Europarecht

Anspruch gesetzlicher Krankenkassen auf Information zu Risikobewertungen von Medizinprodukten

Aktenzeichen  3 C 2/20

Datum:
14.7.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:140721U3C2.20.0
Spruchkörper:
3. Senat

Leitsatz

Der Anspruch auf Informationen und Auskünfte zu durchgeführten Risikobewertungen nach § 22 Abs. 3 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) erstreckt sich nicht auf Daten und Unterlagen, die die zuständige Bundesoberbehörde im Verfahren der Risikobewertung nicht angefordert oder sonst herangezogen hat und die für das Ergebnis der Risikobewertung nicht relevant sind.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 19. November 2019, Az: 13 A 1326/17, Urteilvorgehend VG Köln, 4. April 2017, Az: 7 K 132/16, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. November 2019 geändert. Die Berufungen der Klägerinnen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 4. April 2017 werden zurückgewiesen.
Die Revisionen der Klägerinnen werden zurückgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu je 1/16.

Tatbestand

1
Die Klägerinnen, gesetzliche Krankenkassen, begehren von der Beklagten die Übermittlung einer dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte – im Folgenden: BfArM – vorliegenden Liste mit Krankenhäusern, die von der Beigeladenen mit Hüftendoprothesen beliefert wurden.
2
Die Beigeladene ist die deutsche Vertriebsgesellschaft eines Medizinprodukteherstellers mit Hauptsitz in der Schweiz. Sie vertrieb im Bundesgebiet seit dem Jahr 2003 bis etwa ins Jahr 2012 das Hüftimplantat-System mit der Bezeichnung “Durom/Metasul LDH-Großkugelkopfsystem”. Im Jahr 2010 empfahl das BfArM nach einer Risikobewertung einen Anwendungsstopp für das gesamte System. Das Regierungspräsidium Freiburg teilte dem BfArM im Oktober 2012 mit, es habe im Rahmen seiner Überwachung der Beigeladenen die Verkaufszahlen aller Durom-Metasul-Komponenten nachvollzogen. Im November 2012 übersandte das Regierungspräsidium dem BfArM eine Kundenliste der Beigeladenen einschließlich der jeweiligen Verkaufszahlen aller Komponenten seit dem Inverkehrbringen 2003 bis zum Jahr 2012. Aus der Liste gehen die Kliniken hervor, die von der Beigeladenen das Durom/Metasul-System bezogen hatten. Auf einen Erlass des Bundesministeriums für Gesundheit mit der Bitte um eine aktuelle Risikoeinschätzung berichtete das BfArM im Januar 2014, es lägen 262 Meldungen für das Großkopfprothesensystem der Beigeladenen vor. Auf Basis des bei ihm dokumentierten Vorkommnisgeschehens ließen sich keine weiteren Maßnahmeempfehlungen nach der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (MPSV) ableiten, die über die Empfehlungen von 2010 hinausgingen.
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Im Mai 2015 beantragten die Klägerinnen beim BfArM, ihnen die Kundenliste zu übermitteln. Zur Begründung stützten sie sich insbesondere auf § 22 Abs. 3 MPSV. Sie seien auf die begehrte Information angewiesen, um Patienten, die von schadhaften Hüftprothesen betroffen seien, beraten und mögliche Regressansprüche ermitteln zu können. Das BfArM lehnte die Anträge mit Bescheiden vom 21. Oktober 2015 ab. Aus § 22 Abs. 3 MPSV ergebe sich kein Auskunftsanspruch. Die Kundenliste stehe in keinem Zusammenhang mit dem durchgeführten Risikobewertungsverfahren. Sie sei vom Regierungspräsidium Freiburg unaufgefordert übersandt worden. Der Anspruch lasse sich auch weder aus dem Informationsfreiheitsgesetz noch aus den Amtshilfevorschriften ableiten. Bei der Kundenliste handele es sich um ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, in dessen Offenlegung die Beigeladene nicht eingewilligt habe. Eine analoge Anwendung von § 84a Abs. 2 AMG scheide mangels planwidriger Regelungslücke aus.
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Die nach erfolglosen Widerspruchsverfahren erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht Köln durch Urteil vom 4. April 2017 abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 19. November 2019 die erstinstanzliche Entscheidung geändert und die Beklagte verpflichtet, über die Anträge auf Übermittlung der Kundenliste unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts neu zu entscheiden. Die weitergehenden Berufungen der Klägerinnen hat es zurückgewiesen. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Der auf Verpflichtung der Beklagten zur Übermittlung der Kundenliste gerichtete Hauptantrag sei unbegründet. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 22 Abs. 3 MPSV seien zwar erfüllt. Die Kundenliste sei eine Information im Sinne der Regelung. Sie stehe in ausreichendem Zusammenhang mit der Risikobewertung, die das BfArM zu dem Großkugelkopfsystem der Beigeladenen durchgeführt habe. Sie sei dem BfArM nicht zufällig und ohne sachlichen Bezug zur Risikobewertung übersandt worden, sondern im Rahmen des behördlichen Informationsaustausches. Das Anliegen der Klägerinnen, mit Hilfe der Liste etwaige Regressansprüche nach § 116 Abs. 1 SGB X zu ermitteln, sei ein berechtigtes Interesse im Sinne von § 22 Abs. 3 MPSV. Die Beklagte könne jedoch wegen fehlender Spruchreife nicht zur Übermittlung der Kundenliste verpflichtet werden. Das dem BfArM nach § 22 Abs. 3 MPSV eingeräumte Ermessen sei nicht auf Null reduziert. Der Auskunftsanspruch ergebe sich auch nicht aus den Amtshilfevorschriften oder einer entsprechenden Anwendung von § 84a AMG. Die Klägerinnen hätten aber einen Anspruch auf Neubescheidung ihrer Anträge, weil die Beklagte ihr Ermessen bislang nicht betätigt habe. Im Rahmen der nachzuholenden Ermessensausübung sei das Auskunftsinteresse der Klägerinnen mit dem Geheimhaltungsinteresse der Beigeladenen abzuwägen. Die Kundenliste sei ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis.
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Dagegen haben die Klägerinnen und die Beklagte jeweils die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt.
6
Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend: Das angefochtene Urteil beruhe auf der Verletzung von § 22 Abs. 3 MPSV und § 40 VwVfG. Sie könnten ihren Auskunftsanspruch auch darauf stützen, einen Beitrag zur Risikoverringerung und damit zum Gesundheitsschutz zu leisten. Da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 22 Abs. 3 MPSV erfüllt seien, bedürfe es wegen des intendierten Ermessens besonderer Gründe, damit das BfArM von der begehrten Informationsübermittlung absehen dürfe. Solche Gründe bestünden nicht. Die Kundenliste sei kein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis der Beigeladenen. Sie beziehe sich auf einen weit zurückliegenden Zeitraum und enthalte keine Informationen mit aktueller Wettbewerbsrelevanz. Zudem stünden sie nicht im Wettbewerb mit der Beigeladenen. Die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts zu den Ermessenserwägungen für die Neubescheidung ihrer Anträge erweise sich danach gleichfalls als bundesrechtswidrig.
