Europarecht

einstweiliger Rechtsschutz (Stattgabe), Hilfe für junge Volljährige, stationäre Unterbringung

Aktenzeichen  M 18 E 22.286

Datum:
4.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2301
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 41
SGB VIII § 34

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung im … … Haus bzw. in einer gleich geeigneten betreuten Wohneinrichtung für einen Zeitraum von sechs Monaten nach Zustellung dieser Entscheidung zu bewilligen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm vorläufig Hilfe für junge Volljährige in Form einer stationären Unterbringung zu bewilligen.
Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und laut der Alterseinschätzung des Antragsgegners vom 26. März 2021 am 1. Januar 2004 geboren. Er reiste als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Deutschland ein. Am 27. Februar 2021 wurde er zunächst vom Jugendamt des Landkreises K …, anschließend am 2. März 2021 vom Jugendamt in T … vorläufig in Obhut genommen. Mit Bescheid der Landesstelle des Freistaates Bayern für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen vom 17. März 2021 wurde der Antragsteller dem Jugendamt des Antragsgegners zugewiesen und von diesem am 26. März 2021 in Obhut genommen.
Mit Beschluss des AG M … – Familiengericht – vom … Juni 2021 wurde das Jugendamt des Antragsgegners zum Vormund für den Antragsteller bestellt.
Für den Zeitraum vom 24. Juni 2021 bis einschließlich 31. Dezember 2021 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller mit Bescheid vom 4. August 2021 Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII für die Unterbringung im … … Haus, in welchem der Antragsteller bereits seit dem 9. April 2021 wohnte.
Am 24. Oktober 2021 beantragte der Antragsteller eine „Fortführung einer laufenden Jugendhilfemaßnahme über das 18. Lebensjahr hinaus“. Er begründete seinen Antrag damit, dass er weiter im … Haus wohnen wolle, weil er noch Lernbedarf habe, sich alleine zu versorgen. Er brauche Hilfe beim Deutschlernen, den Hausaufgaben und der Schule. Er könne nicht alleine aufstehen, habe Lernbedarf bezüglich Kochen und dem Umgang mit dem Geld. Zudem benötige er Unterstützung beim Umgang mit Regeln und Gesetzen sowie bei der Termingestaltung.
Gemäß einer in der Behördenakte befindlichen internen E-Mail einer Mitarbeiterin des Jugendamts des Antragsgegners vom 10. November 2021 sei am Vortag im Fachgremium die stationäre Fremdunterbringung zur Volljährigkeit des unbegleiteten minderjährigen Ausländers abgelehnt worden. Zur Bewältigung des Übergangs und der Aufarbeitung der pädagogischen Themen sei eine Erziehungsbeistandschaft empfohlen worden. Es werde um Bewilligung im Umlaufteam gebeten.
Laut einem ebenfalls in der Behördenakte befindlichen „Fallübergabedokument“ vom gleichen Tag habe das Umlaufteam der Hilfe zugestimmt. Begründet wurde dies damit, dass der Antragsteller noch Unterstützungsbedarf in Form einer ambulanten Hilfe nach § 41 i.V.m. § 30 SGB VIII habe. Er finde sich im deutschen Behördensystem noch nicht zurecht und benötige noch Unterstützung bei der Terminierung. Der Antragsteller sei auch psychisch nicht stabil, weshalb eine höhere Stundenzahl von 70 Fachleistungsstunden erforderlich sei.
Noch am gleichen Tag erhielten die Einrichtung und der Bezugsbetreuer per E-Mail Kenntnis von der Entscheidung des Fachgremiums dahingehend, dass der Antrag auf Volljährigenhilfe in Bezug auf stationäre Fremdunterbringung abgelehnt worden sei. Dafür werde aber ein Angebot für Erziehungsbeistandschaft im Fachgremium aufgezeigt, so dass angefragt werde, ob die Übernahme einer Erziehungsbeistandschaft möglich sei.
Zur Begründung der Entscheidung wurde vom Jugendamt des Antragsgegners per E-Mail vom 11. November 2021 ausgeführt, dass mit einer Anbindung an Beratungsstellen und einer Unterstützung im Übergang in Form einer ambulanten Erziehungshilfe mit dem Antragsteller die noch zu bearbeitenden Themen in ambulanter Form gut bearbeitet werden könnten. Es liege „kein § 35a-Bedarf vor oder andere triftige Gründe“. Ein Ablehnungsbescheid sei nicht notwendig, da die Volljährigenhilfe in Verbindung mit der Erziehungsbeistandschaft (§ 41 i.V.m.§ 30 SGB VIII) gewährt werde. Somit werde die Volljährigenhilfe nicht abgelehnt, „nur die Form folge der Empfehlung des Fachgremiums“.
