Europarecht

Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses im Anschluss an eine im laufenden Rechtsstreit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung unter Kaufleuten

Aktenzeichen  34 AR 65/16

Datum:
23.5.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
LSK – 2016, 12839
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO ZPO § 17 Abs. 1, § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, § 37, § 38 Abs. 1, § 261 Abs. 3 Nr. 2, § 281 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, 4

 

Leitsatz

1. Zur Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses im Anschluss an eine Gerichtsstandsvereinbarung unter Kaufleuten, die nach Rechtshängigkeit der Streitsache beim örtlich zuständigen Gericht abgeschlossen wird (Anschluss an OLG Schleswig vom 26.7.2004, 2 W 136/04 = MDR 2005, 233; OLG Zweibrücken vom 19.5.2005, 2 AR 28/05 = MDR 2005, 1187). (amtlicher Leitsatz)
2 Sowohl ein grundsätzlich bindender Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO wie auch die abschließende Verweigerung der Übernahme durch Unzuständigerklärung stellen die Leugnung der eigenen Kompetenz durch das jeweils beschlussfassende Gericht dar und erfüllen damit das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ iSv § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (ebenso BGHZ 102, 338) (red. LS Christoph Syrbe)
3 Von der ganz herrschenden Meinung abzuweichen, wonach eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Rechtshängigkeit beim angegangenen zuständigen Gericht nicht dessen Unzuständigkeit begründe und deshalb auch nicht eine Verweisung rechtfertige, ist erst dann willkürlich, wenn sich das verweisende Gericht der herrschenden Meinung nur deshalb verschlossen hat, um aus sachfremden Erwägungen die Sache „loszuwerden“. (red. LS Christoph Syrbe)

Verfahrensgang

Az. 36 O 33/16 2016-05-10 Bes LGDUESSELDORF LG Traunstein

Tenor

Örtlich zuständig ist das Landgericht Düsseldorf.