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Die Änderung der Rechtslage durch die am 26. Mai 2021 in Kraft getretene Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung (MPAMIV) und das gleichzeitige Außerkrafttreten der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung lasse ihren Auskunftsanspruch nicht entfallen. Die Auslegung der MPAMIV ergebe, dass § 22 Abs. 3 MPSV auf den Streitfall weiter Anwendung finde. Dafür spreche auch das Verbot rückwirkender Gesetze, auf das sie sich ungeachtet ihrer fehlenden Grundrechtsfähigkeit berufen könnten. Für den Fall der Unanwendbarkeit von § 22 Abs. 3 MPSV folge ein entsprechender Informationsanspruch jedenfalls aus Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte. Die Kundenliste der Beigeladenen sei eine Information oder Unterlage, die für den Nachweis der Konformität des Produkts erforderlich sei. Dies belegten die nach der Verordnung bestehenden Dokumentationspflichten der Hersteller zum Nachweis der Konformität, die auch Kundenlisten umfassten. Zudem spreche der Regelungszweck für dieses Verständnis. Hilfsweise stützten sie ihr Auskunftsbegehren auf § 1 Abs. 1 Satz 1 IFG.
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Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Revision im Wesentlichen vor: Das Oberverwaltungsgericht habe die Voraussetzungen des § 22 Abs. 3 MPSV zu Unrecht bejaht. Die Klägerinnen gehörten nicht zum Kreis der anspruchsberechtigten Körperschaften. Die Kundenliste sei auch keine Information oder Auskunft im Sinne der Vorschrift. Das Oberverwaltungsgericht überschreite die Auslegungsgrenze, soweit es das BfArM zur Auskunft an Dritte über Informationen für berechtigt und verpflichtet halte, die in keinem Zusammenhang mit dem Verfahren und dem Ergebnis der Risikobewertung stünden. Eine Neubescheidung auf der Grundlage von § 22 Abs. 3 MPSV komme nach dessen Außerkrafttreten nicht mehr in Betracht. Die Klägerinnen könnten den geltend gemachten Anspruch auch nicht aus § 10 MPAMIV, dem Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz oder der unionsrechtlichen Medizinprodukte-Verordnung herleiten.
9
Die Beigeladene unterstützt die Revision der Beklagten und tritt den Revisionen der Klägerinnen entgegen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet, die zulässigen Revisionen der Klägerinnen sind unbegründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit es den Klagebegehren entsprochen hat. Die gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthaften (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 2020 – 6 C 10.19 – NVwZ 2021, 80 Rn. 12 m.w.N.) und auch im Übrigen zulässigen Verpflichtungsklagen sind unbegründet. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Übermittlung der Kundenliste oder auf eine Neubescheidung ihrer Anträge. Das führt zur Zurückweisung ihrer Revisionen (§ 144 Abs. 2 VwGO) sowie dazu, dass das angefochtene Urteil zu ändern ist und ihre Berufungen gegen das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang zurückzuweisen sind (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
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1. Maßgeblich für die Beurteilung des Auskunftsbegehrens ist die Rechtslage nach dem Geltungsbeginn der Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte (ABl. L 117 S. 1) i.d.F. der Verordnung (EU) 2020/561 vom 23. April 2020 (ABl. L 130 S. 18) – im Folgenden: Verordnung (EU) 2017/745 – am 26. Mai 2021 (Art. 123 Abs. 2 der Verordnung 2017/745) und der hierauf bezogenen Anpassung des nationalen Rechts durch das Gesetz zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften betreffend Medizinprodukte (Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz – MPDG) vom 28. April 2020 (BGBl. I S. 960) i.d.F. des Gesetzes vom 12. Mai 2021 (BGBl. I S. 1087) sowie die Verordnung zur Anpassung des Medizinprodukterechts an die Verordnung (EU) 2017/745 und die Verordnung (EU) 2017/746 (Medizinprodukte-EU-Anpassungsverordnung – MPEUAnpV) vom 21. April 2021 (BGBl. I S. 833). Diese Rechtsänderung ist im Revisionsverfahren zu beachten, weil das Berufungsgericht, entschiede es anstelle des Revisionsgerichts, sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (vgl. BVerwG, Urteile vom 5. Juli 2018 – 3 C 21.16 – Buchholz 442.09 § 11 AEG Nr. 5 Rn. 25 und vom 27. September 2018 – 7 C 5.17 – Buchholz 422.1 Presserecht Nr. 18 Rn. 23, jeweils m.w.N.). Danach ist § 22 Abs. 3 der Verordnung über die Erfassung, Bewertung und Abwehr von Risiken bei Medizinprodukten (Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung – MPSV) vom 24. Juni 2002 (BGBl. I S. 2131), die gemäß Art. 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 MPEUAnpV am 26. Mai 2021 außer Kraft getreten ist, hier nicht mehr anwendbar.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich die für die gerichtliche Entscheidung maßgebliche Rechtslage aus dem materiellen Recht, dem nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ermächtigungsgrundlage oder eines Anspruchs zu entnehmen sind, sondern aus dem auch abzuleiten ist, zu welchem Zeitpunkt diese Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Maßgeblich ist daher, welche Rechtsvorschriften sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung für die Beurteilung des Klagebegehrens Geltung beimessen (vgl. BVerwG, Urteile vom 31. März 2004 – 8 C 5.03 – BVerwGE 120, 246 m.w.N. und vom 16. September 2020 – 6 C 10.19 – NVwZ 2021, 80 Rn. 13). Dabei kann das gegenwärtig geltende Recht seinerseits ausdrücklich – durch Übergangsregelungen – oder stillschweigend bzw. konkludent auf früheres, außer Kraft getretenes Recht verweisen und dieses für anwendbar erklären (BVerwG, Urteile vom 3. November 1994 – 3 C 17.92 – BVerwGE 97, 79 und – 3 C 30.93 – Buchholz 418.15 Rettungswesen Nr. 2 S. 16 und vom 11. Oktober 2016 – 2 C 11.15 – BVerwGE 156, 180 Rn. 13 f.). Das gilt unabhängig von der Klageart (BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2002 – 3 C 54.01 – Buchholz 451.55 Subventionsrecht Nr. 103 S. 2 m.w.N. und vom 16. September 2020 – 6 C 10.19 – a.a.O.).