Am 17. November 2021 wurde dem Jugendamt des Antragsgegners vom Bezugsbetreuer des Antragstellers über den Berichtszeitraum vom 24. Mai 2021 bis 15. November 2021 ein Entwicklungsbericht, datiert auf den 30. Oktober 2021, vorgelegt. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antragsteller bei der täglichen Hygiene (Ziffer 1.3) teilweise begleitet werden müsse. Seine Zimmerhygiene sei ausreichend. Er benötige hier weiterhin Unterstützung und Führung durch die Betreuung der Einrichtung. Hinsichtlich der psychischen Entwicklung (Ziffer 3.1) werde in der Sprache des Antragstellers weiterhin ein massives Hindernis für eine verselbstständigte Lebensführung gesehen. Die nicht ausreichende Alphabetisierung schränke diese Barriere so weit ein, dass der Antragsteller aus Sicht des Bezugsbetreuers nicht bereit für die selbstständige Lebensführung sei. In mehreren Einzelgesprächssituationen, die teilweise mit der Traumapädagogin im Haus begleitet worden seien, wirke der Antragsteller innerlich zerrissen. Im Zusammenhang mit den Fluchterfahrungen erlebe der Bezugsbetreuer ihn als stark emotional und dissoziiert. Hinsichtlich der Selbstständigkeit (Ziffer 6.) sei durch die im Entwicklungsbericht näher beschriebenen fehlenden Ressourcen im sprachlichen, sozialen und Bildungsbereich eine verselbstständigte Lebensweise aktuell nicht gegeben. Der Antragsteller besitze rudimentäre Fähigkeiten zur Lebensbewältigung und lerne aktuell, diese auf den Lebenskontext in Deutschland abzuleiten. Aus Sicht des Bezugsbetreuers würden auch die traumatische Vergangenheit sowie die daraus resultierenden Folgen eine selbstwirksame Lebensgestaltung zum 18. Lebensjahr beeinflussen. Unter der Überschrift „Perspektive“ wird ausgeführt, dass der Entwicklungsstand des Antragstellers nur teilweise soweit ausgebildet sei, um sich komplexeren Themen zu nähern. Aufgrund der radikalen Lebensänderung sei eine intensive Begleitung notwendig, um eine wenigstens ausreichende Anpassung zu ermöglichen. Aus Sicht des Bezugsbetreuers sei eine Unterbringung im Rahmen einer stationären Jugendhilfeform zwingend erforderlich. Der Antragsteller könne in einer Gemeinschaftsunterkunft aufgrund seiner mangelnden sozialen und kulturellen Bildung, der unzureichenden Alphabetisierung und sprachlichen Fähigkeit keine selbstständige Lebensführung erreichen und es würde dessen Verwahrlosung drohen. Bei dem Antragsteller würden sich in allen Lebensbereichen, die für ein verselbstständigtes Leben notwendig seien, Defizite zeigen. Diese würden aus sprachlichen, entwicklungsbedingten und biografischen Hintergründen resultieren. Laut Einschätzung des Bezugsbetreuers sei der Antragsteller in allen Lebensbereichen der Gefahr ausgesetzt, zu verwahrlosen, suchtkrank zu werden oder dass ein psychischer Abbau einsetze. Es sei zu befürchten, dass ohne eine professionelle Unterstützung des Antragstellers eine dauerhafte gesellschaftliche Sorgepflicht entstehe.
Das Hilfeplanprotokoll vom 2. Dezember 2021 über das (wohl) am 30. November 2021 stattgefundene Hilfeplangespräch hält zunächst fest, dass der Bezugsbetreuer des Antragstellers aufgezeigt habe, dass der Antragsteller im lebenspraktischen Bereich keine Unterstützung mehr benötige. Themen wie Reinigung und Ordnung würden gut klappen. Es wurde festgehalten, dass der Antragsteller die Nachricht erhalten habe, dass im Fachgremium bezüglich seines Antrags eine ambulante Hilfe in Form einer Erziehungsbeistandschaft bewilligt worden sei. Die stationäre Jugendhilfe werde zur Volljährigkeit beendet. Themen der selbstständigen Lebensführung seien mit dem Erziehungsbeistand zu bearbeiten. Der Amtsvormund und der Bezugsbetreuer hätten laut Protokoll hinsichtlich der Beendigung der stationären Jugendhilfe Bedenken aufgezeigt. Der Bezugsbetreuer sehe die Gefahr, dass beim Antragsteller ohne stationäre Jugendhilfe eine Destabilisierung möglich sei. Der Antragsteller lebe von Tag zu Tag, eine mittel- oder langfristige Perspektive sei für ihn noch nicht vorhanden. Laut Protokoll habe der Amtsvormund erklärt, der Antragsteller agiere noch sehr kindlich.