Gründe

I. Mit Klageschrift vom 23.11.2015 zum Landgericht Traunstein (Az. 1 HKO 4151/15) begehrt der im Bezirk des Landgerichts Wuppertal wohnhafte Kläger von der nach dem Handelsregisterauszug im Landgerichtsbezirk Traunstein ansässigen Beklagten im Weg der Stufenklage Erteilung eines Buchauszugs, Zahlung der sich aus dem Buchauszug ergebenden Provision, ferner von Schadensersatz wegen vorzeitiger Kündigung sowie Ausgleich. Zugrunde lag dem ein Handelsvertreterverhältnis im Bereich Fräs- und Drehmaschinen. Nach § 19 Abs. 4 des schriftlichen Vertrags aus dem Jahr 2014 war Traunstein als ausschließlicher Gerichtsstand vereinbart.
Die Beklagte geht davon aus, inzwischen den Anspruch auf Erteilung des Buchauszugs erfüllt zu haben.
Mit Schriftsatz vom 26.4.2016 hat die Beklagte erklärt, bereit zu sein, mit dem Kläger den Gerichtsstand Düsseldorf zu vereinbaren und mit einer Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Düsseldorf – Kammer für Handelssachen – auf Antrag des Klägers einverstanden zu sein. Auf den folgenden Verweisungsantrag des Klägers hat sich das Landgericht Traunstein am 27.4.2016 für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Düsseldorf verwiesen. Zur Begründung ist ausgeführt, die Parteien könnten als Kaufleute nach § 38 Abs. 1 ZPO die Zuständigkeit des Landgerichts Düsseldorf vereinbaren. Diese Vereinbarung sei auch „nach Rechtshängigkeit der Klage während des Rechtsstreits jederzeit möglich (OLG Düsseldorf NJW 1961, 2355)“.
Das Landgericht Düsseldorf hat sich seinerseits mit Beschluss vom 10.5.2016 (Az. 36 O 33/16) für örtlich unzuständig erklärt, weil es eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Rechtshängigkeit für unzulässig erachtet und sich an die Verweisungsentscheidung, die es ohne Auseinandersetzung mit der herrschenden Meinung für willkürlich hält, nicht gebunden sieht. Es hat den Rechtsstreit zur Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Oberlandesgericht München vorgelegt.
II. Die Voraussetzungen für die (örtliche) Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, § 37 ZPO durch das zuständige Oberlandesgericht München, zu dessen Bezirk das zuerst befasste Landgericht Traunstein gehört, sind gegeben (vgl. nur Zöller/Vollkommer ZPO 31. Aufl. § 36 Rn. 25 m. w. N.). Es liegen beiderseitige, den Parteien bekannt gegebene Entscheidungen vor, zum einen in Form eines grundsätzlich bindenden Verweisungsbeschlusses nach § 281 ZPO, zum anderen in Form einer abschließenden Verweigerung der Übernahme durch Unzuständigerklärung. Die damit verbundene jeweilige Leugnung der eigenen Kompetenz erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ in § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (siehe nur BGHZ 102, 338/340 m. w. N.).
Zuständig ist das Landgericht Düsseldorf (Kammer für Handelssachen). An die vom Landgericht Traunstein ausgesprochene Verweisung ist es gebunden. (Objektive) Willkür, die die Bindungswirkung aufheben würde, kann der Senat nicht feststellen.
1. Gemäß § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO sind Verweisungsbeschlüsse im Interesse der Prozessökonomie und zur Vermeidung von verfahrensverzögernden Zuständigkeitsstreitigkeiten unanfechtbar. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung (st. Rechtspr.; BGHZ 102, 338/340; BGH NJW 2002, 3634/3635; Zöller/Greger § 281 Rn. 16).
2. Die Bindungswirkung entfällt, wenn der ergangene Beschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (BGH NJW-RR 2013, 764/765; NJW 2002, 3634/3635; Zöller/Greger § 281 Rn. 17 m. w. N.). Dies ist der Fall, wenn er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich erachtet werden muss. Jedoch lässt bloßer Rechtsirrtum die Bindungswirkung nicht entfallen (BGH NJW-RR 2011, 1364; 1992, 902; Zöller/Greger § 281 Rn. 17). Nur bei groben Rechtsirrtümern (z. B. BGH NJW 2002, 3634/3635) fehlt es an der Bindung.
a) Das Landgericht Traunstein war – wie es nicht verkannt hat – nach der ursprünglichen Gerichtsstandsvereinbarung (§ 38 Abs. 1 ZPO) sowie nach § 17 Abs. 1 ZPO das örtlich zuständige Gericht.
b) Eine Gerichtsstandsvereinbarung nach Rechtshängigkeit begründet nach herrschender Meinung (Foerste in Musielak/Voit ZPO 13. Aufl. § 261 Rn. 14: „zweifelhaft“) beim angegangenen zuständigen Gericht nicht dessen Unzuständigkeit und rechtfertigt deshalb auch nicht eine Verweisung (ständige Rechtsprechung des BGH; etwa NJW-RR 2010, 891/892; NJW 2001, 2477/2478; 1963, 585; 1953, 1139/1140; NJW-RR 1995, 513/514; 1994, 126 f.; auch OLG München NJW 1965, 767; OLG Dresden vom 14.3.2011, 3 AR 15/11, juris Rn. 14; OLG Zweibrücken MDR 2005, 1187; Zöller/Greger § 281 Rn. 18; § 261 Rn. 12; Zöller/Vollkommer § 38 Rn. 12; Reichold in Thomas/Putzo ZPO 37. Aufl. § 281 Rn. 2; § 261 Rn. 16; Geisler in PG ZPO 7. Aufl. § 261 Rn. 16; Roth in Stein/Jonas ZPO 22. Aufl. § 261 Rn. 37; Bork in Stein/Jonas ZPO 23. Aufl. § 38 Rn. 65; Hk-ZPO/Saenger 6. Aufl. § 261 Rn. 24; Assmann in Wieczorek/Schütze ZPO 4. Aufl. § 261 Rn. 113). Maßgeblich dafür ist § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO, der im öffentlichen Interesse, nämlich zur Vermeidung der mehrfachen Befassung von Gerichten mit demselben Rechtsstreit, die Parteiendisposition einschränkt. Gründe der Prozesswirtschaftlichkeit, die im Einzelfall für eine Verlagerung des Rechtsstreits sprechen könnten, ändern hieran nichts. Vielmehr gebührt nach dieser Ansicht der gesetzlichen Regelung der Vorzug (BGH NJW-RR 2010, 891/892; NJW 1965, 585/586).
