Aktenzeichen Au 5 S 17.1617
Leitsatz
1. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeder (auch) rechtswidrigen Veränderung auf dem Nachbargrundstück verschont zu bleiben. Bei einer Verletzung der Abstandsflächenvorschriften kommt es vielmehr darauf an, inwieweit durch die Nichteinhaltung des erforderlichen Grenzabstandes die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt wird. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 S. 1 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengeführt werden. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden. Ob dies der Fall ist, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu beurteilen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller, Az. Au 5 K 17.1558, gegen die Baugenehmigung des Antragsgegners vom 19. September 2017, Az., wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,00 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsteller sind Eigentümer des unter anderem mit einem Wohnhaus bebauten Grundstückes Fl.Nr. …6 der Gemarkung …. Das als Doppelhaushälfte genehmigte Wohnhaus grenzt mit seiner östlichen Giebelseite unmittelbar an das östlich anschließende Baugrundstück mit der Fl.Nr. …7 an.
Sowohl das Grundstück Fl.Nr. …6 als auch das Baugrundstück Fl.Nr. …7 liegen im Geltungsbereich des rechtsverbindlichen Bebauungsplanes Nr. … für das Gebiet „H…weg, S…weg, F…weg, F…-Straße und L…-Straße“ der kreisangehörigen Stadt, ortsüblich bekannt gemacht am 7. April 1988. Sowohl in der Planzeichnung als auch in § 4 Nr. 1 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes ist geregelt, dass auf den beiden Grundstücken nur Doppelhäuser zulässig sind.
Mit Bescheid vom 19. August 2016, Az., hat das Landratsamt … (im Folgenden: Landratsamt) der Beigeladenen die Baugenehmigung für die Errichtung unter anderem eines Reihenmittelhauses und eines Reihenendhauses erteilt. Nach den genehmigten Planunterlagen sind das Reihenmittelhaus und das Wohnhaus der Antragsteller an der gemeinsamen Grundstücksgrenze giebelseitig zusammengebaut. Die Giebelwand des Reihenmittelhauses ragt nach Süden hin 1,00 m über die südliche Außenwand des Wohnhauses der Antragsteller hinaus. Entsprechend hierzu überschreitet die Giebelhöhe des Reihenmittelhauses die Giebelhöhe des Wohnhauses der Antragsteller um 0,31 m und ragt die westliche Außenwand des Reihenmit-telhaues in diesem Umfang auch über den südlichen Teil des Satteldaches des 1 Wohnhauses der Antragsteller hinaus. Dieser Bescheid ist nach Aktenlage bestandskräftig geworden.
Mit Formblatt vom 31. Januar 2017 hat die Beigeladene über die kreisangehörige Stadt … einen als Änderungsantrag zu dem genehmigten Bauantrag vom 19. August 2016 bezeichneten Bauantrag für den Neubau eines Mehrfamilienwohnhauses mit fünf Wohneinheiten mit Tiefgarage und oberirdischem Stellplatz beim Landratsamt eingereicht.
Die kreisangehörige Stadt … hat mit Beschluss des Bauausschusses vom 15. Februar 2017 das Einvernehmen zu dem Bauantrag erteilt.
Mit Formblatt vom 29. Juni 2017 hat die Beigeladene über die kreisangehörige Stadt … einen weiteren von ihr als Änderungsantrag bezeichneten Bauantrag zu der Baugenehmigung vom 19. August 2016 zur Errichtung eines Neubaus eines Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten mit Tiefgarage und oberirdischem Stellplatz auf dem Grundstück Fl.Nr. …7 gestellt.
Zu dem Antrag vom 29. Juni 2017 hat der Bauausschuss der kreisangehörigen Stadt … mit Beschluss vom 12. Juli 2017 das gemeindliche Einvernehmen verweigert.