Mit Schreiben vom 13. Dezember 2021 an den Antragsgegner folgte seitens der Einrichtung eine Stellungnahme und Berichtigung zum Hilfeplangespräch mit dem Hinweis, dass das Protokoll aus ihrer Sicht nicht den tatsächlichen Hilfe- und Gesprächsverlauf wiedergebe. Es wurde im Wesentlichen gerügt, dass die Grundlage der Entscheidung des Fachgremiums sich allein auf den Antrag des Antragstellers stütze und sowohl den Entwicklungsbericht als auch das Hilfeplangespräch außer Acht lasse. Es stelle sich der Einrichtung die Frage, wie das Fachgremium eine individuelle, bedarfsgerechte pädagogische Entscheidung habe treffen können, wenn weder der Antragsteller noch die zuständige Fachkraft der unterbringenden Einrichtung angehört worden sei. Ein Bericht über den Hilfeverlauf habe auch nicht vorgelegen. Die begründeten Bedenken des Bezugsbetreuers, die nicht nur von einer Destabilisierung ausgehen würden, sondern von einer möglichen Verwahrlosung des Antragstellers, seien nicht beachtet worden. Aus Sicht des Bezugsbetreuers und dem bisherigen Hilfeverlauf komme der Bezugsbetreuer zu der klaren Einschätzung, dass eine intensive sozialpädagogische Begleitung notwendig sei, um eine wenigstens grundlegende Verselbstständigung zu ermöglichen. Dies könne nur im Rahmen einer stationären Jugendhilfemaßnahme sichergestellt werden. Nach dem Ermessen des Bezugsbetreuers könne der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft selbst mit einer ambulant betreuten Erziehungsbeistandschaft keine selbstständige Lebensführung erreichen und die genannte Verwahrlosung drohe. Der Bezugsbetreuer habe im Hilfeplangespräch geäußert, dass eine externe therapeutische Anbindung diesen klaren pädagogischen Bedarf nicht erfasse. Die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung werde zum jetzigen Zeitpunkt angezweifelt.
Mit Bescheid des Antragsgegners vom 20. Dezember 2021, dem Amtsvormund am gleichen Tag zugestellt, wurde dem Antragsteller ab 1. Januar 2022 bis längstens 30. Juni 2022 Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 i. V.m. § 30 SGB VIII in Form einer Erziehungsbeistandschaft gewährt. In der Begründung führte der Antragsgegner aus, dass die Notwendigkeit der Hilfegewährung durch den Fachdienst geprüft und festgestellt worden sei. Die Voraussetzungen des § 41 SGB VIII seien erfüllt.
Am 23. Dezember 2021 stellte der Amtsvormund für den Antragsteller beim Verwaltungsgericht München „vorab einen isolierten Prozesskostenhilfe-Antrag“ (M 18 K0 21.6650). Es wurde insoweit auf einen als Anlage beigefügten Klageentwurf Bezug genommen, laut dem „der Antragsteller beantragt, Hilfen gemäß § 41 SGB VIII in Form von stationären Hilfen über den 31. Dezember 2021 hinaus zu leisten“. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass in dem Entwicklungsbericht der stationären Jugendhilfeeinrichtung vom 30. November 2021 auf eine akute Dringlichkeit der Weiterführung von stationären Hilfen verwiesen worden sei. Ansonsten drohe vor dem Hintergrund erheblicher Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung die Verwahrlosung des Antragstellers. Bei der Entscheidung im Fachgremium hinsichtlich einer Beendigung der stationären Jugendhilfe zum 31. Dezember 2021 habe der Entwicklungsbericht noch nicht vorgelegen und sei den entscheidenden Stellen auch zum Zeitpunkt des Hilfeplangesprächs nicht bekannt gewesen. Die gesetzlich vorgeschriebene individuelle Hilfegestaltung werde in Frage gestellt. Eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbstständige Lebensführung des Antragstellers sei aufgrund der momentan beschriebenen Persönlichkeitsentwicklung nicht gewährleistet.
Mit Schreiben vom 28. Dezember 2021 wies das Gericht darauf hin, dass Voraussetzung für die Gewährung von Prozesskostenhilfe sei, dass den Beteiligten Prozesskosten treffen können, die ihm durch die Prozesskostenhilfe abgenommen werden können. Da das vorliegende Verfahren gerichtskostenfrei sei und der Antragsteller keinen Bevollmächtigten beauftragt habe, könnten solche Kosten aktuell jedoch nicht entstehen. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe müsste folglich mangels Rechtsschutzbedürfnis abgelehnt werden. Das Gericht empfahl daher, den Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückzunehmen und ggf. zu erklären, ob der bisher bedingt gestellte Klageantrag nun als unbedingt zu betrachten sein solle. In diesem Zusammenhang wies das Gericht darauf hin, dass die Klagefrist gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 20. Dezember 2021 durch die Stellung des isolierten Prozesskostenhilfeantrags nicht gehemmt werde. Des Weiteren wies das Gericht darauf hin, dass mit einer Entscheidung über die Klage nicht zeitnah gerechnet werden könne. Daher müsse ggf. zusätzlich ein Eilantrag gestellt werden.
Mit Schriftsatz vom … Januar 2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am selben Tag, wurde vom Vertreter des (ehemaligen) Amtsvormunds des Antragstellers unter Bezugnahme auf den richterlichen Hinweis vom 28. Dezember 2021 mitgeteilt, dass der Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückgenommen werde. Der bisher bedingt gestellte Klageantrag sei nun als unbedingt zu betrachten (M 18 K 22.285). Zudem werde
Eilantrag gestellt.
Zur Begründung wurde hinsichtlich des Eilantrags ausgeführt, dass die Jugendhilfe beendet worden sei und der Antragsteller inzwischen in einer Gemeinschaftsunterkunft lebe.
Mit Schriftsatz vom 21. Januar 2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am selben Tag, beantragte der Antragsgegner
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Antrag zum einen unzulässig sei, da „keine Prozessfähigkeit des Amtsvormunds“ vorliege. Zum anderen sei der Antrag auch unbegründet, da der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft habe machen können. Der Antragsgegner habe den Jugendhilfebedarf ausführlich geprüft und sei zu dem Schluss gekommen, dass dieser mittels einer ambulanten Unterstützung ausreichen befriedigt werden könne. Dies sei im Hilfeplangespräch ausführlich besprochen und dem Antragsteller mitgeteilt worden. Dem Hilfeplangespräch habe der Entwicklungsbericht vom 30. Oktober 2021 zu Grunde gelegen. Außerdem habe die Entscheidung auf dem konstanten Austausch der sozialpädagogischen Fachkraft des Antragsgegners mit der Einrichtung beruht. Zu der Stellungnahme vom 13. Dezember 2021, insbesondere zum angeführten psychologischen Unterstützungsbedarf, sei anzumerken, dass dem Antragsgegner weder eine psychiatrische Anbindung/Unterbringung noch eine therapeutische externe Anbindung als notwendig gemeldet worden sei. Wäre der Bedarf aufgezeigt worden, hätte eine Anbindung an einen externen Therapeuten stattfinden können. Der noch vorhandene Hilfebedarf könne durch eine „ambulante Hilfe zur Erziehung“ im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft gedeckt werden. Im Abschlusshilfeplangespräch für die Hilfe nach § 34 SGB VIII habe der Bezugsbetreuer berichtet, dass der Antragsteller im lebenspraktischen Bereich keine Unterstützung mehr benötige. Themen wie Reinigung und Ordnung würden gut funktionieren. Mit dem Erziehungsbeistand könne der Antragsteller die noch vorhandenen Ziele gut bearbeiten. Darüber hinaus sei am 3. und 5. Januar 2022 mitgeteilt worden, dass der Wechsel des Antragstellers in die Gemeinschaftsunterkunft gut gelungen sei. Dem Antragsteller gehe es gut, es seien keinerlei psychische Auffälligkeiten rückgemeldet worden. Die aufgeführten Bedenken, wonach bei Beendigung der stationären Unterbringung eine Destabilisierung sowie eine Verwahrlosung des Antragstellers drohen würde, könnten entkräftet werden. Ein Bedarf für eine stationäre Unterbringung werde daher nicht gesehen. Aus Sicht des Antragsgegners sei auch kein Anordnungsgrund gegeben, da der Antragsteller sich in der Gemeinschaftsunterkunft gut aufgehoben fühle und dort die Unterbringung, Versorgung und pädagogische Betreuung sichergestellt sei.
In einem als „Einverständniserklärung“ bezeichneten Schreiben vom …. Februar 2022 erklärte der Antragsteller insbesondere, dass Frau … U … bis zum 31. Dezember 2021 als „Amtsvormund“ für ihn bestellt gewesen sei und dass sie daher am … Dezember 2021 die „Klage“, die unter dem Aktenzeichen M 18 K0 21.6650 geführt werde, eingereicht habe. Er selbst könne weder lesen noch schreiben und habe vor dem Hintergrund der Pandemiesituation bisher nur sehr geringe Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben können. Den Eilantrag vom … Januar 2022, der unter dem Aktenzeichen M 18 K 22.285 geführt werde, habe Frau U … im Auftrag des Antragstellers und an seiner Stelle für ihn gestellt. Sie solle ihn auch zukünftig in dieser Angelegenheit unterstützen und dürfe an seiner Stelle für ihn handeln. Der Antragsteller führte in diesem Schreiben weiter aus, dass er dringend Unterstützung im Alltag brauche, so wie es durch die Fachkräfte des … Hauses im Entwicklungsbericht dargelegt worden sei. Der Antragsteller verwies insoweit auf eine beigefügte ergänzende pädagogische Empfehlung des Bezugsbetreuers vom 28. Januar 2022. Darin schildert dieser unter anderem, dass der Antragsteller bis zum 3. Januar 2022 im … … Jugendhaus untergebracht gewesen sei. Aus Sicht der ehemalig zuständigen Fachkraft benötige er einen sichern, stabilen und vollstationären Rahmen, in dem er sich durch eine langfristig ausgelegte Hilfeplanung ganzheitlich gesund entwickeln könne. Die zunächst noch notwendige vollstationäre Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung sei notwendig, um den Antragsteller in seinem Alltag strukturierend zu unterstützen, notwendige Sozialisationsschritte zu gehen (Alphabetisierung, schulische Anbindung, lebenspraktische Fähigkeiten) sowie bei einer therapeutischen Anbindung (trauma-)pädagogische Hilfe zu leisten. Im Idealfall solle die vollstationäre Einrichtung nach jetziger Einschätzung über das Angebot verfügen, in ein teilstationäres Setting „auszuschleichen“ und den Antragsteller ohne einen Einrichtungswechsel in eine teilbetreue Wohnform wechseln zu lassen.
