Europarecht

Abwägung des Ausweisungs- und Bleibeinteresses bei Gewaltdelikten eines Drogensüchtigen

Aktenzeichen  M 12 K 19.1340

Datum:
24.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 34676
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11, § 52, § 53 Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
BtMG § 31a Abs. 1
StGB § 63
EMRK Art. 8 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
AuslG aF § 10
GG Art. 6, Art. 8, Art. 20 Abs. 3

 

Leitsatz

1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Fällen, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es besteht kein Anlass daran zu zweifeln, dass auch nach dem neuen Ausweisungsrecht zur Abschreckung potentieller Täter eine generalpräventive Ausweisung rechtmäßig und erfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.      (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
4. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Dabei ist die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien aber nicht abschließend.(Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Befristung nach § 11 AufenthG bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 20. Februar 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er hat keinen Anspruch auf Verkürzung der Einreise- und Aufenthaltssperre (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Die in Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 20. Februar 2019 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch die Beklagte getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten kommt dem Kläger ein erhöhter Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu, da er keiner der dort genannten Personengruppen angehört.
a) Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Es besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger bei einem Verbleib im Bundesgebiet die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht, insbesondere im Bereich der Körperverletzungsdelikte. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, vor allem für die körperliche Unversehrtheit anderer und damit für eines der nach der Werteordnung höchsten Rechtsgüter. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe. So hat der Kläger seit dem Jahr 2015 und massiv im Jahr 2017 überwiegend unter Alkohol- und Drogeneinfluss zahlreiche Straftaten begangen, vor allem im Bereich der Körperverletzungsdelikte. Der Kläger wurde zuletzt vom Amtsgericht M. mit Urteil vom … Juni 2018 wegen Vortäuschen einer Straftat und versuchter gefährlicher Körperverletzung mit fahrlässiger Körperverletzung rechtlich zusammentreffend mit sieben tateinheitlichen Fällen der Bedrohung sowie einer Bedrohung mit zwei zusammentreffenden Fällen der Beleidigung, mit zwei zusammentreffenden Fällen der versuchten Körperverletzung und einer gefährlichen Körperverletzung sowie einer vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Eine Schuldunfähigkeit hat das Amtsgericht M. entgegen den Angaben des Klägerbevollmächtigten nicht angenommen. Das Verhalten des Klägers ist insbesondere unter Alkohol- und Drogeneinfluss fremdgefährdend, so dass eine erhebliche Gefahr dahingehend besteht, dass der Kläger, vor allem bei entsprechender Intoxikation, erneut die körperliche Unversehrtheit anderer schwerwiegend beeinträchtigt.
In Fällen wie dem vorliegenden, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 14.3.2019 – 19 CS 17.1784 – juris). Zwar befindet sich der Kläger derzeit aufgrund einer Unterbringung im Maßregelvollzug in Therapie, in der dem Kläger nach anfänglichen Schwierigkeiten, insbesondere im Bereich der Selbstreflexion, zuletzt ein positiver Behandlungsverlauf ohne Rückfälle bescheinigt wurde. Die Therapie ist jedoch weder abgeschlossen noch hat sich der Kläger außerhalb der geschützten Situation des Maßregelvollzugs bislang über eine gewisse Zeit in Freiheit bewährt. Dass der Kläger nach seiner Entlassung über einen Wohnraum und eine Arbeitsstelle in der Firma seiner Schwester verfügt, ändert an der nach wie vor bestehenden Wiederholungsgefahr nichts.
Zudem bestehen generalpräventive Gründe für die Ausweisung. Der Gesetzgeber hat – in Anknüpfung an die seit § 10 AuslG 1965 ununterbrochen bestehende Rechtslage – in der Gesetzesbegründung zur Neufassung des Ausweisungsrechts auch ausdrücklich die Maßgeblichkeit generalpräventiver Erwägungen unterstrichen (vgl. BT-Drs 18/4097, S. 49), soweit nicht die in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten Personengruppen, zu denen der Kläger nicht gehört (s.o.), betroffen sind. Angesichts dieses klar zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willens, an der Möglichkeit einer generalpräventiv begründeten Ausweisung entsprechend der bisherigen Rechtslage festzuhalten, besteht kein Anlass daran zu zweifeln, dass auch nach dem neuen Ausweisungsrecht eine generalpräventive Ausweisung rechtmäßig ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 10, BayVGH, B.v. 19.9.2016 – 19 CS 15.1600 – juris Rn. 34). Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass – über eine ggf. erfolgte strafrechtliche Sanktion hinaus – ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06; B.v. 22.8.2000 – 2 BvR 1363/2000 – juris). Es liegt vorliegend im öffentlichen Interesse, die vom Kläger begangenen Delikte mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Es soll anderen Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Verstöße mit der Aufenthaltsbeendigung mit einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot bedacht werden. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen. Die konsequente Ahndung ist geeignet, unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen Delikten wie den vom Kläger verwirklichten generalpräventiv vorzubeugen.
b) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
Im Fall des Klägers besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Denn er wurde mit Urteil des Amtsgerichts M. vom … Juni 2018 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem besteht auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist. Der Kläger wurde mit Urteil des Amtsgerichts M. vom … Juni 2018 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Erfolgt die Verurteilung in Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) aufgrund von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasster Taten und anderweitiger Taten, so muss die einbezogene von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasste Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben. Aus den Urteilsgründen, insbesondere den Strafzumessungserwägungen, müssen die Einsatzstrafen erkennbar sein. Nur auf diese Weise kann zweifelsfrei darauf geschlossen werden, dass die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfassten Taten das Mindeststrafmaß von einem Jahr erfüllen (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt/ Bauer/Dollinger, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 54 AufenthG Rn. 10 i.V.m. Rn. 9). Für die vom Kläger am … Juni 2017 mit Gewalt begangene gefährliche Körperverletzung wurde im Strafurteil vom … Oktober 2018 eine Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet.
Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Klägers. Die Ausweisung ist angesichts der Gesamtumstände und unter Berücksichtigung der Anforderungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
Angesichts der vom Kläger begangenen Straftaten, insbesondere der unter dem Einfluss von Alkohol und Betäubungsmitteln begangenen Gewaltdelikte, sowie der von ihm weiterhin ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr ist es für den Kläger zumutbar, in sein Heimatland zurückzukehren. Der Kläger ist nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Er ist erst im Jahr 2013 im Alter von über 25 Jahren im Wege des Ehegattennachzugs in das Bundesgebiet eingereist. Der Kläger ist in Marokko geboren, hat dort nach eigenen Angaben bis zur 9. Klasse die Schule besucht und anschließend als Fahrer gearbeitet. Er hat daher seine prägenden Jugendjahre in Marokko verbracht. Den Kläger erwarten somit im Fall einer Rückkehr nach Marokko weder unüberbrückbare sprachliche noch kulturelle Hürden, so dass ihm insoweit eine Reintegration problemlos möglich sein wird. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine Berufsausbildung verfügt. Während seines gut fünfjährigen Aufenthalts in Deutschland bis zu seiner Inhaftierung am 28. Dezember 2017 hat der Kläger mit Unterbrechungen in zahlreichen unterschiedlichen Jobs, auch in Form geringfügiger Beschäftigung, gearbeitet und war vor seiner Inhaftierung vier Monate arbeitslos. Dem Umstand, dass der Kläger nach der Haftentlassung in der Firma seiner Schwester als „E.“ arbeiten könnte, kann insoweit kein entscheidendes Gewicht zukommen. Die Ehe, aufgrund derer der Kläger sein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben hat, ist mittlerweile kinderlos geschieden. Der Kläger hat somit im Bundesgebiet keine eigene Kernfamilie. Familiäre Beziehungen im Bundesgebiet hat er lediglich zu seinen drei erwachsenen Schwestern, zu denen er den Kontakt aber auch von Marokko aus über Telekommunikationsmittel und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten kann. Zudem besteht auch die Möglichkeit der Erteilung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG). In Marokko ist der Kläger auch nicht auf sich allein gestellt. Vielmehr leben dort seine Eltern, zu denen nach eigenen Angaben ein guter Kontakt besteht, und sein Bruder. Die Eltern können den Kläger auch bei der Durchführung evtl. notwendiger weiterer Therapiemaßnahmen psychisch wie auch finanziell unterstützen, nachdem sie sogar in der Lage waren, dem Kläger eine Privatschule zu finanzieren und ihn regelmäßig in Deutschland zu besuchen.
Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger begangenen Taten und insbesondere der von ihm ausgehenden erheblichen Gefahr für Leib und Leben anderer, fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
2. Die in der Klage gegen die Ausweisungsverfügung regelmäßig als „Minus“ enthaltene Verpflichtungsklage auf Verkürzung der Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 AufenthG bleibt ebenfalls ohne Erfolg (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Das Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot ist von Amts wegen zu befristen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll in diesem Fall zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf zuletzt sechs Jahre unter der Bedingung der Straf-, Drogen- und Alkoholfreiheit, anderenfalls auf acht Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers, insbesondere zu seinen Schwestern, berücksichtigt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Wiederholungsgefahr ist auch unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers eine Frist von sechs Jahren unter o.g. Bedingungen, anderenfalls von acht Jahren, nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
3. Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft bzw. Unterbringung ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft bzw. der Unterbringung entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben