Baurecht

Straßenausbaubeitrag – Vorteilsrelevante Inanspruchnahme einer Ortsstraße

Aktenzeichen  6 B 18.342

Datum:
25.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 25021
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
KAG Art. 5, Art. 13
BauBG § 123

 

Leitsatz

1. Einem Grundstück wird im Straßenausbaubeitragsrecht eine vorteilsrelevante, zur Beitragserhebung rechtfertigende Inanspruchnahmemöglichkeit grundsätzlich nur durch die nächste von ihm aus erreichbare selbstständige Verkehrseinrichtung vermittelt; das kann auch ein öffentlicher oder privater Weg sein. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausschlaggebend für die Unterscheidung zwischen (bereits) selbstständiger Verkehrseinrichtung einerseits und (bloß) unselbstständiger Zufahrt oder Zuwegung andererseits (“Anhängsel”) ist der Gesamteindruck der zu beurteilenden Einrichtung. Besondere Bedeutung kommt ihrer Ausdehnung und Beschaffenheit sowie vor allem dem Maß der Abhängigkeit zwischen ihr und der Straße, in die sie einmündet, zu. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 4 K 16.327 2017-05-31 Urt VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 31. Mai 2017 – B 4 K 16.327 – abgeändert.
Die Bescheide der Beklagten vom 6. Februar 2013 und die Widerspruchsbescheide des Landratsamts Wunsiedel im Fichtelgebirge vom 6. April 2016 werden aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Klägerinnen, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der Straßenausbaubeitragsbescheid vom 6. Februar 2013 und die Widerspruchsbescheide vom 6. April 2016 sind rechtwidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Denn das in ihrem Miteigentum stehende Grundstück FlNr. 64/1 unterliegt entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht der Beitragspflicht für den Ausbau der Ortsstraße Dorfring nach dem Kommunalabgabengesetz in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (KAG a.F.), die gemäß der Überleitungsregelung des Art. 13 Abs. 7 Satz 1 KAG weiterhin Anwendung findet. Die Bescheide sind deshalb unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils aufzuheben.
1. Bei der abgerechneten Straßenbaumaßnahme am Dorfring handelt es sich, wovon das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist, um die Erneuerung und Verbesserung einer Ortsstraße, für welche die Beklagte nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 3 KAG a.F. und ihrer Ausbaubeitragssatzung vom 24. Februar 2011 von den Eigentümern derjenigen Grundstücke Straßenausbaubeiträge verlangen darf (und muss), denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Straße besondere Vorteile bietet (zur Beitragserhebungspflicht BayVGH, U.v. 9.11.2016 – 6 B 15.2732 – BayVBl 2017, 200).
Für einen solchen Sondervorteil sind nach ständiger Rechtsprechung des Senats zwei Merkmale entscheidend: Zum einen die spezifische Nähe des Grundstücks zur ausgebauten Ortsstraße, wie sie bei Anliegergrundstücken und ihnen aus dem Blickwinkel einer rechtlich gesicherten Inanspruchnahmemöglichkeit grundsätzlich gleich zu stellenden Hinterliegergrundstücken gegeben ist, zum anderen eine Grundstücksnutzung, auf die sich die durch den Ausbau verbesserte Möglichkeit, als Anlieger von der Ortsstraße Gebrauch zu machen, positiv auswirken kann Den Eigentümern von Grundstücken, bei denen beide Voraussetzungen vorliegen, kommt der Straßenausbau in einer Weise zugute, die sie aus dem Kreis der sonstigen Straßenbenutzer heraushebt und die Heranziehung zu einem Beitrag rechtfertigt (etwa BayVGH, B.v. 9.8.2017 – 6 ZB 17.1099 – juris Rn. 8; U.v. 30.6.2016 – 6 B 16.515 – juris Rn. 16 m.w.N.). Anders als im Erschließungsbeitragsrecht kommt es nicht darauf an, ob die Straße dem Grundstück die wegemäßige Erschließung vermittelt, die für eine zulässige bauliche oder gewerbliche Nutzung erforderlich ist. Bei der Erhebung eines Straßenausbaubeitrags für eine vorhandene, lediglich erneuerte oder verbesserte Ortsstraße genügt zur Annahme eines Sondervorteils vielmehr bereits die qualifizierte Inanspruchnahmemöglichkeit als solche. Diese kommt im Grundsatz jeder sinnvollen und zulässigen, nicht nur der baulichen oder gewerblichen Nutzung zu Gute (BayVGH, U.v. 6.4.2017 – 6 B 16.1043 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Einem Grundstück wird im Straßenausbaubeitragsrecht eine vorteilsrelevante, zur Beitragserhebung rechtfertigende Inanspruchnahmemöglichkeit grundsätzlich nur durch die nächste von ihm aus erreichbare selbstständige Verkehrseinrichtung vermittelt; das kann auch ein öffentlicher oder privater Weg sein (BayVGH, U.v. 14.4.2011 – 6 BV 08.3182 – juris Rn. 20; Driehaus, Kommunalabgabenrecht, § 8 Rn. 404). Grenzt ein Grundstück an einen von einer ausgebauten Straße abzweigenden – öffentlichen oder privaten – Weg, beantwortet sich die Frage, ob das betreffende Grundstück an der Verteilung des umlagefähigen Aufwands für den Ausbau der Straße teilnimmt, danach, ob der Weg als ausbaubeitragsrechtlich selbstständig oder unselbstständig zu qualifizieren ist. Ist der Weg selbstständig, koppelt er die nur an ihm gelegenen Grundstücke ab und schließt eine Beitragspflicht für die Straße aus, von der der Weg abzweigt (BayVGH, U.v. 14.4.2011 – 6 BV 08.3182 – juris Rn. 20; B.v. 4.12.2014 – 6 ZB 13.431 – juris Rn. 8; U.v. 30.6.2016 – 6 B 16.515 – juris Rn. 17; vgl. auch NdsOVG, U.v. 24.3.2015 – 9 LB 57.14 – NVwZ-RR 2015, 673).
Ausschlaggebend für die Unterscheidung zwischen (bereits) selbstständiger Verkehrseinrichtung einerseits und (bloß) unselbstständiger Zufahrt oder Zuwegung andererseits („Anhängsel“) ist der Gesamteindruck der zu beurteilenden Einrichtung. Besondere Bedeutung kommt ihrer Ausdehnung und Beschaffenheit sowie vor allem dem Maß der Abhängigkeit zwischen ihr und der Straße, in die sie einmündet, zu (BayVGH, U.v. 14.4.2011 – 6 BV 08.3182 – juris Rn. 21; U.v. 30.6.2016 – 6 B 16.515 – juris Rn. 17). Danach sind – öffentliche wie private – Stichstraßen grundsätzlich als unselbstständig zu qualifizieren, wenn sie nach den tatsächlichen Verhältnissen den Eindruck einer Zufahrt vermitteln. Da eine Zufahrt typischerweise ohne Weiterfahrmöglichkeit endet, typischerweise nur eine bestimmte Tiefe aufweist und ebenso typischerweise gerade, also nicht in Kurven verläuft, ist dies regelmäßig dann der Fall, wenn sie bis zu 100 m tief und nicht verzweigt ist (BayVGH, B.v. 20.4.2012 – 6 ZB 09.1855 – juris Rn. 8; B.v. 17.2.2016 – 6 ZB 14.1871 – juris Rn. 11; B.v. 15.1.2018 – 6 B 17.1436 – juris Rn. 11). Ob die Stichstraße mit Kraftfahrzeugen befahren werden kann oder darf, ist für die Abgrenzung ohne Bedeutung. Zwar kann nach den Grundsätzen des Erschließungsbeitragsrechts ein Privatweg ein ausschließlich an ihm gelegenes Grundstück von der nächsten öffentlichen Anbaustraße nur dann abkoppeln, wenn er als selbstständige Erschließungsanlage im Sinn von § 123 Abs. 2 BauGB zu qualifizieren ist, was die Vermittlung der bebauungs- und bauordnungsrechtlichen Erreichbarkeitsanforderungen für eine Bebaubarkeit des Grundstücks voraussetzt (im Einzelnen Schmitz, Erschließungsbeiträge, 2018 § 13 Rn. 84 ff. m.w.N.). Diese vom Verwaltungsgericht herangezogenen Grundsätze lassen sich auf das Straßenausbaubeitragsrecht aber wegen der unterschiedlichen gesetzlichen Ausgestaltung der Beitragstatbestände nicht uneingeschränkt übertragen. Da im Straßenausbaubeitragsrecht zur Begründung eines relevanten Sondervorteils bereits die qualifizierte Inanspruchnahmemöglichkeit der Verkehrseinrichtung als solche genügt, kommt es auf die besonderen Erreichbarkeitsanforderungen für eine bauliche oder vergleichbare gewerbliche Nutzung des Grundstücks nicht an. Deshalb ist für ein Grundstück ausbaubeitragsrechtlich auch dann grundsätzlich die nächste von ihm aus erreichbare selbständige Verkehrseinrichtung maßgebend, wenn diese nicht zum Befahren mit Kraftfahrzeugen geeignet ist (BayVGH, U.v. 14.4.2011 – 6 BV 08.3182 – juris Rn. 22).
2. Gemessen an diesen straßenausbaubeitragsrechtlich maßgeblichen Abgrenzungskriterien handelt es sich bei dem Spiegelweg nach dem beim Augenschein gewonnenen Gesamteindruck um eine selbstständige Verkehrseinrichtung, die das nur an ihm gelegene Grundstück der Klägerinnen von der Ortsstraße Dorfring beitragsrechtlich abkoppelt.
Mit einer Länge von 138 m und einer deutlich sichtbaren Kurve nach etwa 50 m erweckt er aus jedem Blickwinkel den Eindruck einer selbstständigen Verkehrseinrichtung. Das gilt umso mehr im Vergleich mit der abgerechneten Ortsstraße Dorfring, von der er abzweigt. Denn diese besteht aus der nur etwa 57 m langen asphaltierten Verbindungsstrecke (von der Egerstraße zur Schachter Straße/ Dorfring) und dem nach Westen abzweigenden, ca. 30 m langen gepflasterten Straßenteil. Der daran anschließende Spiegelweg ist dagegen nicht nur deutlich länger, sondern kann wegen der Kurve auch nicht bis zum Ende eingesehen werden. Nicht nur wegen Ausdehnung und Verlauf, sondern auch mit Blick auf die durchgehende Oberflächenbefestigung mit Asphalt in einem durchschnittlichen Ausbauzustand wirkt er – zumal nach dem gepflasterten Stichweg des Dorfrings – nicht wie eine bloße Grundstückszufahrt, sondern erweckt den Eindruck einer neuen, eigenständigen Verkehrseinrichtung.
Es besteht kein Grund, von der 100 m-Regel zur Abgrenzung zwischen bloßer Zufahrt und selbstständiger Verkehrseinrichtung abzuweichen. Dass der Spiegelweg stellenweise nur um die 2,65 m breit ist und keine Wendemöglichkeit aufweist, ist unerheblich. Es kommt nicht darauf an, ob er die – primäre – wegemäßige Erschließung vermittelt, also nicht nur mit Personen-, sondern auch mit kleineren Versorgungsfahrzeugen befahren werden kann. Denn selbst wenn ihm die Befahrbarkeit in diesem Sinn fehlen sollte, würde er gleichwohl straßenausbaubeitragsrechtlich, wie oben ausgeführt, die nur an ihm gelegenen Grundstücke von der Ortsstraße Dorfring abkoppeln. Auch der vom Verwaltungsgericht hervorgehobene Umstand, dass er „nur“ drei Wohngrundstücke an das öffentliche Verkehrsnetz anbindet, rechtfertigt keine Ausnahme von der 100 m-Regel. Abgesehen davon sind im Straßenausbaubeitragsrecht nicht nur die baulich oder gewerblich nutzbaren Grundstücke zu berücksichtigen, sondern sämtliche sinnvoll nutzbare Grundstücke, mithin auch die den drei Wohngrundstücken am Spiegelweg gegenüber liegenden Flächen.
3. Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Der Ausspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.


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