Mit Schreiben vom 2. Februar 2022, eingegangen bei Gericht am 3. Februar 2022, nahm der Antragsgegner erneut Stellung. Der Antragssteller habe geschildert, er könne weder lesen noch schreiben und habe bisher coronabedingt nur sehr geringe Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben können. Er würde dringend Unterstützung im Alltag benötigen. Dieser Bedarf könne durch eine ambulante Hilfe zur Erziehung im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft gemäß § 30 SGB VIII gedeckt werden. Aus Sicht des Antragsgegners seien alle Problemlagen des Antragsstellers durch die ambulante Hilfe geklärt. Die Notwendigkeit für eine stationäre Unterbringung werde weiterhin nicht gesehen. Zudem erachte der Antragsgegner Frau U … als nicht prozessfähig. Auf Grund der Volljährigkeit des Antragsstellers zum 1. Januar 2022 habe die Amtsvormundschaft geendet. Dadurch sei die Prozessfähigkeit auf den Antragsteller „übergegangen“. Eine Bestellung zum Betreuer liege nicht vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, auch in den Verfahren M 18 K0 21.6650 und M 18 K 22.285, sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
Das Gericht hat im Hinblick auf die Ausführungen des Antragstellers im Verfahren M 18 K0 21.6650 den Antrag gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO sachdienlich dahingehend ausgelegt, dass in zeitlicher Hinsicht die Verpflichtung des Antragsgegners begehrt wird, Hilfe für junge Volljährige vorläufig für einen dem Hilfebedarf des Antragstellers angemessenen Zeitraum zu bewilligen. Da Hilfe für junge Volljährige aufgrund der Orientierung am konkreten Hilfebedarf des Leistungsberechtigten regelmäßig nur zeitabschnittsweise gewährt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 12 C 16.1572 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 21.2.2013 – 12 CE 12.2136 – juris Rn. 31; VG München, B.v. 24.4.2020 – M 18 E 19.2711 – juris Rn. 48), ist vorliegend sachgerecht auf einen Zeitraum von einem halben Jahr abzustellen. Des Weiteren war davon auszugehen, dass die Unterbringung in einer dem Hilfebedarf des Antragstellers im Allgemeinen entsprechenden Einrichtung – vorrangig jedoch nach Möglichkeit eine Unterbringung in der vormaligen Einrichtung … … Haus – begehrt wird.
Der Eilantrag ist zulässig. Zwar konnte der Amtsvormund den isolierten Prozesskostenhilfeantrag im Dezember 2021 noch im Namen des Antragstellers stellen. Mit Volljährigkeit des Antragstellers am 1. Januar 2022 endete aber die Vormundschaft kraft Gesetzes gemäß § 1882 BGB, so dass der nun Volljährige gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig ist und Prozesserklärungen grundsätzlich nur noch selbst abgeben kann. Er hätte daher die Klage selbst erheben und den Eilantrag selbst stellen müssen. Soweit der nicht anwaltlich vertretene Antragsteller im Schriftsatz vom … Februar 2022 nachträglich eine „Einverständniserklärung“ abgegeben hat, in der er erklärte, dass der (ehemalige) Amtsvormund den Eilantrag vom … Januar 2022 in seinem Auftrag und an seiner Stelle für ihn gestellt habe (s.o.), legt das Gericht diese Erklärung gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO wohlwollend dahingehend aus, dass der Antragsteller insgesamt die vorgenommenen Prozesserklärungen des (ehemaligen) Amtsvormunds billigt und ihnen zustimmt. In der Gesamtschau ist seine Erklärung dahingehend zu verstehen, dass er die Klageerhebung und den gestellten Eilantrag nachträglich genehmigt. Die Genehmigung wirkt auf den Zeitpunkt der Klageerhebung zurück (Hoppe in Eyermann, 15. Aufl. 2019, § 62 VwGO Rn. 13; SchochKoVwGO/Bier/Steinbeiß-Winkelmann, 41. EL Juli 2021, VwGO § 62 Rn. 22; NK-VwGO/Detlef Czybulka/Thorsten Siegel, 5. Aufl. 2018, VwGO § 62 Rn. 65), so dass angesichts der obigen Ausführungen aus Sicht des Gerichts davon auszugehen ist, dass die Klage fristgemäß erhoben wurde. Wegen der somit ordnungsgemäß innerhalb eines Monats nach Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids erhobenen Klage ist auch der Eilantrag insoweit zulässig. Daher kann dahinstehen, ob mit dem streitgegenständlichen Bescheid überhaupt über den Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von stationärer Unterbringung entschieden wurde und ob daher überhaupt eine Klagefrist zu laufen begonnen hat.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 12 CE 11.2215 – juris Rn. 6).
Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber – zumindest teilweise – vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifiziert hohe Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache – jedenfalls dem Grunde nach – spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen – in zeitlicher Hinsicht beschränkten – Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Ein Anspruch des Antragstellers auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII (i.d.F. vom 3. Juni 2021), dem vorliegend allein durch die Unterbringung in Form einer stationären Unterbringung im … … Haus bzw. einer gleich geeigneten betreuten Wohneinrichtung nach § 34 SGB VIII Rechnung getragen werden kann, ist hinsichtlich eines Zeitraumes von einem halben Jahr ausreichend glaubhaft gemacht.
Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten § 27 Abs. 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten, des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt, § 41 Abs. 2 SGB VIII.
Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 41 SGB VIII (i.d.F. vom 3. Juni 2021) nunmehr ausdrücklich formuliert, unter welchen Voraussetzungen Hilfe für junge Volljährige zu gewähren ist. Die Gewährleistung von Hilfe für junge Erwachsene wird damit verbindlicher, weil die Tatbestandsvoraussetzungen nunmehr explizit formuliert sind und die Rechtsfolge zwingend („muss“) daran anknüpft. Der öffentliche Träger hat festzustellen, ob im Rahmen der Möglichkeiten des jungen Volljährigen die Gewährleistung einer Verselbständigung nicht oder nicht mehr vorliegt. Ist dies der Fall, so muss dem jungen Volljährigen in jedem Fall eine geeignete und notwendige Hilfe (weiterhin) gewährt werden (vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/26107, S. 94).
Grundsätzlich unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
Will ein Betroffener – wie hier der Antragsteller – die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung einer bestimmten Hilfemaßnahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erwirken, muss er im Hinblick auf den im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit bestehenden Beurteilungsspielraum des Jugendamts darlegen und glaubhaft machen, dass allein die beanspruchte Hilfemaßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 12 C 16.1693 – juris Rn. 8; B.v. 17.8.2015 – 12 AE 15.1691 – juris Rn. 31; B.v. 21.2.2013 – 12 CE 12.2136 – juris Rn. 30).
Ein grundsätzlicher Bedarf des Antragstellers nach Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenständigen Lebensführung im Sinne des § 41 Abs. 1 SGB VIII ist vorliegend wohl auch aus Sicht des Antragsgegners gegeben. Denn anderenfalls hätte der Antragsgegner dem Antragsteller wohl keine Leistung nach § 41 i.V.m. § 30 SGB VIII bewilligt. Allerdings erachtet der Antragsgegner nicht die Weitergewährung der stationären Unterbringung im … … Haus, sondern die Bewilligung einer Erziehungsbeistandschaft mit 70 Fachleistungsstunden für ein halbes Jahr als aktuell angemessene Hilfemaßnahme.
Unter Zugrundelegung des vom Gericht anzuwendenden Prüfungsmaßstabs der sozialpädagogischen Fachlichkeit erachtet das Gericht die Entscheidung des Jugendamtes hier als nicht mehr vertretbar. Der Antragsteller hat vielmehr glaubhaft gemacht, dass der hinsichtlich der Auswahl der konkreten Hilfemaßnahme gegebene Beurteilungsspielraum des Antragsgegners sich vorliegend – zumindest bis zu einer zeitnahen erneuten Überprüfung des Jugendhilfebedarfs nach einem halben Jahr – allein auf die beantragte Unterbringung im … … Haus bzw. in einer gleich geeigneten betreuten Wohneinrichtung verengt hat.
Denn neben dem vom Antragsgegner bereits nicht ordnungsgemäß durchgeführten Verwaltungsverfahren hat der Antragsgegner darüber hinaus entscheidungserhebliche Gesichtspunkte, die die aktuelle Situation des Antragstellers maßgeblich betreffen und welche derzeit eine Unterbringung in der stationären Einrichtung erforderlich machen, nicht angemessen berücksichtigt. Der Antragsgegner hat sich insbesondere nicht mit allen vom Bezugsbetreuer und vom Amtsvormund vorgebrachten Gesichtspunkten und geschilderten Defiziten des Antragstellers hinreichend auseinandergesetzt.
Das Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII setzt voraus, dass vor einer Entscheidung eine Beteiligung der Betroffenen erfolgt und im Rahmen eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Beteiligten eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation gefunden wird. Zentrales Leitbild der Jugendhilfe ist, junge Menschen nicht als Objekt fürsorgender Maßnahmen zu betrachten, sondern sie in ihrer Subjektstellung zu unterstützen bzw. sie hierzu zu befähigen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-DS 19/26107, S. 1). Die Hilfeplanung dient daher gerade der Offenlegung der Gründe für die Auswahl einer Hilfeform. Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall aus pädagogischer Sicht geeignet und notwendig ist (vgl. LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 8; Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 1, 9ff; BeckOGK/Bohnert, 1.4.2021, SGB VIII § 36 Rn. 19; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII (Stand: 20.05.2021), Rn. 12).
An einer solchen Kommunikation mit dem Antragsteller fehlt es nach Aktenlage vorliegend ebenso wie an einem die Ablehnung der Hilfegewährung nachvollziehbar begründenden Bescheid. Der Antragsgegner hat seine Entscheidung vorliegend vielmehr schon vor dem Hilfeplangespräch getroffen, denn die stationäre Fremdunterbringung des Antragstellers wurde bereits im Fachgremium abgelehnt. Dieser Entscheidung wurde im Rahmen einer behördeninternen Abstimmung zugestimmt. Sie ist nicht nur als interne Vorbesprechung, sondern als endgültige Festlegung zu sehen, denn mit E-Mail vom 10. November 2021 wurde gegenüber der Einrichtung nach außen mitgeteilt, dass die stationäre Fremdunterbringung zur Volljährigkeit des unbegleiteten minderjährigen Ausländers abgelehnt worden sei. Dass diese Entscheidung als endgültig anzusehen ist, wird durch den weiteren Verfahrensverlauf bestätigt. Denn der Antragsgegner hat es – zumindest soweit aus dem Hilfeplanprotokoll vom 2. Dezember 2021 erkennbar – unterlassen, dem Antragsteller im Hilfeplangespräch seine pädagogisch begründete Beurteilung verständlich darzulegen und zu erläutern. Auch ist nach Aktenlage nicht ersichtlich, dass sich der Antragsgegner im Vorfeld des Hilfeplangesprächs am 2. Dezember 2021 mit dem Entwicklungsbericht der Einrichtung vom 30. Oktober 2021 oder sich im Nachgang mit den vom Bezugsbetreuer und vom Amtsvormund im Hilfeplangespräch vom 2. Dezember 2021 aufgezeigten Bedenken hinreichend auseinandergesetzt hätte. Weder hat der Antragsgegner eine Rückmeldung zu der Stellungnahme der Einrichtung vom 13. Dezember 2021 gegeben, noch hat er sich in der Begründung des Bescheids vom 20. Dezember 2021 nachvollziehbar mit den Argumenten für die (weitere) stationäre Unterbringung des Antragstellers auseinandergesetzt. Im o.g. Bescheid wurde die vom Antragsteller beantragte Leistung – nämlich die Heimunterbringung – vielmehr mit keinem Wort erwähnt.
