Europarecht

Einstweilige Anordnung im Dublin-Verfahren, Familienzusammenführung gemäß Art. 9 und Art. 10 Dublin-III-VO, Begriff der Erstentscheidung in der Sache, Art. 10 Dublin-III-VO, Versteinerungsklausel Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO, Selbsteintritt aus humanitären Gründen, Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO

Aktenzeichen  AN 18 E 22.50014

Datum:
25.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 6987
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin-III-VO Art. 7, 9, 10, 17

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs durch das litauische Innenministerium – Migrationsabteilung – diesem gegenüber für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Verfahrenskosten.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragsteller, irakische Staatsangehörige, befinden sich in Litauen und haben dort Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Die Ehefrau des Antragstellers zu 1) und Mutter der minderjährigen Antragsteller zu 2) und 3) sowie ein volljähriger Bruder der Antragsteller zu 2) und 3) befinden sich in Deutschland.
Nach von der Antragstellerseite vorgelegtem Urteil des Verwaltungsgerichts … vom … 2021 betreffend die Ehefrau des Antragstellers zu 1) wurde dieser der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, nachdem ihr Asylantrag zunächst mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. November 2019 abgelehnt worden war.
Mit beim Verwaltungsgericht Ansbach am 27.01.2022 eingegangenem Schriftsatz vom selben Tag beantragten die Antragsteller durch ihre Prozessbevollmächtigte,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnung des Aufnahmegesuchs durch das litauische Innenministerium – Migrationsabteilung für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären, und verwiesen zur Begründung darauf, dass die Antragsgegnerin trotz Ablehnung ihrer Zuständigkeit nach Art. 9, 10 und 17 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden: Dublin III-VO) für die Asylverfahren zuständig sei. Die litauischen Asylbehörden hätten auf die letzten Anfragen der Antragsteller durch ihren Prozessbevollmächtigten insbesondere auf die Frage, ob eine Remonstration erwogen und weiterhin nicht über die Asylanträge der Antragsteller im dortigen Asylverfahren entschieden werde, nicht reagiert. Eine Entscheidung über die Asylanträge der Antragsteller sei nach deren Auskunft noch nicht erfolgt, könne aber jederzeit geschehen. Nach dem Ergehen einer Entscheidung durch die litauischen Behörden sei der Anwendungsbereich der Dublin III-VO nicht mehr eröffnet und die Rechtsdurchsetzung hinsichtlich der Zuständigkeit der Antragsgegnerin und damit die Familienzusammenführung nicht mehr möglich.
Mit beim Verwaltungsgericht Ansbach am 02.02.2022 eingegangenem Schriftsatz vom selben Tag beantragte die Antragsgegnerin, den Eilantrag gemäß § 123 VwGO abzulehnen, und verwies zur Begründung auf das Ablehnungsschreiben der Antragsgegnerin an die litauischen Behörden vom 10. Dezember 2021. Nachdem der Asylantrag der Ehefrau und Mutter der Antragsteller mit Bescheid vom 20. November 2019 abgelehnt worden sei, habe sich deren Asylverfahren im Zeitpunkt der Antragstellung durch die Antragsteller bereits im Stadium nach der ersten Sachentscheidung befunden, sodass eine Anwendung des Art. 10 Dublin-III-VO ausscheide.
Durch Beschluss der stellvertretenden Einzelrichterin vom 22. Februar 2022 wurde der Antragsgegnerin aufgegeben, die litauischen Asylbehörden unmittelbar nach Bekanntgabe dieser Entscheidung aufzufordern, über die Anträge der Antragsteller auf internationalen Schutz solange nicht zu entscheiden, bis das Verwaltungsgericht Ansbach über die Anträge der Antragsteller gemäß § 123 VwGO vom 27.01.2022 abschließend entschieden hat, und dies dem Gericht schriftlich zu bestätigen.
