Europarecht

Dublin-Verfahren (Italien)

Aktenzeichen  M 18 K 16.51084

Datum:
3.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 155261
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1, § 31 Abs. 3 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2

 

Leitsatz

Es spricht viel für die Annahme, dass es in Italien ein verzweigtes und gut organisiertes, international vernetztes Verbrechersyndikat gibt, das einen florierenden Menschenhandel zur Zwangsprostitution vor allem zwischen Nigeria und Italien betreibt.  (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 9. November 2016 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Italiens vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Eine Entscheidung konnte am 3. November 2017 trotz fehlenden Erscheinens des Beklagtenvertreters getroffen werden, da in der Ladung zur mündlichen Verhandlung auf diese Möglichkeit hingewiesen wurde und diese formgerecht zugestellt wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO). Auf die fristgerechte Zustellung der Ladung wurde vom Beklagtenvertreter mit allgemeiner Prozesserklärung verzichtet.
Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist der vorliegende Bescheid aufzuheben, da er nach § 113 Abs. 1 VwGO rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Entscheidung ist nach § 77 Abs. 1 AsylG die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
Die grundsätzliche Zuständigkeit des Mitgliedstaates Italiens lag nach den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) zwar nach dem Vortrag der Klägerin beim Bundesamt vor, sodass der Asylantrag aus Zuständigkeitsgründen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG zunächst als unzulässig abgelehnt werden konnte. Hierzu wird nach § 77 Abs. 2 AsylG auf die Begründung im Bescheid Bezug genommen, der diesbezüglich zunächst rechtmäßig war. Allerdings ist eine Abschiebung dorthin aus rechtlichen Gründen nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin, der erst in der mündlichen Verhandlung erfolgte, nicht möglich.
Aufgrund des Bestehens eines nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG im Rahmen des Verfahrens zu prüfenden Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italiens kann die Klägerin nicht nach Italien überstellt werden. Insoweit ist eine Ermessensreduzierung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III Verordnung anzunehmen, sodass die Beklagte für die Entscheidung über den Asylantrag der Klägerin zuständig ist.
Nach den glaubhaften Schilderungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 3. November 2017 zusammen mit den vorgelegten Arztbericht und Fax von Solwodi ist einen Sachlage anzunehmen, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italiens rechtfertigt. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von einer Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Die Verwirklichung der Gefahr, die von bedeutendem Gewicht sein muss, muss der Klägerin landesweit drohen (Heusch/Haderlein/Schönenbroich, Das neue Asylrecht, 1. Auflage 2016, Rnr. 123 m.w.N.).
Der Klägerin droht angesichts ihres Vortrages bald nach einer Überstellung nach Italien erhebliche Gefahr für Leib, Leben und Freiheit. Nach der überzeugenden Schilderung der Klägerin kam diese mit einer sogenannte Madame 2008 nach Italien und wurde in einem Haus und auf den Straßen von Florenz gezwungen, der Prostitution nachzugehen. Bei Verweigerung der Prostitution wurde die Klägerin geschlagen, eingesperrt und durch psychische Gewalt gefügig gemacht (Vodoo-Zauber; Drohungen gegen die Familie in Nigeria). Die Prostitution der Klägerin gegen ihren Willen stellt eine Gefahr von bedeutendem Gewicht dar (vgl. Art. 83 AEUV), die der Klägerin bei Überstellung auch konkret droht.
Bereits zweimal wurde die Klägerin trotz längerer Abwesenheit von Mitarbeitern der Madame wieder aufgefunden und zurück in die Prostitution gezwungen. Bei ihrer ersten Flucht im Jahr 2012 ist die Klägerin selbst nach einem Jahr Untertauchens und trotz des Umzugs in eine andere italienische Großstadt (Turin) von den Mitarbeitern der Madame wieder aufgefunden worden. Auch im Jahr 2015 gelang der Klägerin die Flucht und sie verbrachte eineinhalb Jahre in Deutschland. Bei Rückkehr nach Turin, wo die Klägerin Bekannte hatte und daher Arbeit erhoffen konnte, wurde sie erneut von den Mitarbeitern der Madame aufgefunden und nach Florenz verbracht, um zur erneuten Prostitution unter diesmal stattfindender Freiheitsberaubung und noch größerem Druck gezwungen zu werden.
Die Erkenntnismittel des Gerichts, die über einen florierenden Menschenhandel von nigerianischen Frauen in Italien berichten, stützen die Richtigkeit der Aussage der Klägerin. Entgegen der im Asylrecht üblichen Annahme, dass die Glaubhaftigkeit einer Geschichte kritisch überprüft werden muss, wenn bei der Bundesamtanhörung ein erheblicher Teil der Verfolgungsgeschichte nicht detailliert dargelegt wurde, ist im vorliegenden Fall das erst späte Anvertrauen des Sachverhaltes zunächst bei Solwodie und später beim Gericht ein Hinweis auf die Glaubhaftigkeit. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist der Glaube an Vodoo-Zauber in Nigeria noch stark verbreitet und wird von den Menschenhändlern genutzt, um das Stillschweigen der Opfer zu erzwingen (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage: Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung am Beispiel Nigerias als Herkunftsland, Drucksache 17/10951 vom 26.10.2012, S.1; vgl VG Würzburg, Urteil vom 17. November 2015 – W 2 K 14.30213 -, juris Rn. 22; umfassend Bundesamt für … – Informationszentrum Asyl und Migration – Nigeria – Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung von Frauen und Kindern aus Nigeria, Dezember 2011; „Flucht direkt in die Prostitution“, Bayerischer Rundfunk vom 16.1.2017, abrufbar unter http://www.br.de/nachrichten/fluchtprostitutionreport-100.html, Stand 3.11.2017). Die Klägerin selbst gab an, dass sie die Geschichte vor Solwodie niemandem erzählt hatte, da sie – neben der Scham – Angst gehabt habe, aufgrund des Vodoozaubers verrückt oder krank zu werden. Erst die in diesem Gebiet spezialisierten Kräfte von Solwodie, die auch Opfer einsetzen, die den Glauben an den Vodoozauber dadurch verloren haben, haben der Klägerin diese Angst nehmen können.
Der Klägerin droht auch landesweit die Gefahr erheblichen Schaden zu erleiden. Der Vortrag der Klägerin weist insoweit darauf hin, dass die Klägerin Opfer eines großen und vernetzen Menschenhändlerrings ist, der sich sicher in zumindest zwei Großstädten, jedoch vermutlich in allen italienischen Großstädten, festgesetzt bzw. vernetzt hat. Das zweifache Auffinden der Klägerin in italienischen Großstädten nach mehreren Jahren Flucht deutet auf ein verzweigtes und gut organisiertes Verbrechenssyndikat hin, das die Klägerin italienweit auffinden können wird. Diese Annahme wird durch die gerichtsbekannten Erkenntnismittel (Bericht der Kommission an das europäische Parlament und den Rat gemäß Art. 20 der RL 2011/36/EU vom 19.5.2016, Clex-Nr. 52016DC0267; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage: Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung am Beispiel Nigerias als Herkunftsland, Drucksache 17/10951 vom 26.10.2012, S. 3f., 6 zu Frage 5b); vgl VG Würzburg, Urteil vom 17. November 2015 – W 2 K 14.30213 -, juris Rn. 22; „Flucht direkt in die Prostitution“, Bayerischer Rundfunk vom 16.1.2017, abrufbar unter http://www.br.de/nachrichten/fluchtprostitutionreport-100.html, Stand 3.11.2017) gestützt, die einen gut organisierten, florierenden Menschenhandel zur Zwangsprostitution vor allen zwischen Nigeria und Italien aufgedeckt haben & von starken internationalen Vernetzungen ausgehen. Aufgrund der mafiösen Strukturen dieser Banden ist der italienische Staat mangels (bisheriger) Strafanzeige der Klägerin nicht in der Lage, diese vor dem Menschenhändlerring, der sie verfolgt, zu schützen.
Weiter ist wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in Italien und vor allem der ohne Aufenthaltserlaubnis in Italien lebenden, abgelehnten Flüchtlinge davon auszugehen, dass die Klägerin zum Überleben in jeder italienischen Stadt wieder Kontakt zu Landsleuten suchen muss, um überhaupt ein Existenzminimum erwirtschaften zu können. Italien besitzt kein mit dem in der Bundesrepublik bestehenden Sozialleistungssystem vergleichbares, landesweites Recht auf Fürsorgeleistungen. Hier besteht nur im originären Kompetenzbereich der Regionen und Kommunen ein sehr unterschiedliches und in weiten Teilen von der jeweiligen Finanzkraft abhängiges Leistungsniveau (vgl. beispielsweise EGMR, B.v. 02.04.2013 – a.a.O., VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris). Italiener sind zwar wegen der allgemein schlechteren, wirtschaftlichen Lage von Arbeitslosigkeit in gleicher Art betroffen, jedoch ist als maßgeblicher Unterschied in allen Erkenntnismitteln genannt, dass in Italien die finanzielle Unterstützung durch die Familien einen Großteil der fehlenden Sozialsicherungssysteme aufzufangen vermag. Vorliegend ist es also bei abgelehnten Asylbewerbern, die nicht in CIE untergebracht sind und keine Familienangehörige in Italien besitzen, unbedingt erforderlich sich in Gruppen zusammenzuschließen, um die fehlenden Sozialleistungen durch Gruppenbildung abzufedern. Dies fördert allerdings das Risiko aufgrund der Vernetzung der nigerianischen Gemeinde der abgelehnten Asylbewerber und der allgemeinen schlechten wirtschaftlichen Lage, die Korruption und Denunziantentum gegen Geld innerhalb des Netzwerkes befördert, wieder in die Fänge der Menschenhändler zu gelangen.
Da ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italiens zu bejahen ist und daher eine Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat nicht möglich ist, ist das Ermessen der Beklagten nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung, selbst in die Zuständigkeit einzutreten, auf Null reduziert. Dies ergibt sich aus einer Erweiterung des sog. „refugeeinorbit“-Arguments des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 09. August 2016 – 1 C 6/16 – juris Rn. 23), nach dem die Dublin-III-Verordnung möglichst schnell eine Klärung der sachlichen Zuständigkeit herbeiführen und kein Flüchtling faktisch durch das System fallen soll. Wenn nun eine Überstellung nach Italien rechtlich nicht möglich ist, Deutschland jedoch nicht zuständig wäre, würde für die Klägerin eine durch den Telos der Dublin-III-Verordnung nicht gewollte, unzumutbare Situation entstehen, in der ihr Zweitantrag auf Asyl überhaupt nicht geprüft werden würde. Daher ist das in Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung vorgesehene Ermessen bezüglich des Selbsteintritts der Beklagten auf Null reduziert.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 S. 1 VwGO i.V.m. § 708 ZPO.


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