Des Weiteren hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass der hinsichtlich der Auswahl der konkreten Hilfemaßnahme gegebene Beurteilungsspielraum des Antragsgegners sich vorliegend allein auf die beantragte stationäre Unterbringung verengt hat. Es zeigt sich ein Bedarf, der die Unterbringung des Antragstellers in einer stationären Einrichtung erforderlich macht.
Denn zum einen beschreibt der Antragsteller seinen Bedarf in seinem Antrag vom 24. Oktober 2021 insbesondere dahingehend, dass er nicht alleine aufstehen könne. Bereits dies deutet darauf hin, dass hinsichtlich der Befähigung des Antragstellers zu einer eigenständigen Lebensführung größere Probleme vorliegen dürften, als die vom Antragsgegner aufgeführten Defizite dahingehend, dass er sich lediglich noch nicht im deutschen Behördensystem zurechtfinde oder noch Unterstützung bei der Termingestaltung benötige.
Jedenfalls aber zeigt der o.g. Entwicklungsbericht vom 30. Oktober 2021 gerade hinsichtlich der Selbstständigkeit beim Antragssteller große Defizite auf, indem dort unter anderem ausgeführt wird, dass eine verselbstständigte Lebensweise nicht gewährt sei. Der Antragsteller besitze demnach nur „rudimentäre Fähigkeiten zur Lebensbewältigung“. Sein Entwicklungsstand sei nur teilweise soweit ausgebildet, um sich komplexeren Themen zu nähern. Aufgrund der radikalen Lebensänderung sei eine intensive Begleitung notwendig, um eine wenigstens ausreichende Anpassung zu ermöglichen. Aufgrund seiner mangelnden sozialen und kulturellen Bildung, der unzureichenden Alphabetisierung und sprachlichen Fähigkeit sei zu befürchten, dass der Antragsteller keine selbstständige Lebensführung erreiche und seine Verwahrlosung drohe. Laut dem Entwicklungsbericht zeigen sich in allen Lebensbereichen, die für ein verselbstständigtes Leben notwendig sind, Defizite, weshalb der Antragsteller in allen Lebensbereichen der Gefahr ausgesetzt sei, zu verwahrlosen, suchtkrank zu werden oder dass ein psychischer Abbau einsetze. Diese aufgezeigten Defizite können nicht als nur geringfügiger Hilfebedarf im Lebensalltag verstanden werden, sondern offenbaren das Bedürfnis für eine intensiv sozialpädagogische Begleitung.
Auch dem Hilfeplanprotokoll vom 2. Dezember 2021 kann entnommen werden, dass eine solche Gefährdung möglich erscheint, da dort ausgeführt wird, dass der noch als sehr kindlich agierend beschriebene Antragsteller von Tag zu Tag lebe und dass eine mittel- bis langfristige Perspektive für ihn noch nicht vorhanden sei.
Der Verweis des Antragsgegners in der Antragserwiderung, dass in dem Hilfeplangespräch vom 30. November 2021 der Bezugsbetreuer des Antragstellers berichtet habe, dass der Antragsteller im lebenspraktischen Bereich keine Unterstützung mehr benötige und dass Themen wie Reinigung und Ordnung gut klappen würden, vermag keine andere Betrachtung zu rechtfertigen. Zum einen wurden in der o.g. Stellungnahme der Einrichtung vom 13. Dezember 2021, welcher der Antragsgegner in seinen bisherigen Ausführungen nicht substantiiert entgegengetreten ist, Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des Hilfeplanprotokolls geäußert. Zum anderen widerspricht dieser Vortrag des Antragsgegners der Einschätzung im Entwicklungsbericht vom 30. November 2021, denn darin wird bei dem unter Ziffer 1.3 beschriebenen Bereich „Hygiene“ ein differenzierteres Bild aufgezeigt, nämlich, dass auch hierbei noch Unterstützung benötigt werde. Da im Vortrag des Antragsgegners nicht ausreichend substantiiert auf die Problematik der selbstständigen Lebensführung des Antragstellers eingegangen wird, vermag der o.g. pauschale Verweis des Antragsgegners in der Antragserwiderung die o.g. Ausführungen im Entwicklungsbericht nicht nachvollziehbar in Frage zu stellen. Der Antragsgegner setzt sich durchweg nicht hinreichend substantiiert mit einer ggf. drohenden Verwahrlosung auseinander.
