Aktenzeichen 1 Ausl AR 44/17
StPO § 116
StGB § 222
Leitsatz
1. Angaben des ersuchenden Staates zu den Umständen einer Abwesenheitsentscheidung werden durch lediglich pauschales Bestreiten des Verfolgten nicht in Frage gestellt. (Rn. 23 – 24)
2. Entscheidungen des ersuchenden Staates in einem Bewährungswiderrufsverfahren sind von § 83 IRG nicht erfasst. (Rn. 25)
3. Die allgemeine Zusicherung der bulgarischen Behörden vom 13.08.2015 hinsichtlich der teilweise unzureichenden Haftbedingungen in der Republik Bulgarien, dass ausgelieferte Personen den Anforderungen des Art. 3 EMRK und den europäischen Mindestnormen entsprechend untergebracht werden, ist völkerrechtlich verbindlich und solange zu beachten, als nicht im Einzelfall eine zusicherungswidrige Unterbringung einer ausgelieferten Person konkret belegt ist. Einer individuellen Zusicherung bedarf es darüber hinausgehend nicht. (Rn. 26)
Tenor
I. Die Auslieferung des Verfolgten aus der Bundesrepublik Deutschland nach Bulgarien zur Strafvollstreckung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl der Regionalen Staatsanwaltschaft Pleven vom 04.04.2013 (Az.: R-1057/2010) bezeichneten Taten und deswegen ergangener Urteile des Regionalen Gerichts Pleven vom 28.04.2010 (Offizialstrafsache Nr. 347/2003) in Verbindung mit dem Beschluss Nr. 298 des Kreisgerichts Pleven vom 14.07.2010 (Offizialstrafsache Nr. 347/2010) sowie des Regionalen Gerichts Pleven vom 16.05.1994 (Offizialstrafsache Nr. 47/1994) in Verbindung mit dem Beschluss Nr. 1772 des Regionalen Gerichts Pleven vom 23.11.2010 (Privatstrafsache Nr. 2452/2010) und mit dem Beschluss Nr. 69 des Kreisgerichts Pleven vom 19.03.2012 (Berufungsprivatstrafsache Nr. 12/12), mit denen der Verfolgte rechtskräftig zu Freiheitsstrafen von 2 Jahren, die noch in voller Höhe zu vollstrecken sind, sowie von 3 Jahren, die ebenfalls noch in voller Höhe zu vollstrecken sind, verurteilt worden ist, wird für zulässig erklärt.
II. Die Fortdauer der vorläufigen Auslieferungshaft als Auslieferungshaft wird angeordnet.
Gründe
I.
Der Verfolgte wurde am 20.10.2017 aufgrund einer SIS-Ausschreibung der bulgarischen Behörden vorläufig festgenommen. Deren Grundlage ist ein Europäischer Haftbefehl der Regionalen Staatsanwaltschaft Pleven vom 04.04.2013 (Az.: R-1057/2010). Danach wurde der Verfolgte ausweislich des nachvollziehbaren detaillierten Strafregisterauszugs des Bezirksgerichts Levski vom 28.11.2017 durch Urteile
1. des Regionalen Gerichts Pleven vom 28.04.2010 (Offizialstrafsache Nr. 347/2003) in Verbindung mit dem Beschluss Nr. 298 des Kreisgerichts Pleven vom 14.07.2010 (Offizialstrafsache Nr. 347/2010) sowie
2. des Regionalen Gerichts Pleven vom 16.05.1994 (Offizialstrafsache Nr. 47/1994) in Verbindung mit dem Beschluss Nr. 1772 des Regionalen Gerichts Pleven vom 23.11.2010 (Privatstrafsache Nr. 2452/2010) und mit dem Beschluss Nr. 69 des Kreisgerichts Pleven vom 19.03.2012 (Berufungsprivatstrafsache Nr. 12/12)
Jeweils rechtskräftig zu Freiheitsstrafen von 2 Jahren, die noch in voller Höhe zu vollstrecken sind, sowie von 3 Jahren, die ebenfalls noch in voller Höhe zu vollstrecken sind, verurteilt.
Diesen Verurteilungen liegen folgende Taten zugrunde:
1. Der Verfolgte hat in der Nacht vom 30.08.1994 auf den 31.08.1994 gemeinschaftlich handelnd mit … gegen deren Willen mit der Geschädigten M2. N3. I. und unter Ausnutzung deren hilfloser Lage den Geschlechtsverkehr vollzogen. Wegen der näheren Einzelheiten nimmt der Senat auf die detaillierte Schilderung der Tat in vorgenanntem Europäischen Haftbefehl unter e) Bezug.
Dies ist strafbar nach Art. 152 Abs. 3 P. 1 i.V.m. Abs. 1 P. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 des bulgarischen Strafgesetzbuches als Vergewaltigung.
