Europarecht

Dublinverfahren, Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 5 K 20.50006

Datum:
20.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 11728
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 27 Abs. 4
Dublin III-VO Art. 29

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom … Dezember 2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit kann im Wege des Gerichtsbescheids entschieden werden, da die Sache keine rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeiten aufweist (§ 84 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet, weil sich der Bescheid vom … Dezember 2019 zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses dieses Gerichtsbescheids (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Asylgesetz – AsylG) als rechtswidrig erweist und die Klagepartei in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Beklagte ist zwischenzeitlich für die Durchführung des Asylverfahrens der Klagepartei zuständig geworden, da gem. Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO) die Überstellungsfrist abgelaufen ist.
Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses sowie des Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO war Italien für die Prüfung des Asylantrags i.S.v. § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG zuständig.
Gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO erfolgt die Überstellung eines Ausländers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat.
Die Überstellungsfrist lief vorliegend daher mit der ablehnenden Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO vom … März 2020 an und endete sechs Monate später mit Ablauf des … September 2020 (zur Berechnung der Frist vgl. Art. 42 Buchst. b) der Dublin-III-VO). Innerhalb dieser Frist erfolgte keine Rücküberstellung der Klagepartei. Anhaltspunkte für eine Verlängerung der Rücküberführungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO bestehen nicht.
Die Überstellungsfrist ist auch nicht durch die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vom 3. April 2020 (erneut) unterbrochen worden.
Zwar haben nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO die Behörden grundsätzlich die Befugnis, die Vollziehung auszusetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Regelungen des Asylgesetzes stehen dem nicht entgegen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 23).
Die behördliche Aussetzungsentscheidung ist vorliegend jedoch nicht mit Unionsrecht vereinbar. Das Gericht folgt damit dem überwiegenden Teil der Rechtsprechung, wonach die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes nicht zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes dient und damit nicht den europarechtlichen Anforderungen des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO genügt (vgl. ausführlich OVG SH, B.v. 09.07.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 8 ff; zuletzt u.a. auch: Verwaltungsgericht des Saarlands, B.v. 1.10.2020 – 5 L 814/20 – juris Rn. 39 ff.; VG Ansbach, U.v. 23.9.2020 – An 14 K 18.50955 – juris Rn. 27 ff. m.w.N.; VG München, U.v. 7.7.2020 – M 2 K 19.51274; VG Karlsruhe, B.v. 15.09.2020 – A 9 K 4825/19; VG Greifswald, U.v. 28.09.2020 – 3 A 1865/19 HGW; VG Köln, B.v. 26.08.2020 – 14 L 1419/20.A; VG Berlin, B.v. 20.08.2020 – 32 L 173/20 A, VG München, B.v. 13.10.2020 – M 19 S7 20.50449 – alle juris; a.A. VG Karlsruhe, U.v. 26.8.2020 – A 1 K 1026/20 – juris Rn. 27 ff.; VG Münster, B.v. 2.9.2020 – 10 L 704/20.A – juris Rn. 8 ff. m.w.N.; mittlerweile auch BayVGH, B.v. 24.11.2020 – 9 ZB 20.50022 -juris Rn. 8 ff. unter Verweis auf NdsOVG, B.v. 27.10.2020 – 10 LA 217/20 – juris)).
Gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.
Wortlaut, Systematik und Regelungszweck der Dublin-III-VO setzen voraus, dass die Aussetzung „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ (Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO), also zum Zwecke einer Prüfung der Überstellungsentscheidung in Form eines Rechtsbehelfsverfahrens oder einer behördlichen Überprüfung angeordnet wird. Eine von der Durchführung eines solchen Prüfungsverfahrens unabhängige Aussetzung der Überstellungsentscheidung aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO nicht vor (OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 7).
Das Bundesverwaltungsgericht hat bislang entschieden, dass eine behördliche Aussetzungsentscheidung unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen darf, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen – das ist hier grundsätzlich nicht der Fall – oder „aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind“ (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 27). Gemäß der im Wortlaut des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgenommenen Verknüpfung der Aussetzungsentscheidung mit der individuellen Garantie des Rechtsschutzes stellt (auch) das Bundesverwaltungsgericht die allgemeine „Missbrauchsprüfung“ in den engen Zusammenhang mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes. In der konkreten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ging es darum, die Vollziehung wegen einer vom dortigen Kläger erhobenen Verfassungsbeschwerde auszusetzen (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 32). Daraus ist erkennbar, dass das Bundesverwaltungsgericht eine behördliche Aussetzung gerade nicht durch jede sachlich vertretbare, willkürfreie und nicht rechtsmissbräuchliche Erwägung erlaubt, sondern eben nur vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes. In der Folge kann die Überstellungsfrist nicht durch eine nachträgliche Aussetzung unterbrochen werden, wenn die Aussetzungsentscheidung lediglich dazu dient, auf außerhalb des konkreten Sachverhalts- und des konkreten Verfahrens liegende Entwicklungen (wie das Auftreten einer Pandemie und damit zusammenhängender rechtlicher oder auch nur tatsächlicher Überstellungshindernisse) zu reagieren.
Das Bundesamt hat die Aussetzungsentscheidung vom 3. April 2020 damit begründet, dass Dublin-Überstellungen im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise zum damaligen Zeitpunkt nicht zu vertreten gewesen seien. Die Aussetzungsentscheidung erfolgte allein aufgrund der fehlenden praktischen Durchführbarkeit der Überstellung infolge der als Reaktion auf die Corona-Krise unionsweit erlassenen Einreisebeschränkungen, ohne dass dies der rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung diente. Derlei tatsächliche Überstellungshindernisse fallen jedoch in die Risikosphäre des ersuchenden Staates und sind nicht geeignet, einen Zuständigkeitsübergang zu verhindern oder für die Dauer des Überstellungshindernisses hinauszuzögern (vgl. ausführlich OVG SH, B.v. 9.7.2020 – 1 LA 120/20 – juris Rn. 8ff.).
Der gerichtliche Beschluss nach § 80 Abs. 7 VwGO vom 17. Dezember 2020 ändert an all dem nichts, weil zum Zeitpunkt seines Erlasses die Überstellungsfrist bereits abgelaufen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.


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