Europarecht

1 C 39/20

Aktenzeichen  1 C 39/20

Datum:
25.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:250521U1C39.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 25. Juni 2020, Az: 1 LB 9/20, Beschlussvorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, 10. Dezember 2019, Az: 10 A 612/19, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 25. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine eritreische Staatsangehörige, wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien.
2
Die Klägerin wurde im Juli 2019 im Bundesgebiet geboren. Ihre Mutter hatte bereits in Italien ein Asylverfahren durchgeführt, infolgedessen ihr internationaler Schutz gewährt worden war. Diese reiste in der Folgezeit in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 8. August 2019 wurde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Geburt der Klägerin angezeigt.
3
Das Bundesamt erachtete aufgrund dessen einen Asylantrag für die Klägerin gemäß § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG als gestellt. Mit Bescheid vom 6. November 2019 lehnte es diesen Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss eines etwaigen Klageverfahrens zu verlassen, und drohte für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Italien bzw. in einen anderen Staat an, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 3). Das Bundesamt befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig, da nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei. Es bedürfe nicht der Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind, weil Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO über eine erweiternde Auslegung bzw. analog Anwendung finde. Hiernach sei die Situation des Kindes untrennbar mit der Situation seiner Eltern verbunden und die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats gegeben, der für die Prüfung des Asylantrags der Eltern zuständig sei.
4
Mit Urteil vom 10. Dezember 2019 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts auf.
5
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Beschluss vom 25. Juni 2020 zurückgewiesen. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei rechtswidrig. Aus der Dublin III-VO folge nicht die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin als eines nachgeborenen, also in der Bundesrepublik Deutschland nach Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat der EU durchgeführten Asylverfahrens seiner Eltern geborenen Kindes. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO begründe weder in direkter noch in erweiternder Auslegung bzw. analoger Anwendung eine Zuständigkeit Italiens. Im Übrigen wäre die Zuständigkeit selbst bei analoger Anwendung nach Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen, weil die Beklagte es versäumt habe, binnen drei Monaten nach der Asylantragstellung der Klägerin ein Aufnahmegesuch an Italien zu richten.
6
Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, dass in analoger bzw. erweiternder Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin als zuständig anzusehen sei, der bereits ihrer Mutter internationalen Schutz zuerkannt habe. Die Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO habe zur Folge, dass von der Beklagten kein neues Zuständigkeitsverfahren für das Kind eingeleitet werden müsse und folglich auch die Aufnahmegesuchfristen des (insoweit teleologisch reduzierten) Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO nicht anwendbar seien. Aber selbst wenn man dies – wie der Senat in seinem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 23. Juni 2020 – BVerwG 1 C 37.19 – anders beurteile, unterscheide sich der Streitfall von dem dem genannten Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt dadurch, dass das Bundesamt vorliegend den als zuständig bestimmten Mitgliedstaat Italien über die Geburt der Klägerin unter dem 23. September 2019 unterrichtet habe. Eine gegenteilige Feststellung der Vorinstanz sei ersichtlich aktenwidrig. Dies sei zwar nicht als Verfahrensfehler gerügt worden; da es sich bei den entsprechenden Erwägungen des Berufungsgerichts nur um ein obiter dictum gehandelt habe, habe hierzu aber auch keine Veranlassung bestanden. Da das Bundesamt erst mit Schreiben vom 7. August 2019 über die Geburt der Klägerin informiert worden sei, sei die Fristvorgabe des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO mit der Geburtsanzeige jedenfalls gewahrt worden. Die italienische Seite habe sich im weiteren Verlauf auch nicht gegen ihre Aufnahmeverpflichtung ausgesprochen.
7
Die Klägerin verteidigt den angegriffenen Beschluss.
8
Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und unterstützt die Rechtsauffassung der Beklagten.


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