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b) Für Auskunftsbegehren ist in der Regel auf die Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen, wenn sich aus dem materiellen Recht – wie hier – kein Anhaltspunkt für einen abweichenden Zeitpunkt ergibt (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. März 1986 – 7 C 71.83 – BVerwGE 74, 115 , vom 3. September 1991 – 1 C 48.88 – BVerwGE 89, 14 , vom 22. März 2018 – 7 C 30.15 – Buchholz 404 IFG Nr. 26 Rn. 34, vom 27. September 2018 – 7 C 5.17 – Buchholz 422.1 Presserecht Nr. 18 Rn. 23 und vom 16. September 2020 – 6 C 10.19 – NVwZ 2021, 80 Rn. 14). Dementsprechend sind bei der Beurteilung des Auskunftsbegehrens der Klägerinnen die dargelegten Rechtsänderungen zu beachten, sofern das neue Recht nichts Anderes bestimmt. Durch seine Auslegung ist zu ermitteln, ob das Klagebegehren noch nach dem früheren Recht zu beurteilen ist (BVerwG, Urteil vom 11. Oktober 2016 – 2 C 11.15 – BVerwGE 156, 180 Rn. 13 f.).
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c) Das führt zur Nichtanwendbarkeit von § 22 Abs. 3 MPSV.
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aa) Gleichzeitig mit dem Außerkrafttreten der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung ist am 26. Mai 2021 die Verordnung über die Meldung von mutmaßlichen schwerwiegenden Vorkommnissen bei Medizinprodukten sowie zum Informationsaustausch der zuständigen Behörden (Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung – MPAMIV) vom 21. April 2021 (BGBl. I S. 833) in Kraft getreten (Art. 9 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 1 MPEUAnpV). Gemäß § 1 Satz 1 MPAMIV ist diese Rechtsverordnung anzuwenden auf Produkte im Anwendungsbereich der Verordnung (EU) 2017/745. Abweichend bestimmt § 1 Satz 2 MPAMIV für In-vitro-Diagnostika, dass für sie bis einschließlich 25. Mai 2022 die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung vom 24. Juni 2002 in der bis einschließlich 25. Mai 2021 geltenden Fassung anzuwenden ist. Diese Regelung beruht auf dem Geltungsbeginn der Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Diagnostika (ABl. L 117 S. 176) am 26. Mai 2022 (Art. 113 Abs. 2 der Verordnung 2017/746; vgl. die Begründung zur Medizinprodukte-EU-Anpassungsverordnung, BR-Drs. 177/21 S. 28). § 1 Satz 2 MPAMIV führt hier nicht zur Anwendbarkeit der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung. Bei dem Implantat-System der Beigeladenen, das Grundlage für das Auskunftsbegehren der Klägerinnen ist, handelt es sich nicht um ein Produkt im Sinne der Verordnung (EU) 2017/746 (vgl. Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie die Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 2 der Verordnung 2017/746).
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bb) Darüber hinaus existiert kein Übergangsrecht, aus dem sich eine weitere Anwendung der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung entnehmen lässt. Gemäß § 99 Abs. 1 Nr. 6 MPDG sind für Medizinprodukte und deren Zubehör im Sinne von § 3 Nr. 1, 2, 3 und 9 des Medizinproduktegesetzes in der bis einschließlich 25. Mai 2021 geltenden Fassung, die vor dem 26. Mai 2021 nach den die Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG umsetzenden nationalen Vorschriften rechtmäßig in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurden, die Vorschriften des Kapitels 7 des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes sowie der Rechtsverordnung nach § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 MPDG anzuwenden. § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. a und b MPDG ermächtigt das Bundesministerium für Gesundheit, im Einvernehmen mit den dort genannten Bundesministerien durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Regelungen über das Verfahren für Meldungen von mutmaßlichen schwerwiegenden Vorkommnissen, über die Unterrichtungs- und Informationspflichten sowie über den Informationsaustausch zwischen den zuständigen Behörden zu treffen. Von dieser Ermächtigung ist durch den Erlass der Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung Gebrauch gemacht worden (vgl. BR-Drs. 177/21 S. 21). § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 MPDG ersetzt die Verordnungsermächtigung des § 37 Abs. 7 des Medizinproduktegesetzes, auf dessen Grundlage die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung basiert (vgl. die Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung des Medizinprodukterechts an die Verordnung 2017/745 und die Verordnung 2017/746 , BT-Drs. 19/15620 S. 156).
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Danach gilt die Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung nicht allein für Medizinprodukte, die ab dem 26. Mai 2021 in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, sondern auch für davor rechtmäßig in den Verkehr gebrachte bzw. in Betrieb genommene Medizinprodukte (vgl. BT-Drs. 19/15620 S. 172).
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cc) Die Auslegung der Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung ergibt nichts Abweichendes. Der Abschnitt 2 der Verordnung, der überschrieben ist mit “Unterrichtungspflichten und Informationsaustausch der zuständigen Behörden; Veröffentlichung”, enthält u.a. Regelungen über den Informationsaustausch zwischen der zuständigen Bundesoberbehörde und den zuständigen Landesbehörden (§ 8 MPAMIV), über die Unterrichtung des Bundesministeriums für Gesundheit durch die zuständige Bundesoberbehörde (§ 9 MPAMIV) und über die Unterrichtung sonstiger Behörden, Organisationen und Stellen (§ 10 MPAMIV). Die Bestimmungen ersetzen die Vorschriften zu den Unterrichtungspflichten und zum Informationsaustausch im Abschnitt 5 der außer Kraft getretenen Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung (BR-Drs. 177/21 S. 19 und 27 f.). § 8 MPAMIV knüpft an die Regelung des § 20 MPSV an und § 9 MPAMIV übernimmt § 19 Satz 1 MPSV. § 10 Abs. 1 MPAMIV übernimmt und ergänzt die Regelung des § 22 Abs. 1 MPSV, § 10 Abs. 2 MPAMIV übernimmt die Regelung des § 22 Abs. 2 MPSV (BR-Drs. 177/21 S. 32 f.). Dagegen ist die Regelung des § 22 Abs. 3 MPSV nicht in die Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung übernommen worden. Anhaltspunkte, dass es sich hierbei um eine unbewusste Regelungslücke handeln würde, bestehen nicht.
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Ebenso wenig lässt sich aus dem Wortlaut der §§ 8 ff. MPAMIV, der Regelungssystematik und den Verordnungsmaterialien ableiten, dass der Verordnungsgeber stillschweigend von einer weiteren Anwendung des § 22 Abs. 3 MPSV auf Auskunftsbegehren ausgegangen ist, die im Zeitpunkt des Außerkrafttretens der Vorschrift noch nicht durch eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung beschieden waren. Auch der Regelungszweck der Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung spricht gegen eine weitere Anwendbarkeit des § 22 Abs. 3 MPSV. Die Verordnung dient der Durchführung der Verordnungen (EU) 2017/745 und 2017/746 und ergänzt die Regelungen des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes. Mit den Vorschriften in Abschnitt 2 der Verordnung sollen die Unterrichtungs- und Informationspflichten zwischen den zuständigen Behörden des Bundes und der Länder im Zusammenhang mit Meldungen über schwerwiegende Vorkommnisse, mutmaßliche schwerwiegende Vorkommnisse, Sicherheitskorrekturmaßnahmen im Feld und von sonstigen Erkenntnissen über Sicherheitsmängel von Produkten, einschließlich der Informationsmittel und -wege sowie Informationen zur Erreichbarkeit der zuständigen Behörden geregelt werden (BR-Drs. 177/21 S. 27 f.). Das entspricht den Vorgaben der Ermächtigung in § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 Buchst. b MPDG. Weiter hat der Verordnungsgeber bezweckt, dass die Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung mit ihrem Inkrafttreten die gleichzeitig außer Kraft tretende Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung ersetzt (BR-Drs. 177/21 S. 19). Er hat zugrunde gelegt, dass der Regelungsbereich der bisherigen Verordnung durch die ab dem 26. Mai 2021 geltende Verordnung (EU) 2017/745, das Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetz sowie die Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung erfasst sind (BR-Drs. 177/21 S. 45). Daraus ist zu entnehmen, dass die Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung ab dem 26. Mai 2021 nicht mehr anwendbar sein soll und eine Überleitungsvorschrift für § 22 Abs. 3 MPSV bewusst nicht geschaffen wurde. Bestätigt wird dieses Auslegungsergebnis dadurch, dass nach Art. 5 § 10 MPEUAnpV für den Regelungsbereich der Gebührenerhebung eine Übergangsvorschrift besteht.
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dd) Danach lässt sich die Anwendung des früheren Rechts auch nicht, wie von den Klägerinnen geltend gemacht, aus den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts herleiten. Diese Grundsätze beinhalten Auslegungsregeln zum anwendbaren Recht für den Fall des Fehlens von Übergangs- oder Überleitungsvorschriften (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. September 2011 – 3 C 38.10 – Buchholz 427.3 § 349 LAG Nr. 28 Rn. 12 und vom 25. Oktober 2017 – 1 C 21.16 – BVerwGE 160, 128 Rn. 18; OVG Lüneburg, Urteil vom 15. März 2006 – 10 LB 7/06 – juris Rn. 38; BSG, Urteil vom 24. März 2009 – B 8 SO 34/07 R – NVwZ-RR 2009, 812; BGH, Urteil vom 26. Januar 2009 – II ZR 260/07 – BGHZ 179, 249 Rn. 19). Ein solcher Fall liegt hier mit Blick auf die ausdrücklichen Regelungen zum anwendbaren Recht in § 99 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 MPDG, Art. 9 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 MPEUAnpV und § 1 MPAMIV nicht vor.
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d) Etwas Anderes folgt auch nicht aus den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und dem grundsätzlichen Verbot rückwirkender belastender Gesetze.
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aa) Ob sich die Klägerinnen ungeachtet ihrer fehlenden Grundrechtsberechtigung (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 9. Juni 2004 – 2 BvR 1248/03 u.a. – NVwZ 2005, 572 und vom 11. Dezember 2008 – 1 BvR 1665/08 – NVwZ-RR 2009, 361 Rn. 4 ff., jeweils m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 23. Februar 2011 – 8 C 53.09 – BVerwGE 139, 87 Rn. 57 f. m.w.N.) auf das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot berufen können – wofür viel spricht (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 2019 – 9 C 2.18 – BVerwGE 164, 212 Rn. 35; BSG, Urteil vom 30. Juli 2019 – B 1 A 2/18 R – juris Rn. 16; zur Geltung des Gleichheitssatzes und des Willkürverbots: BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 1967 – 1 BvR 578/63 – BVerfGE 21, 362 ; Kammerbeschluss vom 31. Januar 2008 – 1 BvR 2156/02 u.a. – BVerfGK 13, 276 m.w.N.; zum rechtsstaatlich verankerten Vertrauensschutz: BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Mai 1999 – 1 BvR 263/98 – NZA 1999, 815) -, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Denn die verfassungsrechtlichen Grenzen rückwirkender Gesetze sind hier nicht überschritten.
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bb) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit zwischen Gesetzen mit “echter” und mit “unechter” Rückwirkung zu unterscheiden. Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll (“Rückbewirkung von Rechtsfolgen”). Normen mit echter Rückwirkung sind verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 1 BvR 1679/17 u.a. – BVerfGE 155, 238 Rn. 129 m.w.N.). Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich eine nach altem Recht erreichte Position entwertet. Das ist etwa der Fall, wenn belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden (“tatbestandliche Rückanknüpfung”). Normen mit unechter Rückwirkung sind verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 1 BvR 1679/17 u.a. – a.a.O. Rn. 130 f. m.w.N.).
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cc) Ein Fall der echten Rückwirkung liegt nicht vor. Die Anwendbarkeit der Medizinprodukte-Anwendermelde- und Informationsverordnung und die Nichtanwendbarkeit des § 22 Abs. 3 MPSV auf Auskunftsbegehren, die wie im Fall der Klägerinnen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bzw. des Außerkrafttretens dieser Rechtsverordnungen am 26. Mai 2021 nicht bestandskräftig beschieden sind, begründen keinen ändernden Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt. Abgeschlossen ist der Sachverhalt erst, wenn über den geltend gemachten Auskunftsanspruch unanfechtbar entschieden worden ist oder sich der Antrag auf Auskunft auf andere Weise erledigt hat.
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dd) Die Rechtsänderung entfaltet auch keine unechte Rückwirkung, die die verfassungsrechtlichen Grenzen der Zulässigkeit überschreitet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 1 BvR 1679/17 u.a. – BVerfGE 155, 238 Rn. 125 und Rn. 132). Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerinnen auf den Fortbestand des § 22 Abs. 3 MPSV, das das Interesse des Gesetzgebers an der Rechtsänderung überwiegt, ist nicht ersichtlich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 1 BvR 1679/17 u.a. – a.a.O. Rn. 132 f.).
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Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen einer unechten Rückwirkung nicht vor. Von unechter Rückwirkung ist nicht schon auszugehen, wenn das neue Recht auf einen beliebigen, nach altem Recht begonnenen Sachverhalt einwirkt. Es muss vielmehr hinzukommen, dass eine rechtlich konturierte Situation entstanden ist, durch die sich die rechtliche Position der Betroffenen von der Situation bloß genereller Rechtsunterworfenheit abhebt (BVerfG, Beschluss vom 30. Juni 2020 – 1 BvR 1679/17 u.a. – BVerfGE 155, 238 Rn. 139). Das ist hier nicht der Fall. Die durch die Rechtsänderung bewirkte Nichtanwendbarkeit des § 22 Abs. 3 MPSV auf Auskunftsbegehren wie dasjenige der Klägerinnen entwertet keine Rechtsposition, weil sich der geltend gemachte Anspruch aus § 22 Abs. 3 MPSV nicht ergeben kann.
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Gemäß § 22 Abs. 3 MPSV dürfen Informationen und Auskünfte zu vorliegenden Meldungen, durchgeführten Risikobewertungen und korrektiven Maßnahmen auch an den Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und andere Organisationen, Stellen und Personen übermittelt werden, soweit von diesen ein Beitrag zur Risikoverringerung geleistet werden kann oder ein berechtigtes Interesse besteht. Die Klägerinnen begehren mit der Übermittlung der Kundenliste keine Information im Sinne dieser Vorschrift. Der Anspruch auf Auskunft zu einer durchgeführten Risikobewertung erstreckt sich nicht auf Daten und Unterlagen, die die zuständige Bundesoberbehörde im Verfahren der Risikobewertung nicht angefordert oder sonst herangezogen hat und die für das Ergebnis der Risikobewertung nicht relevant sind.
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(1) Mit der Formulierung “zu durchgeführten Risikobewertungen” nimmt § 22 Abs. 3 MPSV Bezug auf die Bestimmungen über die Risikobewertung in §§ 8 ff. MPSV. Gemäß § 8 Satz 1 MPSV hat die zuständige Bundesoberbehörde für alle ihr nach § 3 MPSV zu meldenden Vorkommnisse, Rückrufe und schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse, die ihr bekannt werden, eine Risikobewertung vorzunehmen. Ziel und Inhalt der Risikobewertung ist die Feststellung, ob ein unvertretbares Risiko vorliegt und welche korrektiven Maßnahmen geboten sind (§ 9 Satz 1 MPSV). Zur Erfüllung ihrer Aufgabe kann die Behörde alle für die Sachverhaltsaufklärung oder die Risikobewertung erforderlichen Informationen einholen (vgl. § 8 Satz 2, § 10 und § 11 Abs. 1 MPSV). Gemäß § 13 Satz 1 MPSV teilt sie das Ergebnis ihrer Risikobewertung dem Verantwortlichen nach § 5 des Medizinproduktegesetzes und der Person, die ihr das Vorkommnis oder schwerwiegende unerwünschte Ereignis gemeldet hat, sowie nach Maßgabe des § 20 MPSV den zuständigen Behörden mit. Damit ist die Risikobewertung durch die Bundesoberbehörde abgeschlossen (§ 13 Satz 2 MPSV).
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(2) Die Regelungssystematik der §§ 20 ff. MPSV lässt darauf schließen, dass mit dem Begriff “Informationen und Auskünfte zu durchgeführten Risikobewertungen” Informationen und Auskünfte zu dem Ergebnis der Risikobewertung gemeint sind.
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§ 22 Abs. 3 MPSV ist Teil des Abschnitts 5 der Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung, der überschrieben ist mit “Unterrichtungspflichten und Informationsaustausch”. § 20 MPSV regelt den Informationsaustausch zwischen der zuständigen Bundesoberbehörde und den zuständigen Landesbehörden. Gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MPSV informiert die zuständige Bundesoberbehörde über eingehende Meldungen von Vorkommnissen und Rückrufen sowie über den Abschluss und das Ergebnis der durchgeführten Risikobewertung. Ganz ähnlich heißt es in § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MPSV, dass sie über eingehende Meldungen von schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen, über den Abschluss und das Ergebnis der durchgeführten Risikobewertung informiert. Gemäß § 22 Abs. 1 und 2 MPSV unterrichtet die zuständige Bundesoberbehörde die dort genannten Bundesministerien, Behörden und Stellen über eingehende Meldungen von Vorkommnissen und Rückrufen sowie über den Abschluss und das Ergebnis der durchgeführten Risikobewertungen. § 22 Abs. 3 MPSV knüpft, wie die Verwendung des Wortes “auch” zum Ausdruck bringt, an den in § 22 Abs. 1 und 2 MPSV benannten Gegenstand der Information an. Daraus ist zu entnehmen, dass unter der Information oder Auskunft zu einer durchgeführten Risikobewertung nach § 22 Abs. 3 MPSV die Information oder Auskunft über das Ergebnis der Risikobewertung zu verstehen ist. Gestützt wird diese Auslegung durch § 21 Abs. 1 Satz 2 MPSV, der eine gleichlautende Formulierung enthält (“Informationen und Auskünfte zu vorliegenden Meldungen und durchgeführten Risikobewertungen”). Es ist nicht ersichtlich, dass der Verordnungsgeber mit den dargelegten Unterschieden der Formulierung in den §§ 20 ff. MPSV eine inhaltliche Differenzierung zum Ausdruck bringen wollte. Auch aus der Begründung zur Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung ergibt sich dafür kein Hinweis (vgl. BR-Drs. 337/02 S. 26 ff.).
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(3) Die Durchführung der Risikobewertung obliegt nach § 8 MPSV der zuständigen Bundesoberbehörde. Die Kriterien und Aspekte der Risikobewertung werden in der Verordnung nicht vorgegeben, um der Behörde eine am jeweiligen Einzelfall orientierte Vorgehensweise zu ermöglichen (BR-Drs. 337/02 S. 21). Als Herrin des Verfahrens prüft und entscheidet sie, welche Informationen, Auskünfte und Unterlagen sie für die Sachverhaltsaufklärung und die Risikobewertung benötigt. Dem widerspricht, den Auskunftsanspruch nach § 22 Abs. 3 MPSV auf Daten und Unterlagen zu erstrecken, die die zuständige Bundesoberbehörde selbst nicht für erforderlich gehalten hat und auf die das Ergebnis ihrer Risikobewertung nicht gestützt ist. Dass solche Daten und Unterlagen Bestandteil der Verfahrensakten sind, weil sie – wie hier – unaufgefordert zum Vorgang übersandt wurden, führt zu keiner anderen Beurteilung. § 22 Abs. 3 MPSV gewährt keinen Informationszugang im Sinne einer Akteneinsicht, wie er z.B. in § 29 VwVfG oder nach § 1 IFG vorgesehen ist. Eine Einsicht in die die Risikobewertung betreffenden Akten kann daher nach § 22 Abs. 3 MPSV nicht beansprucht werden.
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(4) Aus Sinn und Zweck der Regelung folgt nichts Abweichendes. Der nach § 22 Abs. 3 MPSV eingeräumte Anspruch auf Übermittlung von Informationen und Auskünften zu aufgetretenen Produktproblemen, deren Risikobewertung und durchgeführten Maßnahmen dient der Gewährleistung eines wirksamen Gesundheitsschutzes und der Interessenwahrung Betroffener, insbesondere betroffener Patienten (vgl. BR-Drs. 337/02 S. 28). Dieser Regelungszweck wird durch einen Auskunftsanspruch, der sich auf Informationen zum Ergebnis der Risikobewertung erstreckt, erreicht. Die zuständige Bundesoberbehörde hat bei ihrer Risikobewertung grundsätzlich die Kausalität zwischen dem festgestellten Mangel oder der Fehlfunktion und der beobachteten oder möglichen Schädigung zu beurteilen und das von dem Produkt ausgehende Risiko unter Berücksichtigung insbesondere der dem Mangel oder der Fehlfunktion zugrundeliegenden Ursache, der Häufigkeit der Anwendung des Produkts, der Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Schädigung, des Schweregrads der aufgetretenen oder möglichen Schädigung, des Anwenderkreises und der von dem Risiko betroffenen Personengruppen zu bewerten (vgl. BR-Drs. 337/02 S. 21 ). Damit erhalten betroffene Patienten und andere Auskunftsberechtigte durch das mitgeteilte Ergebnis der Risikobewertung Informationen, die geeignet sind, zur Risikoverringerung beizutragen und sie bei der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen.
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(5) Danach ist die Kundenliste der Beigeladenen keine Information im Sinne des § 22 Abs. 3 MPSV. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts lag sie dem BfArM im Jahr 2010 im Rahmen der ersten Risikobewertung des Großkugelkopfsystems nicht vor und war deshalb für das Ergebnis der Risikobewertung nicht von Relevanz. Bei der Durchführung der erneuten Risikobewertung Ende Dezember 2013/Anfang Januar 2014 hat das BfArM die Liste gleichfalls nicht herangezogen (UA S. 23).
34
(6) Gegen die Einstufung von Unterlagen wie Kundenlisten als Information im Sinne des § 22 Abs. 3 MPSV spricht darüber hinaus, dass es sich in der Regel um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse handelt. In Bezug auf Patientendaten regelt § 22 Abs. 4 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 2 MPSV, dass diese vor einer Übermittlung zu anonymisieren sind. Das Fehlen einer Befugnisnorm zur Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen weist darauf hin, dass der Verordnungsgeber den Auskunftsanspruch nicht auf solche Daten erstrecken wollte (vgl. § 30 VwVfG). Die Kundenliste der Beigeladenen ist nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis (vgl. nachstehend unter 4.).
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2. Auf § 10 MPAMIV lässt sich der geltend gemachte Auskunftsanspruch nicht stützen. Die Klägerinnen gehören nicht zum Kreis der Behörden, Organisationen und Stellen, die gemäß § 10 Abs. 1 und 2 MPAMIV zu informieren sind.
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3. Ein Anspruch auf Übermittlung der Kundenliste ergibt sich auch nicht aus Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2017/745.
37
Nach dieser Bestimmung erleichtert eine zuständige Behörde, die der Auffassung ist oder Grund zu der Annahme hat, dass ein Produkt Schaden verursacht hat, auf Ersuchen die Aushändigung der in Unterabsatz 1 genannten Informationen und Unterlagen u.a. an die Krankenversicherungsgesellschaft des Patienten oder Anwenders und zwar unbeschadet der Datenschutzvorschriften und – sofern kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Offenlegung besteht – unbeschadet des Schutzes der Rechte des geistigen Eigentums. Gemäß Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 1 Satz 1 der Verordnung (EU) 2017/745 händigen die Hersteller der zuständigen Behörde auf deren Ersuchen hin alle Informationen und Unterlagen, die für den Nachweis der Konformität des Produkts erforderlich sind, in einer von dem betreffenden Mitgliedstaat festgelegten Amtssprache der Union aus.
38
a) Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2017/745 gibt gegen die zuständige Behörde unter den genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Zugang zu den in Bezug genommenen Informationen und Unterlagen. Die Formulierung “erleichtert die Aushändigung” ist als Verpflichtung zu verstehen. Das lässt sich Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 4 der Verordnung (EU) 2017/745 entnehmen und entspricht dem Ziel des Verordnungsgebers, Personen, die durch ein fehlerhaftes Produkt geschädigt sein könnten, einen angemessenen Zugang zu Informationen zu ermöglichen (vgl. Erwägungsgründe 31 und 43).
39
b) Die Voraussetzungen des Auskunftsanspruchs liegen hier jedoch nicht vor. Die in Rede stehende Kundenliste ist keine Information oder Unterlage, die “für den Nachweis der Konformität des Produkts erforderlich” ist.
40
aa) Unter dem Begriff der Konformität im Sinne der Verordnung (EU) 2017/745 ist zu verstehen, dass der Hersteller eines Medizinprodukts die in der Verordnung festgelegten Sicherheits-, Leistungs- und sonstigen rechtlichen Anforderungen, z.B. an Qualitäts- und Risikomanagement, einhält. Die Einhaltung ist von ihm nach Maßgabe der Verordnung nachzuweisen (vgl. Erwägungsgrund 22 und Art. 5 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 1, 2 und 9 der Verordnung 2017/745). Für den Nachweis, dass ein Produkt die Anforderungen der Verordnung erfüllt, ist das Verfahren der Konformitätsbewertung vorgesehen (vgl. Art. 2 Nr. 40 und Art. 52 der Verordnung 2017/745).
41
Gemäß Art. 52 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2017/745 führen Hersteller, bevor sie ein Produkt in Verkehr bringen oder ein nicht in Verkehr gebrachtes Produkt in Betrieb nehmen, eine Bewertung der Konformität des betreffenden Produkts im Einklang mit den in den Anhängen IX bis XI aufgeführten geltenden Konformitätsbewertungsverfahren durch. Nach Anhang IX, Kapitel III, Abschnitt 7, nach Anhang X, Abschnitt 7 sowie nach Anhang XI, Teil A, Abschnitte 9 und 10.5, Teil B, Abschnitte 17 und 18.4 der Verordnung (EU) 2017/745 halten der Hersteller oder – falls der Hersteller keine eingetragene Niederlassung in einem Mitgliedstaat hat – sein Bevollmächtigter während eines Zeitraums, der frühestens zehn Jahre – im Falle von implantierbaren Produkten frühestens 15 Jahre – nach dem Inverkehrbringen des letzten Produkts endet, für die zuständigen Behörden bestimmte, im einzelnen benannte Unterlagen bereit. Dazu gehören insbesondere die EU-Konformitätserklärung, die technische Dokumentation gemäß den Anhängen II und III, die Dokumentation über das Qualitätsmanagementsystem des Herstellers sowie Entscheidungen und Berichte der Konformitätsbewertungsstelle (Benannte Stelle).
42
Wurde im Rahmen des anzuwendenden Konformitätsverfahrens nachgewiesen, dass die geltenden Anforderungen erfüllt sind, erstellen die Hersteller eine EU-Konformitätserklärung und versehen die Produkte mit der CE-Kennzeichnung (Art. 10 Abs. 6 der Verordnung 2017/745). Gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung (EU) 2017/745 besagt die EU-Konformitätserklärung, dass die in dieser Verordnung genannten Anforderungen hinsichtlich des betreffenden Produkts erfüllt wurden. Nach Satz 2 ist die EU-Konformitätserklärung laufend zu aktualisieren. Die in die EU-Konformitätserklärung aufzunehmenden Angaben ergeben sich aus Anhang IV der Verordnung (EU) 2017/745. Nach Art. 10 Abs. 8 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) 2017/745 halten die Hersteller den zuständigen Behörden die technische Dokumentation, die EU-Konformitätserklärung sowie gegebenenfalls eine Kopie von gemäß Art. 56 der Verordnung ausgestellten Konformitätsbescheinigungen noch mindestens zehn Jahre (bei implantierbaren Produkten: 15 Jahre), nachdem das letzte von der EU-Konformitätserklärung erfasste Produkt in Verkehr gebracht wurde, zur Verfügung. Gemäß Art. 10 Abs. 8 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) 2017/745 legt der Hersteller auf Ersuchen der zuständigen Behörde – wie angefordert – entweder die vollständige technische Dokumentation oder eine Zusammenfassung der Dokumentation vor.
43
Danach bestehen keine Anhaltspunkte, dass Kundenlisten von Herstellern (Art. 2 Nr. 30 der Verordnung 2017/745) oder Händlern (Art. 2 Nr. 34 der Verordnung 2017/745) zu den Informationen und Unterlagen im Sinne von Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 i.V.m. Unterabs. 1 der Verordnung (EU) 2017/745 zählen. Sie werden nicht als Informationen, Daten oder Unterlagen aufgeführt, die nach Art. 10 Abs. 8, Art. 52 i.V.m. den Anhängen IX bis XI und Art. 56 i.V.m. Anhang XII für die zuständigen Behörden zum Nachweis der Konformität des Produkts bereit zu halten und auf Ersuchen vorzulegen sind.
44
bb) Diese Auslegung wird auch durch Art. 25 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2017/745 gestützt. Danach müssen die Hersteller und weiteren Wirtschaftsakteure (Art. 2 Nr. 35 der Verordnung 2017/745) gegenüber der zuständigen Behörde während des in Art. 10 Abs. 8 genannten Zeitraums angeben können: a) alle Wirtschaftsakteure, an die sie ein Produkt direkt abgegeben haben; b) alle Wirtschaftsakteure, von denen sie ein Produkt direkt bezogen haben; c) alle Gesundheitseinrichtungen oder Angehörige der Gesundheitsberufe, an die sie ein Produkt direkt abgegeben haben. Die Regelung dient der Identifizierung von Produkten innerhalb der Lieferkette und ihrer Rückverfolgbarkeit. Aus ihr ist zu schließen, dass der EU-Verordnungsgeber Kundenlisten ausdrücklich als Informationen und Unterlagen benannt hätte, die vom Hersteller zum Nachweis der Konformität bereit zu halten und auf behördliches Ersuchen auszuhändigen sind, wenn dies seine Regelungsabsicht gewesen wäre.
45
cc) Soweit die Klägerinnen auf die Regelung zum Qualitätsmanagementsystem in Anhang IX, Kapitel 1, Abschnitt 2.1, achter Spiegelstrich der Verordnung (EU) 2107/745 verweisen, ergibt sich daraus nichts Abweichendes. Nach Anhang IX, Kapitel 1, Abschnitt 1 der Verordnung (EU) 2017/745 richtet der Hersteller ein Qualitätsmanagementsystem gemäß Art. 10 Abs. 9 der Verordnung ein, das er dokumentiert und umsetzt und für dessen Wirksamkeit während des gesamten Lebenszyklus der betroffenen Produkte er Sorge trägt; er gewährleistet die Anwendung des Qualitätsmanagementsystems nach Maßgabe des Abschnitts 2. Gemäß Abschnitt 2.1 des Anhangs IX, Kapitel 1 der Verordnung (EU) 2017/745 beantragt der Hersteller bei einer Benannten Stelle die Bewertung seines Qualitätsmanagementsystems. Der Antrag muss unter anderem die Dokumentation über das System des Herstellers zur Überwachung nach dem Inverkehrbringen und gegebenenfalls über den Plan für die klinische Nachbeobachtung und die Verfahren, mit denen die Einhaltung der Verpflichtungen sichergestellt wird, die sich aus den Vigilanz-Bestimmungen gemäß den Artikeln 87 bis 92 der Verordnung ergeben, enthalten (Abschnitt 2.1, achter Spiegelstrich). Daraus ergibt sich nicht, dass der Hersteller eine Kundenliste einzureichen hat bzw. diese Teil der Dokumentation ist. Entsprechendes gilt für die in Art. 10 Abs. 9 der Verordnung (EU) 2017/745 genannten Anforderungen an das Qualitätsmanagementsystem.
46
dd) Aus den Bestimmungen über die Überwachung nach dem Inverkehrbringen und über die Vigilanz nach Art. 83 ff. der Verordnung (EU) 2017/745 lässt sich gleichfalls nicht entnehmen, dass Kundenlisten Informationen und Unterlagen im Sinne von Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 i.V.m. Unterabs. 1 der Verordnung (EU) 2017/745 sind. In dem Sicherheitsbericht nach Art. 86 der Verordnung (EU) 2017/745 ist die Gesamtabsatzmenge des Produkts und eine Schätzung der Anzahl und anderer Merkmale der Personen, bei denen das betreffende Produkt zur Anwendung kommt, aufzuführen sowie, sofern dies praktikabel ist, die Häufigkeit der Produktverwendung. Hingegen wird nicht vorgegeben, dass der Sicherheitsbericht eine Auflistung der Gesundheitseinrichtungen oder Angehörigen der Gesundheitsberufe enthalten muss, an die das Produkt abgegeben worden ist (vgl. Art. 86 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung 2017/745).
47
ee) Ebenso wenig lässt sich aus Art. 89 Abs. 3 Unterabs. 2 der Verordnung (EU) 2017/745 ableiten, dass die dem BfArM vorliegende Kundenliste der Beigeladenen als Information oder Unterlage im Sinne von Art. 10 Abs. 14 Unterabs. 3 i.V.m. Unterabs. 1 der Verordnung (EU) 2017/745 anzusehen wäre. Dort ist bestimmt, dass die Hersteller auf Ersuchen der zuständigen nationalen Behörde alle für eine Risikobewertung erforderlichen Unterlagen vorlegen (vgl. entsprechend § 72 Abs. 4 Nr. 1, § 79 Abs. 1 Nr. 4 und 5 MPDG). Diese Voraussetzungen treffen für die Kundenliste der Beigeladenen nicht zu. Das BfArM hat im Rahmen der von ihm durchgeführten Risikobewertung die Liste nicht verlangt und sie auch nicht herangezogen.
