Umfang von insgesamt ca. 34 qm, ursprünglich Teilflächen der Anliegergrundstücke Fl.Nrn. …, … und … Gemarkung …, nach der Zerlegung Fl.Nrn. …, … und … Gemarkung … (vgl. Bl. 14/19 u. 18/2 der Behördenakte) – sind nicht gewidmet und geltend entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht gemäß Art. 6 Abs. 8 BayStrWG als gewidmet.
Die Widmung des …wegs umfasst nur die in der Eintragungsverfügung vom 4. Dezember 2013 ausdrücklich genannten Flächen der (damaligen) Fl.Nrn. …, …, … und … Gemarkung …, nicht hingegen die dort nicht genannten, erst im Nachgang zur Widmung zusätzlich erworbenen Teilflächen der Anliegergrundstücke Fl.Nrn. …, … und … bzw. nach der Zerlegung Fl.Nrn. …, … und …: Eine Widmung nach Art. 6 Abs. 1 BayStrWG erfasst nämlich in aller Regel nur diejenigen Bestandteile einer Straße, die sich auf Grundstücken befinden, deren Flurnummern in der Widmungsverfügung ausdrücklich aufgeführt sind. Dies dient u.a. dem Schutz des privaten Grundstückseigentümers, dem die Widmung seine privatrechtlichen Eigentümerbefugnisse entzieht oder entwertet, vgl. Art. 6 Abs. 5 BayStrWG (BayVGH, B. v. 4.10.2011 – 8 ZB 11.210 – juris Rdnr. 12 m.w.N.). Wird ein Grundstück zu einer Straße gewidmet, das mit einer bestimmten Flurnummer bezeichnet ist, braucht der Eigentümer daher auch nicht damit zu rechnen, dass die Widmung über die Grenzen der Flurnummer hinausgreift (BayVGH, U. v. 3.12.1996 – 8 B 96.1086 – juris Rdnr. 19 m.w.N.). Daran gemessen hat vorliegend die Widmung im Jahr 2013 die erst im Nachgang erworbenen Straßenflächen, die als damalige Teilflächen der Anliegergrundstücke nicht mit ihrer Flurnummer in der Widmungsverfügung genannt worden waren, nicht umfasst. Es liegt auch kein Ausnahmefall vor, insbesondere nicht jener, dass statt der Nennung der Flurnummer eine genaue Beschreibung des betroffenen Grundstücks erfolgt wäre (vgl. dazu BayVGH, U. v. 3.12.1996, a.a.O.; zum Ganzen auch: Häußler in Zeitler, Bayerisches Straßen- und Wegegesetz, Stand Oktober 2015, Art. 6 Rdnrn. 7 u. 9).
Entgegen der Auffassung der Beklagten gelten die bis Juni 2015 zusätzlich erworbenen Flächen auch nicht nach Art. 6 Abs. 8 BayStrWG als gewidmet. Gemäß dieser Vorschrift, die den ursprünglich von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsatz der Elastizität der Widmung normiert, gilt bei einer Verbreiterung, Begradigung, unerheblichen Verlegung oder Ergänzung einer Straße der neue Straßenteil durch die Verkehrsübergabe als gewidmet, sofern die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 BayStrWG vorliegen. Diese Vorschrift ist auf vorliegende Fallkonstellation schon nach ihrem Wortlaut nicht anwendbar: Die Beklagte hat den …weg nicht um die zusätzlich erworbenen Flächen „verbreitert“ oder „ergänzt“, es handelt sich nicht um einen „neue(n) Straßenteil“, vielmehr waren diese Flächen bereits von den ursprünglichen Baumaßnamen in den Jahren 1993 bis 1997 umfasst gewesen. Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift streitet für dieses Ergebnis: Der Grundsatz der Elastizität der Widmung wurde anhand von Fallkonstellationen entwickelt, bei denen zunächst Straßenplanung, -ausbau und -widmung in ihrem räumlichen Umfang in etwa übereinstimmten; der Elastizität der Widmung bedurfte es dann ggf. später, wenn veränderte Verhältnisse es erforderten, die Straße baulich umzugestalten (BayVGH, B. v. 24.10.2005 – 6 B 01.2416 – juris Rdnr. 39). Aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm folgt deshalb, dass die Widmungsfiktion des Art. 6 Abs. 8 BayStrWG nicht eintreten kann, wenn – wie vorliegend beim …weg – bei Straßenneubaumaßnahmen abweichend von der förmlichen Widmung Teilflächen in Anspruch genommen werden (so richtig Häußler in Zeitler, a.a.O. Art. 6 Rdnr. 81).
Da es somit derzeit an einer vollständigen Widmung des …wegs fehlt – die Beklagte hat diesen Mangel trotz gerichtlicher Hinweise zu Art. 6 Abs. 8 BayStrWG im Erstzustellungsschreiben vom 5. Dezember 2016 jedenfalls bislang nicht beseitigt – sind die sachlichen Beitragspflichten noch nicht entstanden. Der streitgegenständliche Bescheid vom 21. März 2016 ist deshalb rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, weshalb er aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Berufung war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nrn. 3 oder 4 VwGO nicht vorliegen (§ 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO).


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