2. Der Verfolgte war am 27.09.1992 in der Nähe des Dorfes Z., Gemeinde P., Führer eines Kraftfahrzeugs der Marke … mit dem polizeilichen Kennzeichen Nr. …, ohne im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein, und verursachte in betrunkenem Zustand den Tod von …
Dies ist nach Art. 343 Abs. 2b i.V.m. Abs. 1b i.V.m. Art. 342 Abs. 1 des bulgarischen Gesetzbuches strafbar als fahrlässige Tötung.
Bei seiner Anhörung durch den Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Regensburg am 21.10.2017 hat sich der Verfolgte mit seiner vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt. Auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes hat er nicht verzichtet. Der Ermittlungsrichter hat am gleichen Tage eine Festhalteanordnung nach § 22 Abs. 3 IRG erlassen.
Der Senat hat mit Beschluss vom 27.10.2017 die vorläufige Auslieferungshaft angeordnet.
Auch bei seinen nach Eingang des Europäischen Haftbefehls vom 04.04.2013 am 15.11.2017 und nach Eingang des Strafregisterauszugs des Bezirksgerichts Levski vom 28.11.2017 am 05.12.2017 erneut erfolgten Anhörungen durch den Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Nürnberg hat sich der Verfolgte weder mit seiner vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt noch auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg beantragt nunmehr mit Schreiben vom 07.12.2017, gegen den Verfolgten Auslieferungshaft nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG anzuordnen und die Auslieferung des Verfolgten aus der Bundesrepublik Deutschland nach Bulgarien zur Strafvollstreckung für zulässig zu erklären. Am gleichen Tage hat sie einen Bescheid erlassen, dass nicht beabsichtigt ist, Bewilligungshindernisse nach § 83 b IRG geltend zu machen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des genannten Schreibens und die Gründe des genannten Bescheides verwiesen.
Der Beistand Rechtsanwalt Dr. R. hat mit Schreiben vom 29.11.2017 und vom 04.12.2017 Stellung genommen, der Beistand Rechtsanwalt N2. in den Anhörungen vor dem Ermittlungsrichter am 15.11.2017 und am 05.12.2017. Auf den Inhalt der vorgenannten Schreiben und Anhörungsprotokolle nimmt der Senat ebenfalls Bezug.
Eine weitere Akteneinsicht wie im Schreiben vom 04.12 2017 beantragt war dem Beistand Dr. R. nicht zu gewähren. Nachdem ihm zuletzt Ende November 2017 die Akten übersandt worden waren, ist seitens der bulgarischen Behörden nurmehr der Strafregisterauszug des Bezirksgerichts Levski vom 28.11.2017 eingegangen, der dem Verfolgten und dem Beistand Rechtsanwalt N2. bei der ermittlungsrichterlichen Anhörung am 05.12.2017 eröffnet worden ist. Auf die Anträge der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg vom 07.12.2017 hat sich der Beistand Rechtsanwalt Dr. R. nicht mehr geäußert. Auch der Beistand Rechtsanwalt N2. gibt nach fernmündlicher Mitteilung vom 22.12.2017 keine Stellungnahme mehr ab.
II.
Für die nach §§ 17, 29 ff. IRG zu treffenden Entscheidungen ist der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Nürnberg örtlich und sachlich zuständig (§§ 13, 14 Abs. 1 IRG).
Den Anträgen der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg ist zu folgen.
1. Die von den bulgarischen Behörden betriebene Auslieferung zur Strafvollstreckung ist zulässig.
a) Die Auslieferung nach Bulgarien als Mitgliedsstaat der Europäischen Union richtet sich nach dem Rahmenbeschluss des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten (RbEuHB) i. V. m. dem Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG).
b) Der vorliegende Europäische Haftbefehl enthält zusammen mit den nachgereichten Unterlagen alle nach § 83 a Abs. 1 Nr. 1 bis 6 IRG erforderlichen Angaben.
c) Die beiderseitige Strafbarkeit (Vergewaltigung ist “Katalogtat“; fahrlässige Tötung ist nach deutschem Recht strafbar nach § 222 StGB) ist gegeben (§ 3 Abs. 1 IRG). Die Auslieferung wird hinsichtlich der Vollstreckung zweier Freiheitsstrafen begehrt, die die Dauer von vier Monaten jeweils übersteigen (§§ 81 Nr. 2, 3 Abs. 3 IRG).
d) Umstände, die zu Bewilligungshindernissen im Sinn von § 83b IRG führen könnten, sind nicht zu ersehen.
(1) Die gemäß § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG zu überprüfende Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, kein Bewilligungshindernis nach § 83b Abs. IRG geltend zu machen, weist keinen Rechtsfehler auf. Bei dieser Überprüfung ist zu beachten, dass nach § 79 Abs. 1 IRG grundsätzlich eine Pflicht zur Bewilligung zulässiger Auslieferungsersuchen besteht und der Bewilligungsbehörde selbst bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen ein weites, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares Ermessen eingeräumt ist (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2008, 376). Erforderlich ist hierfür, dass die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Senat die gebotene Überprüfung ermöglicht, ob die Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 83b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommender Umstände des Einzelfalles bewusst war.