Mit Bescheid vom 19. September 2017, Az., hat das Landratsamt der Beigeladenen die Baugenehmigung zur Errichtung einer Doppelhaushälfte mit fünf Wohneinheiten und einer Tiefgarage auf dem Grundstück Fl.Nr. …7 entsprechend den am 31. August 2017 beim Landratsamt eingegangenen und mit dem Genehmigungsvermerk vom 19. September 2017 versehenen Bauvorlagen erteilt (Nr. 1 des Bescheides). Mit der Baugenehmigung wurde eine Abweichung dahingehend zugelassen, dass sämtliche oberirdischen Teile der Tiefgarageneinhausung in der Abstandsfläche des Wohngebäudes liegen dürfen (Nr. 2 des Bescheides). Von den Festsetzungen des Bebauungsplanes wurden Befreiungen dahingehend erteilt, dass die östliche Baugrenze mit dem Erker um 0,75 m x 4,87 m überschritten werden darf (Nr. 3.1 des Bescheides), die südliche Baugrenze mit den Balkonen um jeweils 1,50 m x 4,175 m überschritten werden darf (Nr. 3.2 des Bescheides) und die Tiefgarage und die Tiefgara 7 geneinhausung mit einer Fläche von 307 m2 außerhalb der Baugrenzen errichtet werden darf (Nr. 3.3 des Bescheides).
Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen.
Der Bescheid wurde den Antragstellern jeweils mit Postzustellungsurkunde am 26. September 2017 zugestellt.
Die Antragsteller haben mit Schreiben vom 12. Oktober 2017, eingegangen bei Gericht per Fernkopie am 12. Oktober 2017, unter dem Az. Au 5 K 17.1558 Klage gegen den Bescheid des Landratsamtes vom 19. September 2017 erhoben.
Die Antragsteller haben darüber hinaus mit Schreiben vom 25. Oktober 2017, eingegangen bei Gericht per Fernkopie am 25. Oktober 2017, beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12. Oktober 2017 gegen die Baugenehmigung des Antragsgegners vom 19. September 2017, Az. …, anzuordnen.
Zur Begründung des Antrages haben die Antragsteller in dem Schreiben vom 25. Oktober 2017 im Wesentlichen Folgendes ausgeführt. Das Vorhaben überschreite mit der Gesamtlänge seiner westlichen Außenwand die Gesamtlänge der östlichen Außenwand des Wohnhauses der Antragsteller deutlich und weise auch ein deutlich höheres Dach auf, so dass die beiden Gebäude nicht mehr als gleichwertig harmonisches Ganzes erschienen, was aber für die Annahme einer Doppelhaushälfte, die unmittelbar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtet werden könne, erforderlich sei. Darüber hinaus werde durch den Teil des Vorhabens, der sich über die südliche Außenwand des Wohnhauses der Antragsteller nach Süden hin erstrecke, insbesondere durch die Balkone und die Dachterrasse die Möglichkeit der Einsichtnahme auf das Grundstück der Antragsteller in unzumutbarer Weise erweitert.
Der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 7. November 2017 beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung hat der Antragsgegner unter anderem auf die Begründung der Baugenehmigung Bezug genommen. Im Übrigen wird auf die Ausführungen des Antragsgegners im Schreiben vom 7. November 2017 Bezug genommen.
Die Beigeladene hat sich bislang in der Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Ergänzend wird auf die im vorliegenden Verfahren und im Verfahren Au 5 K 17.1558 vorgelegten Akten und die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 VwGO ist begründet.