Die Gegenmeinung, wonach in Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Interessen die Parteien die Möglichkeit hätten, das öffentliche Interesse an der Vermeidung gerichtlicher Doppelbelastungen mit legalen Mitteln zurücktreten zu lassen, indem sie ihre Dispositionsbefugnis im Rahmen von § 38 Abs. 1 ZPO auch aus praktischen Erwägungen ausnutzen könnten, findet sich überwiegend in älterer Rechtsprechung (etwa OLG Düsseldorf NJW 1961, 2355; OLG Celle MDR 1957, 679/680; OLG Oldenburg MDR 1962, 60) und Literatur (Traub NJW 1963, 842; Schneider DRiZ 1962, 410). Sie wird aber auch hin und wieder bis in die Gegenwart vertreten (LG Meiningen vom 25.6.2013, 1 O 1037/12, juris; LG Waldshut-Tiengen MDR 1985, 941; MüKo/Becker-Eberhard ZPO 4. Aufl. § 261 Rn. 92; Wilske/Kocher NJW 2000, 3549/3550).
c) Von einer ganz herrschenden Meinung abzuweichen ist nicht willkürlich. Denn dem deutschen Recht ist eine Präjudizienbildung grundsätzlich fremd; deshalb ist eine Verweisung nicht schon allein aus diesem Grund ohne Bindungswirkung. Vielmehr bedürfte es zusätzlicher Umstände für die Annahme, dass der Verweisungsbeschluss jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (BGH NJW 2003, 3201/3202; NJW-RR 2002, 1498/1499; OLG Schleswig MDR 2005, 233; OLG Zweibrücken MDR 2005, 1187/1188). Besondere Zurückhaltung ist dort zu üben, wo die Verweisung auf übereinstimmendem – nicht vom Gericht provoziertem – Antrag beruht (BGH FamRZ 1988, 943; vom 26.2.2002, X ARZ 9/02 juris Rn. 12; NJW 2003, 3201/3202; siehe auch Senat vom 5.5.2015, 34 AR 108/15, vom 20.3.2015, 34 AR 42/15).
d) Derartige zusätzliche Umstände sind im Ergebnis nicht feststellbar. Das Landgericht Traunstein hat die – ausschließlich denkbare – abweichende (neue) Zuständigkeit aus einer formlos geschlossenen (§ 38 Abs. 1 ZPO) und „jederzeit möglichen“ Parteivereinbarung unter Kaufleuten nach Rechtshängigkeit hergeleitet und sich zur Begründung seiner Entscheidung darauf beschränkt, das Oberlandesgericht Düsseldorf (NJW 1961, 2355) zu zitieren. Damit kann zwar von einer Auseinandersetzung mit der gegenteiligen (herrschenden) Ansicht keine Rede sein. Es kann aber auch nicht festgestellt werden, dass das Landgericht bei dieser Prozesslage zwingend Anlass hätte haben müssen, sich damit vertieft zu befassen. So wird vertreten, dass ein völliges Übergehen dieser Frage die Bindungswirkung nicht aufhebt (OLG Schleswig MDR 2005, 233/234). Eine Befassung insofern, als sich der Richter unter Beschränkung auf eine veröffentlichte obergerichtliche Entscheidung – wenn hier auch ohne jede Auseinandersetzung mit anderen Stimmen in Rechtsprechung und Literatur – einer Mindermeinung anschließt, kann aber ebenso wenig ohne Weiteres die Willkür begründen. Notwendig wäre vielmehr, dass das verweisende Gericht eine etwaige Fehlerhaftigkeit der Verweisung erkennt und trotzdem eine sorgfältige Prüfung seiner Zuständigkeit in der Absicht unterlässt, jedenfalls eine Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses herbeizuführen (vgl. BGH NJW-RR 2010, 891/893). In diesem Fall wären nämlich die gesetzlichen Zuständigkeitsregeln und das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) missachtet, was auch dann nicht hinnehmbar ist, wenn die Parteien übereinstimmend Verweisung beantragen (BGH a. a. O.). Indessen erlauben die Akten nicht den Schluss, dass das Landgericht Traunstein sich bewusst der herrschenden Meinung nur deshalb verschlossen habe, um aus sachfremden Erwägungen die Sache „loszuwerden“. So findet sich die erstmals vom Gericht zitierte Entscheidung in den gängigen Kommentaren (etwa Zöller/Greger § 281 Rn. 18) im Kontext mit der gegenteiligen Auffassung; der zitierte Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf diskutiert seinerseits unterschiedliche Ansichten. Das deutet darauf hin, dass das Landgericht auch die abweichende – herrschende – Ansicht jedenfalls zur Kenntnis genommen hat. Bei unbefangener Betrachtung kann dem Landgericht Traunstein nicht unterstellt werden, es habe sich in dieser Kenntnis der von ihm vertretenen Ansicht aus sachfremden Gründen angeschlossen.
3. Mit der Verweisung an das Landgericht Düsseldorf muss es deshalb sein Bewenden haben.


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