Des Weiteren kann der o.g. Stellungnahme zum Hilfeplangespräch vom 13. Dezember 2021 erneut eine Besorgnis hinsichtlich der Lebensbewältigung des Antragstellers entnommen werden. Ungeachtet des psychologischen Unterstützungsbedarfs, zeigt die Stellungnahme zum Hilfeplangespräch – wie auch schon zuvor der Entwicklungsbericht – auf, dass eine intensive sozialpädagogische Begleitung notwendig sei, um eine wenigstens grundlegende Verselbstständigung zu ermöglichen und um eine mögliche Verwahrlosung zu verhindern. Nach Einschätzung des Bezugsbetreuers könne der Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft selbst mit einer ambulant betreuten Erziehungsbeistandschaft keine selbstständige Lebensführung erreichen und die genannte Verwahrlosung drohe. Wie schon zuvor wird deutlich, dass die Fähigkeit des Antragstellers zur eigenverantwortlichen Lebensführung zum jetzigen Zeitpunkt nicht gewährleistet ist. Es wurde daher in dieser Stellungnahme erneut auf eine ernstzunehmende, drohende Verwahrlosung hingewiesen, auf die der Antragsgegner in seinem Vortrag nicht vertieft einging. Der Antragsgegner hat sich nach Aktenlage vielmehr vor Erlass des Bescheids vom 20. Dezember 2021 nicht hinreichend mit der ggf. drohenden Verwahrlosung des Antragsstellers auseinandergesetzt und lässt auch weiterhin hinreichend substantiierte Ausführungen zu dessen selbstständiger Lebensführung vermissen.
Soweit sich der Antragsgegner auf die Rückmeldungen des Bezugsbetreuers vom 3. und 5. Januar 2022 stützt, dass die Bedenken einer Destabilisierung sowie einer Verwahrlosung aufgrund der positiven Rückmeldungen aus der Gemeinschaftsunterkunft entkräftet seien, vermag dies keine andere Betrachtung zu rechtfertigen. Denn diese Einschätzungen sind – zumal der Antragsteller wohl erst am 3. Januar 2022 in die Gemeinschaftsunterkunft wechselte – aufgrund des sehr kurzen Zeitraums nicht hinreichend aussagekräftig und schließen den Eintritt einer baldigen künftigen Destabilisierung oder einer Verwahrlosung des Antragstellers nicht sicher aus.
Die ergänzende pädagogische Empfehlung des Bezugsbetreuers vom 28. Januar 2022 zeigt, dass dieser auch nach wie vor an seiner Einschätzung festhält, dass für den Antragsteller ein sicherer, stabiler und vollstationärer Rahmen erforderlich sei, in dem er sich durch eine langfristig ausgelegte Hilfeplanung ganzheitlich gesund entwickeln kann. Ungeachtet einer (trauma-)pädagogischen Hilfe wird auch hierdurch erneut deutlich, dass eine vollstationäre Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung zunächst noch als notwendig anzusehen ist, um dem Antragsteller in seinem Alltag strukturierend zu unterstützen und um einer ggf. drohenden Verwahrlosung entgegentreten zu können.
Insoweit ist abschließend anzumerken, dass auch die Stellungnahme des Antragsgegners vom 2. Februar 2022 keine konkrete Auseinandersetzung mit der ggf. drohenden Verwahrlosung des Antragsstellers enthält. Aus Sicht des Antraggegners beschränke sich der Bedarf darauf, dass der Antragssteller nicht lesen oder schreiben könne, er nur sehr geringe Kenntnisse der deutschen Sprache habe erwerben können und dringend Unterstützung im Alltag benötige, wofür eine ambulante Hilfe zur Erziehung im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII ausreichend sei.
Um dem aus Sicht des Gerichts bestehenden umfassenden Hilfebedarf des Antragstellers gerecht zu werden, hält das Gericht die vom Antragsgegner vorgesehene Erziehungsbeistandschaft für den Antragsteller im Umfang von 70 Fachleistungsstunden in einem halben Jahr keinesfalls für ausreichend, um ihm die benötigte Unterstützung zu gewähren. Vielmehr hält das Gericht angesichts der obigen Ausführungen zum aktuellen Zeitpunkt eine intensive sozialpädagogische Begleitung für erforderlich, insbesondere auch um einer ggf. drohenden Verwahrlosung entgegentreten zu können.
Das Gericht erachtet derzeit die Gewährung der Hilfe für ein halbes Jahr als sinnvoll. Die nächsten sechs Monate erscheinen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes erforderlich aber auch ausreichend, um mit dem Antragsteller weiter an seiner Verselbstständigung zu arbeiten. Ob der Bedarf des Antragstellers nach diesem Zeitpunkt eine weitere stationäre Unterbringung notwendig macht, ist sodann in einem neuerlichen Hilfeplangespräch zu untersuchen.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können. Würde ihm die beantragte Hilfe für junge Volljährige vorläufig für die kommenden Monate nicht gewährt werden, wäre mit erheblichen Nachteilen für seine persönliche Entwicklung zu rechnen. Der bereits Fortschritte zeigende Entwicklungsprozess des Antragstellers wäre andernfalls erheblich beeinträchtigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.


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