48
4. Der Auskunftsanspruch folgt auch nicht aus § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) vom 5. September 2005 (BGBl. I S. 2722), zuletzt geändert durch Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328).
49
a) Gemäß § 1 Abs. 3 IFG gehen Regelungen in anderen Rechtsvorschriften über den Zugang zu amtlichen Informationen mit Ausnahme des § 29 VwVfG und des § 25 SGB X vor. Die speziellen Bestimmungen über den Informationszugang gemäß §§ 8 ff. MPAMIV und nach der Verordnung (EU) 2017/745 sind solche Regelungen und verdrängen daher § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 IFG.
50
b) Darüber hinaus steht einem Anspruch der Ausschlussgrund des § 6 Satz 2 IFG entgegen. Danach darf Zugang zu Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nur gewährt werden, soweit der Betroffene eingewilligt hat. Eine Einwilligung der Beigeladenen liegt nicht vor. Die Kundenliste stellt ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis im Sinne der Regelung dar. Als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse werden alle auf ein Unternehmen bezogenen Tatsachen, Umstände und Vorgänge verstanden, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse ist anzuerkennen, wenn die Offenlegung der Information geeignet ist, den Marktkonkurrenten exklusives technisches oder kaufmännisches Wissen zugänglich zu machen und so die Wettbewerbsposition des Unternehmens nachteilig zu beeinflussen (Wettbewerbsrelevanz). Hierfür muss die prognostische Einschätzung nachteiliger Auswirkungen im Falle des Bekanntwerdens der Information nachvollziehbar und plausibel dargelegt werden. Der erforderliche Wettbewerbsbezug kann fehlen, wenn die Informationen abgeschlossene Vorgänge ohne Bezug zum heutigen Geschäftsbetrieb betreffen (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. September 2009 – 7 C 2.09 – BVerwGE 135, 34 Rn. 50 und vom 17. März 2016 – 7 C 2.15 – BVerwGE 154, 231 Rn. 35, jeweils m.w.N.). Kundenlisten sind in der Regel Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. März 2006 – 1 BvR 2087/03 u.a. – BVerfGE 115, 205 und vom 27. April 2021 – 2 BvR 206/14 – NVwZ 2021, 1211 Rn. 50).
51
Ausgehend davon ist die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, bei der in Rede stehenden Kundenliste handele es sich um ein Betriebs- und Geschäftsgeheimnis, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie beruht auf einem zutreffenden rechtlichen Maßstab (UA S. 36 f.). Dass die Klägerinnen selbst keine Wettbewerber der Beigeladenen sind, schließt ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse nicht aus (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Juni 2018 – 2 BvR 1405/17 u.a. – NJW 2018, 2385 Rn. 64). Das Oberverwaltungsgericht hat die Kundenliste tatrichterlich dahingehend gewürdigt, dass sie unternehmensbezogen ist, nicht offenkundige Informationen enthält sowie die erforderliche Wettbewerbsrelevanz aufweist. Diese Würdigung, die die Klägerinnen nicht mit einer durchgreifenden Verfahrensrüge (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. November 2019 – 3 C 19.18 – BVerwGE 167, 66 Rn. 23) angegriffen haben, ist für den Senat verbindlich (§ 137 Abs. 2 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht hat eine Wettbewerbsrelevanz unter Verweis darauf, die in der Kundenliste enthaltenen Informationen ließen ungeachtet des seit 2012 eingestellten Vertriebs des Implantat-Systems Rückschlüsse auf den aktuellen Kundenstamm, die derzeitige Kostenkalkulation und Entgeltgestaltung der Beigeladenen zu (UA S. 38), vertretbar bejaht.
52
5. Es hat auch ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass sich der geltend gemachte Auskunftsanspruch weder aus einer entsprechenden Anwendung des § 84a AMG noch aus den Vorschriften über die Amtshilfe nach §§ 4 ff. VwVfG ergibt.
53
a) §§ 84 ff. AMG regeln die Haftung für Arzneimittelschäden. Die in § 84 AMG normierte Gefährdungshaftung wird flankiert durch den Auskunftsanspruch nach § 84a AMG. Eine analoge Anwendung der Vorschrift auf Auskunftsbegehren, die im Zusammenhang mit einem durch ein Medizinprodukt verursachten Schaden stehen, scheidet aus. Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber nicht bewusst davon abgesehen hat, bereichsspezifische Haftungsregelungen für Medizinprodukte zu treffen (vgl. § 2 Abs. 3 AMG, § 15 Abs. 1 ProdHaftG).
54
b) Die Anwendung der Vorschriften über die Amtshilfe scheidet mit Blick auf die bereichsspezifischen Regelungen der §§ 8 ff. MPAMIV und der Verordnung (EU) 2017/745 gleichfalls aus (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG). Besteht nach Maßgabe des einschlägigen Fachrechts kein Anspruch auf Informationszugang, kann die Behörde nicht im Wege der Unterstützungsleistung nach § 4 Abs. 1 VwVfG zur Auskunftsgewährung verpflichtet werden (Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 22. Aufl. 2021, § 4 Rn. 16). Darüber hinaus würde einer Übermittlung der Kundenliste der Ausschlussgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 30 VwVfG entgegenstehen.
55
6. Dass für das Auskunftsbegehren eine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, haben die Klägerinnen nicht geltend gemacht. Dafür ist auch nichts ersichtlich. Die Vorschriften des Produkthaftungsgesetzes sehen keine dem § 84a AMG entsprechende Regelung vor. Das in § 810 BGB normierte Recht auf Einsichtnahme in eine in fremdem Besitz befindliche Urkunde setzt voraus, dass die Urkunde im Interesse des Anspruchstellers errichtet ist oder in ihr ein Rechtsverhältnis beurkundet ist, an dem er beteiligt ist, oder die Urkunde bestimmte Verhandlungen enthält (vgl. zu den Anforderungen BGH, Urteil vom 27. Mai 2014 – XI ZR 264/13 – NJW 2014, 3312 Rn. 21; OLG Karlsruhe, Urteil vom 16. August 2017 – 7 U 202/16 – MDR 2017, 1300 ; Habersack, in: Münchener Kommentar zum BGB, Band 7, 8. Aufl. 2020, § 810 Rn. 4 ff.). Keine der Varianten trifft für die Kundenliste zu.
56
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 2, § 159 Satz 1, § 162 Abs. 3 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO.


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