Europarecht

Abschiebungsanordnung, Dublin-Verfahren, Zielstaat Bulgarien, Systemische Mängel (verneint), Tatsächliche Durchführbarkeit der Abschiebung (bejaht)

Aktenzeichen  M 10 S 22.50254

Datum:
2.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 14433
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1
VO (EU) 604/2013 (Dublin-III-VO) Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1
Dublin-III-VO Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2
Dublin-III-VO Art. 18 Abs. 1 Buchst. b

 

Leitsatz

Nach der derzeitigen Erkenntnismittellage ist auch vor dem Hintergrund der Auswirkungen des Ukraine-Krieges davon auszugehen, dass Überstellungen nach Bulgarien im Wege des Dublin-Verfahrens weiter durchgeführt werden können (Rn. 22).

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Abschiebungsanordnung nach Bulgarien im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
Der Antragsteller, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 28. März 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er äußerte ein Asylgesuch, von dem die Antragsgegnerin am 30. März 2022 Kenntnis erhielt. Der förmliche Asylantrag datiert vom 31. März 2022.
Aufgrund der Eurodac-Treffermeldung vom 28. März 2022 (* … vom 21.2.2022) richtete die Antragsgegnerin am 30. März 2022 ein Wiederaufnahmegesuch an die bulgarischen Behörden, das am gleichen Tag dort einging. Eine Reaktion der bulgarischen Behörden hierauf erfolgte nicht.
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. April 2022 wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt, festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen, die Abschiebung nach Bulgarien sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG für die Dauer von 11 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet.
Am 11. April 2022 zeigte die Bevollmächtigte unter Vollmachtvorlage die anwaltliche Vertretung des Antragstellers an.
Der Antragsteller hat über seine Bevollmächtigte mit am 25. April 2022 bei Gericht eingegangen Schriftsatz Klage erheben lassen (M 10 K 22.50227). Gleichzeitig wird beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wird insbesondere ausführt, dass nach summarischer Prüfung die Erfolgsaussichten der Klage jedenfalls offen seien, sodass eine vorzunehmende Folgenabwägung zugunsten des Antragstellers ausfalle. Die Rückführung von Asylbewerbern nach Bulgarien im Dublin-Verfahren sei derzeit faktisch unmöglich, da Bulgarien infolge der Überlastung durch die Flüchtlinge aus der Ukraine bereits seit Anfang März 2022 die Rücküberstellung im Dublin-Verfahren ablehne. Die Abschiebung sei damit nicht durchführbar und die Abschiebungsanordnung daher rechtswidrig.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte vor, äußerte sich aber nicht zur Sache.
Das Gericht hat den Antragsteller im Zuge der Erstzustellung seiner Klage dazu aufgefordert, Belege für die Behauptung, Bulgarien akzeptiere seit Anfang März 2022 die Rücküberstellung von Asylbewerbern im Wege des Dublin-Verfahrens nicht mehr, vorzulegen. Eine weitere Äußerung des Antragstellers erfolgte – trotz Ankündigung in der Antragsschrift – auch nach gewährter Akteneinsicht in die Behördenakte am 4. Mai 2022 nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 10 K 22.50253, sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 34a Abs. 2 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO bleibt ohne Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurde er zusammen mit der Klage fristgerecht gestellt (§ 34a Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG). Da der Antragsgegnerin die anwaltliche Vertretung des Antragstellers nachgewiesen war, war die Zustellung des Bescheids gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) an die Bevollmächtigte zu richten und nicht an den Antragsteller. In der Behördenakte findet sich jedoch kein Zustellungsnachweis gegenüber der Bevollmächtigten, sodass ein früherer Zustellungszeitpunkt als der 18. April 2022 nicht nachgewiesen ist.
2. Der Antrag ist allerdings unbegründet.
Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Dabei sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück.
Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten des Antragstellers aus. Nach summarischer Prüfung sind die Erfolgsaussichten seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid als gering anzusehen. Die Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig, da der Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt worden ist.
3. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin-III-VO ist Bulgarien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Nach der Grundregel des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin-III-VO ist immer derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz zuerst gestellt worden ist, außer es ergibt sich anhand der Kriterien der Art. 7 ff. Dublin-III-VO eine anderweitige Zuständigkeit.
Im vorliegenden Fall ist eine Zuständigkeit Deutschlands auf Grundlage der vorrangigen Kriterien der Art. 7 ff. Dublin-III-VO weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Eine solche ergibt sich nicht aus Art. 9 f. Dublin-III-VO aufgrund des Vortrags, dass der Onkel und der Cousin des Antragstellers in Deutschland leben. Denn weder der Onkel noch Cousin sind als Familienangehörige im Sinne des Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO anzusehen.
a) Damit ist nach der Grundregel des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin-III-VO derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz zuerst gestellt worden ist, hier Bulgarien. Das Wiederaufnahmegesuch an Bulgarien ist am 30. März 2022 und damit innerhalb der nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b, Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO geltenden Frist von zwei Monaten gestellt worden, da diese Frist mit der Eurodac-Treffermeldung vom 28. März 2022 begonnen hat. Da die bulgarischen Behörden auf dieses Wiederaufnahmeersuchen nicht innerhalb der 2-Wochen-Frist nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO reagiert haben, ist nach Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO davon auszugehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird.
b) Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Bulgarien infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen einer hinreichend wahrscheinlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt wäre. Insoweit wird auf die ausführliche Begründung im angefochtenen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG), die die derzeitige Situation für Asylbewerber in Bulgarien sowie die Rechtsprechung, nach der systemische Mängel überwiegend verneint werden, detailliert wiedergibt.
Auch in der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass das bulgarische Asylsystem aktuell nicht an systemischen Mängeln leidet. Auch wenn in bestimmten Bereichen noch Schwächen vorhanden sind und die Lebensbedingungen in Bulgarien für Asylbewerber schwieriger sind als in Deutschland, führen diese Umstände nicht zur Mangelhaftigkeit des Gesamtsystems (VGH Baden-Württemberg, U.v. 24.2.2022 – VGH A4 S 162/22 – juris Rn. 32 ff.; VGH Baden-Württemberg, B.v. 22.10.2019 – A 4 S 2476/19 – juris Rn. 16 ff.; VG München, B.v. 24.3.2022 – M 5 S 22.50150 – juris Rn. 19 ff.; VG Würzburg, B.v. 27.10.2021 – W 1 S 21.50279 – juris Rn. 19 ff.).
Insbesondere hat der Antragsteller hierzu auch nichts Gegenteiliges vorgetragen. Da der junge und alleinstehende Antragsteller, der mangels Vorlage von Attesten als gesund und arbeitsfähig anzusehen ist, nicht einer vulnerablen Personengruppe angehört, sind auch keine Anhaltspunkte erkennbar, dass dem Antragsteller bei Überstellung nach Bulgarien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO notwendig machen, sind nicht ersichtlich bzw. wurden vom Antragsteller nicht vorgetragen.
4. Die Abschiebung nach Bulgarien ist nach dem oben Gesagten rechtlich zulässig und kann i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG auch durchgeführt werden. Soweit der Antragsteller vorträgt, dass Abschiebungen nach Bulgarien derzeit generell nicht möglich seien, weil Bulgarien sich aufgrund Überlastung durch Ukraine-Flüchtlinge weigere, Asylbewerber im Wege des Dublin-Verfahrens wiederaufzunehmen, beruft er sich in der Sache auf ein Abschiebungshindernis i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, welches von der Antragsgegnerin im Rahmen der Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG zu prüfen ist (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 9 ff.). Anders als die Bevollmächtigte des Antragstellers meint, sind die tatsächlichen Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aber nicht gegeben. Dem Gericht liegen keine Erkenntnisse vor, dass Bulgarien sich seit Anfang März 2022 generell weigert, aufgrund der Belastungen durch Ukraine-Flüchtlinge Asylbewerber im Rahmen des Dublin-Verfahrens wiederaufzunehmen. Nachdem die Bevollmächtigte des Antragstellers trotz Aufforderung keine geeigneten Quellen für diese Behauptung vorgelegt hat, hat das Gericht selbst recherchiert, um den Vortrag der Antragspartei zu verifizieren; dabei konnten aber keine stützenden Belege für den Vortrag des Antragstellers gefunden werden. In der neueren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung wurde Eilanträgen gegen Dublin-Überstellungen nach Polen und Rumänien zwar zum Teil stattgegeben bzw. bezüglich einer Dublin-Überstellung in die Slowakei die Abschiebungsanordnung im Hauptsacheverfahren aufgehoben (siehe etwa VG Aachen, B.v. 18.3.2022 – 6 L 156/22.A – juris Rn. 13 [bezüglich Polen]; VG Würzburg, U.v. 5.4.2022 – W 1 K 22.50078 – juris Rn. 35 ff. [bezüglich Slowakei]; VG Düsseldorf, B.v. 26.4.2022 – 22 L 750/22.A. – juris Rn. 8 ff. [bezüglich Polen]; VG Düsseldorf, B.v. 4.5.2022 – 22 L 526/22.A – juris Rn. 8 ff. [bezüglich Rumänien]; a.A. aber VG Minden, B.v. 12.5.2022 – 12 L 286/22.A – juris [bezüglich Rumänien; VG Trier, B.v. 5.5.2022 – 7 L 1089/22.TR – juris [bezüglich Rumänien]; VG Trier, B.v. 4.5.2022 – 7 L 1052/22.TR – juris [bezüglich Polen]; VG Lüneburg, B.v. 3.5.2022 – 5 B 31/22 – juris [bezüglich Polen]; VG Leipzig, B.v. 28.4.2022 – 7 L 209/22.A. – juris [bezüglich Rumänien]). Hintergrund dieser Rechtsprechung waren mehrere Presseberichte, wonach infolge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und den daraus resultierenden Fluchtbewegungen Abschiebungen in mehrere östliche EU-Staaten (Polen, Rumänien, Tschechien und Slowakei) ausgesetzt seien (vgl. WELT AM SONNTAG, Abschiebungen in viele Länder ausgesetzt, https://www.welt.de/politik/deutschland/article237933839/Ukraine-Krieg-Abschiebungen-in-viele-Laenderausgesetzt.html). Auch wenn Bulgarien ebenfalls von Fluchtbewegungen aus der Ukraine betroffen ist, dürfte aber allein schon im Hinblick auf die geographischen Gegebenheiten nicht von einer vergleichbaren Situation wie etwa in den unmittelbar an die Ukraine grenzenden Staaten Polen und Rumänien auszugehen sein (vgl. VG Aachen, B.v. 7.4.2022 – 8 L 123/22.A – juris, S. 22 f. des Beschlusses). Jedenfalls ist zu sehen, dass Bulgarien in dem genannten Pressebericht gerade nicht genannt wird, sodass die Möglichkeit der Überstellung dorthin innerhalb der Frist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht ausgeschlossen erscheint (vgl. ähnlich auch VG Minden, B.v. 22.4.2022 – 12 L 350/22.A. – juris, S. 28 f. des Beschlusses).
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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