1. Mangels aufschiebender Wirkung der Klage gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung, § 212a Abs. 1 BauGB i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, kann das Gericht der Hauptsache nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung aufgrund einer eigenen Ermessensentscheidung ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht eine Interessenabwägung vorzunehmen. Insoweit stehen sich das Suspensivinteresse des Nachbarn an der aufschiebenden Wirkung der Klage und das Interesse des Bauherrn, von der Baugenehmigung trotz eingelegten Rechtsmittels sofort Gebrauch machen zu können, grundsätzlich gleichwertig gegenüber. Das gilt ungeachtet des durch die in § 212a BauGB gesetzlich angeordnete sofortige Vollziehbarkeit veränderten Ansatzes der gerichtlichen Prüfung (BayVGH, B.v. 21.12.2001 – 15 CS 01.2570 -BayVBl 2003, 48 ff.). Aus diesem Grund ist bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO in erster Linie auf die Erfolgsaussichten des Nachbarrechtsbehelfs abzustellen. Fällt die Erfolgsprognose danach zu Gunsten des Nachbarn aus, erweist sich also nach summarischer Prüfung die angefochtene Baugenehmigung gegenüber dem Nachbarn aus voraussichtlich rechtswidrig, so ist die Vollziehung der Genehmigung regelmäßig auszusetzen (BayVGH, B.v. 12.4.1991 – 1 CS 91.439 – BayVBl 1991, 720 ff.). Erscheint der Nachbarrechtsbe helf dagegen als voraussichtlich aussichtslos, ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen. Stellen sich die Erfolgsaussichten als offen dar, findet eine reine Interessenabwägung statt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 80 Rn. 152 ff.).
Eine Baunachbarklage kann ohne Rücksicht auf die etwaige objektive Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung nur dann Erfolg haben, wenn die erteilte Genehmigung gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die gerade auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind und dieser dadurch in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist. Eine Verletzung von Nachbarrechten kann darüber hinaus wirksam geltend gemacht werden, wenn durch das Vorhaben das objektivrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird, dem drittschützende Wirkung zukommen kann.
Darüber hinaus muss die Baugenehmigung für einen Erfolg der Klage gegen eine im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende Vorschrift verstoßen.
Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Überprüfung der Sach- und Rechtslage wird die Klage der Antragsteller gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. September 2017 im Hinblick auf eine Verletzung drittschützender Rechte, auf die sich die Antragsteller allein berufen können, voraussichtlich erfolgreich sein. Der Bescheid des Landratsamtes vom 19. September 2017 ist voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragsteller in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
2. Gegenstand der Baugenehmigung ist die Errichtung einer von der Beigeladenen und dem Landratsamt so bezeichneten „Doppelhaushälfte“ mit fünf Wohneinheiten und einer Tiefgarage. Es handelt sich danach um ein Bauvorhaben, das im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO zu prüfen ist. Nach Art. 59 Satz 1 BayBO prüft die Bauaufsichtsbehörde im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren die Übereinstimmung des Vorhabens mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO, beantragte Abweichungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO, sowie andere öffentlichrechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird, Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO.
Zu den im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO zu prüfenden Vorschriften gehört auch das in § 15 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BauNVO verankerte Gebot der Rücksichtnahme.
Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen dabei wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichtetem nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 33; BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Zwar stellen die landesrechtlichen Grenzabstandsvorschriften grundsätzlich eine Konkretisierung des Gebots der nachbarlichen Rücksichtnahme dar (BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215.96 – NVwZ-RR 1997, 516). Auch kann das Gebot der Rücksichtnahme ausnahmsweise verletzt sein, wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – NVwZ 1999, 879/880). Das lässt aber nicht den Schluss zu, dass eine Verletzung der Abstandsflächenvorschriften regelmäßig zu einer Verletzung des Rücksichtnahmegebots führt. Maßgeblich sind vielmehr auch hier die konkreten Umstände des Einzelfalles. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeder (auch) rechtswidrigen Veränderung auf dem Nachbargrundstück verschont zu bleiben. Auch insoweit kommt es vielmehr darauf an, inwieweit durch die Nichteinhaltung des erforderlichen Grenzabstandes die Nutzung des Nachbargrundstückes unzumutbar beeinträchtigt wird (BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.107 – juris Rn. 11 m.w.N.).
3. Nach diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall wegen der Nichteinhaltung des erforderlichen Grenzabstandes nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme anzunehmen.
3.1 Bei dem streitgegenständlichen Mehrfamilienhaus mit fünf Wohneinheiten handelt es sich nicht um eine Doppelhaushälfte im Sinne des § 22 Abs. 2 BauNVO.
Ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist eine bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Gebäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinanderbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu einer Einheit zusammengeführt werden. Ein Doppelhaus verlangt ferner, dass die beiden Haushälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise aneinandergebaut werden (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5/12 – juris; BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98 – BVerwGE 110, 355). Die bauliche Einheit eines Doppelhauses, aus der sich das besondere nachbarliche Austauschverhältnis ergibt, liegt dann vor, wenn die beiden Hälften einen harmonischen Gesamtkörper bilden. Das bedeutet zwar nicht, dass die Doppelhaushälften gleichzeitig und deckungsgleich errichtet werden müssen. Ein einheitlicher Gesamtbaukörper kann auch noch vorliegen, wenn z.B. aus gestalterischen Gründen die gemeinsame vordere und rückwärtige Außenwand des einheitlichen Baukörpers durch kleinere Vor- und Rücksprünge aufgelockert wird (BayVGH, U.v. 9.2.1999 – 14 B 96.2272 – juris Rn. 27). Zu fordern ist jedoch, dass die einzelnen Gebäude quantitativ zu einem wesentlichen Teil und qualitativ in wechselseitig verträglicher und harmonischer Weise aneinandergebaut sind (BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – BVerwGE 110, 355; BayVGH, B.v. 15.9.2015 – 2 CS 15.1792 – juris Rn. 13 m.w.N.). Im System der offenen Bauweise ordnet sich ein aus mehreren Gebäuden zusammengefügter Baukörper nämlich nur ein, wenn das Abstandsgebot an der gemeinsamen Grundstücksgrenze auf der Grundlage der Gegenseitigkeit überwunden wird. Zu Gunsten der Erhöhung der baulichen Nutzbarkeit wird auf Grenzabstände verzichtet, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen. Diese enge Wechselbeziehung begründet ein nachbarliches Austauschverhältnis, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf. In welchem Umfang vor diesem Hintergrund ein vorderer oder rückwärtiger Versatz möglich ist, ohne das nachbarliche Austauschverhältnis aus dem Gleichgewicht zu bringen oder die harmonische Beziehung, in der die einzelnen Gebäude zueinanderstehen müssen, in Frage zu stellen, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu beurteilen. Quantitativ sind dabei insbesondere die Geschosszahl, die Gebäudehöhe, die Bebauungstiefe und Bebauungsbreite sowie das durch diese Maße im Wesentlichen bestimmte oberirdische Brutto-Raumvolumen zu berücksichtigen. Qualitativ kommt es unter anderem auch auf die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur des Gebäudes an (BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12/98 – BVerwGE 110, 355; BayVGH, B.v. 15.9.2015 – 2 CS 15.1792 – juris Rn. 13 m.w.N.).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegt nach der Errichtung des von der Beigeladenen geplanten Mehrfamilienhauses mit fünf Wohneinheiten kein einheitlicher Baukörper mehr vor, weil das nachbarliche Austauschverhältnis dadurch aus dem Gleichgewicht gebracht und die harmonische Beziehung der Gebäude untereinander in Frage gestellt wird.
Das geplante Mehrfamilienwohnhaus ist mit seiner östlichen Giebelwand nicht in einem Umfang an die westliche Giebelwand des Wohnhauses der Antragsteller angebaut, wie es für die Annahme eines Doppelhauses erforderlich wäre. Das gilt auch dann, wenn man in die Betrachtung die von den Antragstellern ohne Baugenehmigung vor dem im Erdgeschoss des Wohnhauses befindlichen eingeschnittenen Balkon auf einem Holzpodest errichteten, mit einem Holzgeländer versehenen und mit einem von einem Metallgerüst getragenen Glasdach überdachten, im Übrigen aber offene Balkonterrasse mit einbezieht und die fiktive östliche Wand der Balkonterrasse zur östlichen Giebelwand des Wohnhauses der Antragsteller hinzurechnet. Zwar ist dann der beidseitige Grenzanbau der beiden Gebäude im Erdgeschossbereich längenbzw. deckungsgleich. Im ersten Obergeschoss, über dem Dach der Balkonterrasse reicht die westliche Giebelwand des Mehrfamilienhauses der Beigeladenen aber 3,00 m über das südliche Ende der östlichen Giebelwand des Wohnhauses der Antragsteller hinaus. Hinzu kommt, dass sich im 90°-Winkel zu der verlängerten westlichen Außenwand des Gebäudes der Beigeladenen im ersten Obergeschoss hinter der südlichen Außenwand des Wohnhauses der Antragsteller ein weiterer eingeschnittener Balkon befindet. Die Giebelhöhe des Wohnhauses der Antragsteller beträgt 9,57 m, die Giebelhöhe des Mehrfamilienhauses der Beigeladenen 10,77 m. Diese unterschiedlichen Giebelhöhen führen im Ergebnis dazu, dass, gerade von Westen aus deutlich erkennbar, die beiden Dachfirste nicht in einer Linie verlaufen, sondern der 0,80 m höhere Dachfirst des Gebäudes der Beigeladenen nahezu 2,00 m weiter nach Süden versetzt ist, ein einheitlicher Verlauf des Dachfirstes also weder im Hinblick auf die Firsthöhe noch die Firstlinie gegeben ist und die beiden Dächer dadurch, gerade von Westen aus deutlich erkennbar, sich nicht als einheitliches Dach eines Gesamtbaukörpers darstellen. Durch die höhere Giebelhöhe des Gebäudes der Beigeladenen ergibt sich zudem, dass dessen westliche Giebelwand im Bereich des Dachgeschosses bis zur südlichen Abschlusswand des Wohnhauses der Antragsteller auf einer Länge von ca. 3,50 m um die höhere Giebelhöhe von 0,80 m, und in dem über die südliche Außenwand im ersten Obergeschoss des Wohnhauses der Antragsteller hinausgehenden Bereich der grenzständigen westlichen Giebelwand des Gebäudes der Beigeladenen in einer Tiefe von 3,00 m und einer Hö he zwischen ca. 4,60 m im Bereich der südlichen Außenwand im ersten Obergeschoss des Wohnhauses der Antragsteller und ca. 3,00 m im Bereich am südlichen Ende der westlichen Außenwand des Gebäudes der Beigeladenen über das Glasdach der von den Antragstellern im Erdgeschossbereich ihres Wohnhauses errichteten Balkonterrasse hinausgeht und in diesem nicht unerheblichen Umfang den vorhandenen Grenzanbau durch das Wohnhaus der Antragsteller überschreitet. Ein harmonischer Zusammenbau in einer wechselseitig abgestimmten Weise, wie sie für die Annahme des Vorliegens eines Doppelhauses Voraussetzung ist, ist danach nicht mehr gegeben. Hinzu kommt, dass auch ein Vergleich der Geschosse nahelegt, dass ein einheitlicher Gesamtbaukörper nicht vorliegt. Wie sich aus den genehmigten Plänen ergibt, ist das geplante Mehrfamilienhaus in fünf Wohneinheiten aufgeteilt, die durch ein gemeinsames Treppenhaus erreicht werden. Die fünfte Wohneinheit befindet sich komplett im Dachgeschoss des Gebäudes. Auch wenn man unter Berücksichtigung der genehmigten Planunterlagen davon ausgeht, dass es sich bei dem Dachgeschoss nicht um ein Vollgeschoss handelt, findet sich im Gegensatz zum Wohnhaus der Antragsteller im Dachgeschoss eine abgeschlossene Wohneinheit. Darüber hinaus kann bei der Beurteilung der Frage, ob noch ein einheitlicher Gesamtbaukörper im Sinne eines Doppelhauses vorliegt, der ausweislich des genehmigten Abstandsflächenplans mit einem Abstand zur gemeinsamen Grundstücksgrenze von 1/2 H errichtete südliche Teil des Gebäudes nicht außer Acht gelassen werden. In diesem Teil des Gebäudes befindet sich nach den Planunterlagen sowohl in den Wohnungen im Erdgeschoss als auch im ersten Obergeschoss der Wohnbereich des kombinierten Bereichs Kochen/Wohnen, der noch nach Süden durch die den jeweiligen Wohneinheiten zugehörigen Terrassen im Erdgeschoss bzw. Balkone im ersten Obergeschoss erweitert wird. Auf diesem mit einem Flachdach versehenen Bereich des Gebäudes befindet sich die zu der Wohneinheit im Dachgeschoss gehörige Dachterrasse mit einer Fläche von 37,86 m2. Im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung des Einzelfalles wird daher unter Berücksichtigung der unterschiedlich ausgeprägten Giebelseiten, bedingt durch die unterschiedliche Gebäudehöhe bzw. Wandlänge, das Brutto-Raumvolumen, die Dachgestaltung und die sonstige Kubatur das Mehrfamilienhaus der Beigeladenen nicht mehr den An forderungen an das Vorliegen eines Doppelhauses in dem Sinne gerecht, dass die beiden Gebäude quantitativ als zu einem wesentlichen Teil und qualitativ als in wechselseitig verträglicher und harmonischer Weise aneinandergebaut angesehen werden können.
3.2 Fällt das Mehrfamilienhaus der Beigeladenen aber nicht unter den Doppelhausbegriff des § 22 BauNVO, verstößt das Vorhaben gegen das bauplanungsrecht-liche Gebot der Rücksichtnahme.
Ungeachtet der Frage, dass nach den Festsetzungen des Bebauungsplanes auf dem Grundstück ausschließlich der Errichtung eines Doppelhauses zulässig ist und ungeachtet der Frage, ob die Antragsteller bereits hieraus einen Abwehranspruch geltend machen könnten, ergibt sich dieser jedenfalls daraus, dass das Vorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, weil es die erforderlichen bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen nicht einhält.
Handelt es sich bei dem Vorhaben nicht um ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO, muss es ungeachtet seiner Zulässigkeit im Übrigen jedenfalls vor seiner westlichen Außenwand die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO, Art. 6 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2 BayBO, Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erforderliche Abstandsfläche einhalten. Das ist jedenfalls für den 12,90 m langen Teil der westlichen Giebelwand des Gebäudes, der unmittelbar an der Grundstücksgrenze zum Grundstück der Antragsteller liegt, ersichtlich nicht der Fall.
Die Errichtung eines 12,90 m breiten und 10,77 m hohen Gebäudes unmittelbar an der Grundstücksgrenze verstößt nicht nur gegen die nachbarschützenden Abstandsflächenvorschriften. Die Nichteinhaltung des erforderlichen Grenzabstandes, der grundsätzlich eine Konkretisierung des Gebots der nachbarlichen Rücksichtnahme darstellt, führt unter Berücksichtigung des Umfanges der Ab-standsflächenverletzung und deren Folgen im vorliegenden Fall auch zu einer schwerwiegenden und unzumutbaren Beeinträchtigung des Grundstückes der Antragsteller im Rahmen des Rücksichtnahmegebots.
Die Frage, ob durch das Vorhaben der Beigeladenen, insbesondere durch die entstehenden Einsichtmöglichkeiten aus den westlichen, zur Grundstücksgrenze mit den Antragstellern gerichteten Fenstern im Erdgeschoss und ersten Obergeschoss des Gebäudes bzw. durch die vorgebauten Terrassen und Balkone bzw. durch die auf dem Flachdach befindliche Dachterrasse in einem Abstand von 1/2 H zur gemeinsamen Grundstücksgrenze auf das Grundstück der Antragsteller der Wohnfrieden dergestalt gestört wird, dass dies zu einem Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme führt, kann im Übrigen dahingestellt bleiben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht nach § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG, § 53 Abs. 3 Nr. 2 GKG i.V.m. den Nrn. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.