Nach Mitteilung der Antragstellerbevollmächtigten wurde der Asylantrag der Antragsteller durch die Republik Litauen durch Entscheidung vom 1. März 2022 abgelehnt. Das Bundesamt machte in der Folge keine weiteren Ausführungen in der Sache.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
II.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist zur Entscheidung über die gestellten Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO berufen (1.), die Anträge sind darüber hinaus zulässig (2.) und begründet (3.), so dass wie vorstehend zu tenorieren war.
1. Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die begehrte Entscheidung zuständig. Da sich die Antragsteller in Litauen aufhalten, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Das Bundesamt für … (Bundesamt) hat seinen Sitz in …, so dass das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung berufen ist. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Referenzpersonen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
2. Die gestellten Anträge sind zulässig.
Die Antragsteller sind insbesondere nach § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Hierfür ist erforderlich, dass aufgrund des Vortrags überhaupt in Betracht kommt, dass den Antragstellern ein Rechtsanspruch zusteht (Anordnungsanspruch) sowie die Durchsetzung dieses Anspruchs dringlich ist bzw. der Anspruch ohne eine Eilentscheidung in unzumutbarer Weise gänzlich gefährdet wäre und unterzugehen drohte (Anordnungsgrund). Beides ist vorliegend der Fall.
Die Möglichkeit, sich vom Ausland aus auf die Regelungen der Dublin III-VO zu berufen, ist dabei grundsätzlich gegeben. Bereits die Regelungen der Dublin III-VO selbst sprechen dafür, wie die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO belegen. Dies ergibt sich auch aus Art. 47 Europäische Grundrechts-Charta (GrCh) sowie aus Art. 6 GG (so VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21). Im Gegenteil wäre ein Verfahren vor litauischen Gerichten etwa mit dem Ziel der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Übernahme der Antragsteller nicht möglich und damit auch nicht vorrangig (vgl. insoweit VG Ansbach, B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.50079 – juris Rn. 20).
3. Die Anträge sind darüber hinaus begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile für den Antragsteller unzumutbar, diese in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragsteller haben Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
3.1 Der Anordnungsgrund, d.h. die besondere Dringlichkeit der Angelegenheit, im Sinne von § 123 Abs. 1 VwG0 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich aus der Tatsache, dass die Asylanträge der Antragsteller bereits durch die Republik Litauen abgelehnt wurden und dass jederzeit mit einer Entscheidung der litauischen Behörden über das eingelegte Rechtsmittel zu rechnen ist, so dass nur eine Entscheidung im Eilverfahren diese Konsequenz sicher verhindern kann.
3.2 Den bisher ermittelten Sachverhalt zu Grunde gelegt, ist nach hier gebotener, aber auch ausreichender summarischer Prüfung ein Anordnungsanspruch der Antragsteller hinreichend wahrscheinlich.
In Betracht kommt nach dem Dafürhalten des Gerichts sowohl ein Anspruch aus Art. 9 oder jedenfalls aus Art. 10 und Art. 17 der Dublin-III-VO.
(1) Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat gemäß Art. 9 Dublin-III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz des Antragstellers auf dessen schriftlich mitgeteilten Wunsch hin zuständig.
Bei der Ehefrau und Mutter der Antragsteller als Referenzperson handelt es sich um eine Familienangehörige gemäß Art. 2 lit. g) Dublin-III-VO. Jedoch war dieser erst mit Urteil des VG … vom … 2021 subsidiärer Schutz zuerkannt worden. Zwar erging die vorherige Ablehnung ihres Asylantrages durch das Bundesamt vom 20. November 2019 in rechtswidriger Weise. Es ist daher fraglich, ob aufgrund dessen der Zuständigkeitsregelung aus Art. 9 Dublin-III-VO, wie von der Antragsgegnerin im Rahmen der Ablehnung des Aufnahmeersuchens vom 10. Dezember 2021 geltend gemacht, die Wirkung des Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO entgegengehalten werden kann. So ist zwar gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Demnach wäre vorliegend auf die Situation zum Zeitpunkt der Antragstellung am 3. September 2021 abzustellen. In diesem Zeitpunkt war der Referenzperson jedoch noch kein internationaler Schutz zugesprochen worden, weil der Asylantrag zunächst vom Bundesamt abgelehnt worden war und die stattgebende Entscheidung des VG … erst am … 2021 erfolgte.
Die Voraussetzungen der Zuerkennung des internationalen Schutzes für Familienangehörige gemäß § 26 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 5 i.V.M. § 4 AsylG abgeleitet von ihrem damals minderjährigen Sohn … lagen im Zeitpunkt der Asylantragstellung durch die Referenzperson am 20. März 2019 bereits vor. In den Gründen des Ablehnungsbescheids der Antragsgegnerin vom 20. November 2019 finden sich diesbezüglich allerdings keinerlei Ausführungen. Es spricht daher einiges dafür, dass die Ablehnung in offensichtlich rechtsfehlerhafter Weise erging und dass es der Antragsgegnerin verwehrt ist, sich auf die Wirkungen dieses Bescheids zu stützen. Im Gegenteil ist im Hinblick auf das Urteil des VG … vom … 2021 rückwirkend bereits im Zeitpunkt der Asylantragstellung der Antragsteller in Litauen von einem Bestehen des subsidiären Schutzstatus der Referenzperson auszugehen, da dessen Voraussetzungen bereits erfüllt waren. Dass diesbezüglich zunächst eine rechtsfehlerhafte Entscheidung erging und diese erst 2 Monate nach Stellung der Asylanträge durch die Antragsteller gerichtlich korrigiert wurde, kann sich im Hinblick auf die in den Erwägungsgründen der Dublin-III-VO niedergelegte vorrangige Achtung des Familienlebens und des Grundsatzes der Einheit der Familie, sowie Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh nicht zulasten der Antragsteller auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auswirken, zumal auf diese Weise die rechtswidrige Behördenentscheidung noch perpetuiert würde.
(2) Eine Entscheidung darüber kann jedoch – zumal im vorliegenden Eilverfahren mit seinem nur summarischen Prüfungsmaßstab – dahinstehen, weil sich ein Anordnungsanspruch jedenfalls aus Art. 10 Dublin III-VO ergibt.
Hat ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist demnach dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.
Zum Zeitpunkt der Antragstellung in Litauen am 3. September 2021 war im Asylverfahren der Referenzperson lediglich eine nicht bestandskräftige und rechtswidrige behördliche Entscheidung ergangen. Diese erfüllt entgegen dem Vorbringen der Antragsgegnerin in der Antragserwiderung vom 2. Februar 2022 nicht die Anforderungen an die von Art. 10 Dublin-III-VO geforderte Erstentscheidung in der Sache. Zweck der Regelung ist die Wahrung der Familieneinheit, wobei nach dem 14. Erwägungsgrund der Verordnung im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, bei Anwendung der Verordnung die Achtung des Familienlebens vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein sollte. Diesem Ziel kann nur hinreichend Rechnung getragen werden, indem nicht zwischen behördlichem und gerichtlichem Verfahren unterschieden, sondern eine gemeinsame Zuständigkeit angenommen wird, die erst endet, wenn das Asylverfahren der Familienangehörigen rechtskräftig abgeschlossen ist. Art. 10 Dublin-III-VO stellt demnach nicht auf die erste behördliche Entscheidung, sondern auf eine bestandskräftige Erstentscheidung in der Sache ab (auch auch OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17. August 2021 – 1 LA 43/21 – juris Rn. 8 ff; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. September 2019 – OVG 6 N 58.19 – juris Rn. 9 ff.; Bruns in NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, § 27a AsylvfG Rn. 38).
Dem steht auch der Vortrag der Antragsgegnerin nicht entgegen, Art. 10 Dublin-III-VO bezwecke, den Vorteil zu nutzen, der sich für die Mitgliedstaaten daraus ergäbe, dass mehrere Familienangehörige zur gleichen Zeit im Asylverfahren stehen und damit wechselweise als Auskunftspersonen zur Verfügung stünden, sodass die gemeinsame Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz der Mitglieder einer Familie durch ein und denselben Mitgliedstaat eine genauere Prüfung der Anträge und kohärente Entscheidungen ermögliche. Denn die Schlussfolgerung der Antragsgegnerin aus diesem 15. Erwägungsgrund, Art. 10 Dublin-III-VO sei daher ab Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung an die Referenzperson bis einschließlich des rechtskräftigen Endes ihres Asylverfahrens nicht anwendbar, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Die Antragsgegnerin hat gerade keine Umstände aufgezeigt, die bezogen auf die Wahrung der Familieneinheit ein unterschiedliches Schutzniveau zwischen behördlichem und gerichtlichem Verfahren rechtfertigen. Vielmehr besteht der angeführte Zweck auch im Hinblick auf die gerichtliche Prüfung der Anträge fort und ermöglicht auch hier widerspruchsfreie Entscheidungen, sodass gerade auch die gerichtliche Entscheidungsfindung von einer gemeinsamen Antragsbearbeitung durch denselben Mitgliedstaat profitiert.
(3) Nimmt man nicht bereits an, dass ein Anspruch der Antragsteller aus Art. 9 oder 10 Dublin III-VO besteht, so ergibt sich jedenfalls ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Demnach kann der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Artikeln 8 bis 11 und 16 Dublin-III-VO nicht zuständig ist. Im Rahmen einer Ermessensentscheidung, welche gemäß § 114 VwGO nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist, hat der angerufene Staat – vorliegend die Antragsgegnerin – daraufhin die familiären und humanitären Belange aller Familienangehörigen zu prüfen. Die Antragsgegnerin hat jedoch das ihr somit zustehende Ermessen offenbar überhaupt nicht ausgeübt, denn die Ablehnung des Übernahmegesuchs vom 10. Dezember 2021 lässt keinerlei Ermessenserwägungen im Hinblick auf Art. 17 Abs. 2 Dublin-III-VO erkennen.
Darüber hinaus scheint derzeit vorliegend eine Ermessensreduzierung auf Null im Hinblick auf den Nachzug der Antragsteller hinreichend wahrscheinlich.
Ein Übernahmeersuchen der litauischen Behörden an die Bundesrepublik Deutschland zur Familienzusammenzuführung wurde nach Angaben der Antragsgegnerin am 2. Dezember 2021 gestellt. Es liegen auch humanitäre Gründe für den Selbsteintritt, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, vor. Bei den Antragstellern handelt es sich um den Ehemann beziehungsweise die minderjährigen Kinder der Referenzperson. Den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin-III-VO lässt sich der besondere Schutz des Familienlebens und des Kindeswohls sowie der Grundsatz der Wahrung der Familieneinheit entnehmen. Insbesondere für die minderjährigen Antragsteller stellt die Trennung der Familie eine besondere Härte dar; der Antragsteller zu 3) ist erst 9 Jahre alt und bereits seit über 2 Jahren von seiner Mutter getrennt. Eine Familienzusammenführung mittels Visumverfahren ist zudem nach Angaben der Antragsteller unmöglich, da diese nicht über visierfähige Pässe oder die Möglichkeit der Ausstellung solcher verfügen. Zu berücksichtigen ist zudem die Tatsache, dass der Antrag der Referenzperson auf subsidiären Schutz durch die Antragsgegner zu Unrecht abgelehnt und damit eine wesentlich früher mögliche Familienzusammenführung vereitelt wurde.
Die Gesamtschau dieser Umstände lässt daher jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen.
4. Die Kostenentscheidung des erfolgreichen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
5. Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.


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