(2) Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat die Generalstaatsanwaltschaft das Vorliegen von Bewilligungshindernissen nach § 83b Abs. 1 und 2 IRG mit sehr ausführlicher und sehr sorgfältiger Begründung zutreffend verneint. Insbesondere hatte der Verfolgte, bulgarischer Staatsangehöriger, im Bundesgebiet vor seiner Inhaftierung weder einen gemeldeten Wohnsitz nach war er hier einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen. Der deutschen Sprache ist er nicht hinreichend mächtig. Die der Auslieferung zugrunde liegenden Straftaten hat er in Bulgarien begangen, nicht jedoch in der Bundesrepublik Deutschland. Somit ist kein überwiegendes schutzwürdiges Interesse des Verfolgten an einer Strafvollstreckung in der Bundesrepublik Deutschland ersichtlich.
e) Ebenso wenig bestehen sonstige Auslieferungshindernisse.
(1) Der Auslieferung steht nicht das Hindernis zu beachtender Abwesenheitsentscheidungen entgegen.
(aa) Der Verfolgte war ausweislich der Angaben des Europäischen Haftbefehls unter d) zur Hauptverhandlung in der Offizialstrafsache Nr. 347/2003 (später: Nr. 347/2010) ordnungsgemäß geladen worden, ist zunächst auch dort erschienen, dann aber geflüchtet; er wurde von einem von ihm beauftragten Rechtsanwalt vertreten (§ 83 Abs. 2 Nr. 1 und 3 IRG). Diese im Rahmen eines förmlichen Auslieferungsersuchens gemachten konkreten Angaben der bulgarischen Behörden zieht der Senat auch angesichts der gegenteiligen, jedoch lediglich pauschalen Behauptungen des Verfolgten nicht in Zweifel.
(bb) Hinsichtlich der Offizialstrafsache Nr. 47/1994 macht der Verfolgte geltend, dass in Bulgarien sein rechtliches Gehör verletzt worden sie, da er von dem Bewährungswiderrufsverfahren keine Kenntnis gehabt habe. Das ist unbehelflich. § 83 IRG benennt als etwaig unzulässige Abwesenheitsentscheidungen nämlich nur (in einem Erkenntnisverfahren ergangene) Urteile, umfasst also nicht auch Beschlüsse jeglicher Art wie vorliegend einen erst im Vollstreckungsverfahren erlassenen Widerrufsbeschluss. Für einen Widerrufsbeschluss findet diese Norm deshalb keine Anwendung (vgl. Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 14.03.2012, Az.: 1 Ausl 4/12; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. § 83 Rn. 7; Meyer in: Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 1. Aufl. Rn. 2 903). Im Übrigen kann auch nach deutschem Recht eine Anhörung eines Verurteilten vor Erlass einer Bewährungswiderrufsentscheidung unterbleiben, wenn sie unmöglich ist, weil er flüchtig ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. § 453 Rn. 6 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Einer weiteren Sachaufklärung durch den Senat bedarf es unter diesen Umständen schon vom Ansatz her nicht.
(2) Der Zulässigkeit der Auslieferung stehen schließlich auch die teilweise unzureichenden Haftbedingungen in der Republik Bulgarien nicht entgegen. Da das bulgarische Justizministerium mit Schreiben vom 13.08.2015 eine dem Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie den europäischen Mindestnormen entsprechende Unterbringung von nach Bulgarien ausgelieferten Personen allgemein zugesichert hat, sofern die Auslieferungsbewilligung mit einer entsprechenden Bedingung verknüpft wird, ist die vorherige Einholung einer individuellen Zusicherung der bulgarischen Behörden nicht erforderlich. Die Zusicherung des bulgarischen Justizministeriums vom 13.8.2015 ist völkerrechtlich verbindlich und deshalb jedenfalls solange zu beachten, als nicht im Einzelfall eine zusicherungswidrige Unterbringung einer ausgelieferten Person konkret belegt ist. Das ist bislang nicht der Fall.
2. Die Anordnung der Auslieferungshaft ist erforderlich (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG), weil die Gefahr besteht, dass sich der Verfolgte, auf freien Fuß gesetzt, angesichts der erheblichen Dauer der noch zu vollstreckenden Freiheitsstrafen dem Auslieferungsverfahren entziehen wird. Der Verfolgte verfügt im Bundesgebiet über keine tragfähigen sozialen Beziehungen. Insbesondere ist er ein bulgarischer Staatsangehöriger, der im Bundesgebiet vor seiner Inhaftierung weder einen gemeldeten Wohnsitz hatte noch hier einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen war. Der deutschen Sprache ist er nicht hinreichend mächtig.
Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehles nach § 25 Abs. 2 IRG, § 116 StPO kommt nach Sachlage nicht in Betracht; der Zweck der Auslieferungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden.