Europarecht

Erfolgloser Eilantrag gegen Dublin-Bescheid (Estland)

Aktenzeichen  B 6 S 17.50914

Datum:
24.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 2, Abs. 4
AsylG AsylG § 25, § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Estland weisen keine systemischen Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung iSd Art. 4 GRCh mit sich bringen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben. .

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine drohende Überstellung nach Estland im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der ledige Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger, Tadschike und sunnitischer Muslim. Er reiste am 22.06.2017 auf dem Landweg im Bundesgebiet ein. Drei seiner volljährigen Brüder, die eine Niederlassungserlaubnis besitzen, und weitere Mitglieder seiner Großfamilie leben in München.
Eine am 27.06.2017 eingeholte VIS-Antragsauskunft ergab, dass die Estnische Botschaft in Ankara am 31.05.2017 dem Antragsteller ein vom 07.06.2017 bis 23.06.2017 geltendes Schengen-Visum für einen einmaligen Kurzaufenthalt in Estland erteilt hatte. Bei der Antragstellung lag ein bis 15.08.2020 gültiger afghanischer Reisepass des Antragstellers vor. Außerdem verfügt der Antragsteller über eine türkische Aufenthaltserlaubnis, die bis 14.03.2019 gültig ist. Eine Eurodac-Recherche ergab dagegen keinen Treffer.
Am 28.06.2017 stellte der Antragsteller in B. einen Asylantrag und erhielt eine Aufenthaltsgestattung. Zuständige Ausländerbehörde für den Antragsteller, der verpflichtet ist, in der Aufnahmeeinrichtung Oberfranken zu wohnen, ist die Regierung von OberfrankenZentrale Ausländerbehörde.
Beim persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des Asylantrages am 28.06.2017, die, wie auch die folgenden Anhörungen am gleichen Tag, in Dari durchgeführt wurde, erklärte er, er sei im April 2017 in Afghanistan aufgebrochen und über Pakistan, den Iran, die Türkei, Griechenland, wo er sich drei Tage zur Durchreise aufgehalten habe, die „Balkanroute“ und Österreich nach Deutschland gelangt. Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages erklärte er, er habe in der Türkei seinen Pass den Schleusern gegeben, damit sei ihm ein Visum für eine Einreise auf dem Luftweg nach Deutschland besorgten. Er selbst habe kein Visum für Estland besorgt. Außerdem gab er an, es sei von Anfang an sein Ziel gewesen, nach Deutschland zu kommen, um mit seinen Brüdern und seiner Familie zu leben. Bei der Anhörung gemäß § 25 AsylG gab er weiter an, er habe das Land verlassen, weil dreimal jeweils zwei mit Pistolen bewaffnete Männer in seinem Haushaltswarenladen in Kabul aufgetaucht seien und von ihm Geld verlangt hätten.
Am 30.06.2017 richtete die Antragsgegnerin ein Aufnahmeersuchen an die Republik Estland. Die zuständige estnische Stelle erklärte sich am 31.07.2017 bereit, den Antragsteller gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO in Estland aufzunehmen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) geht deshalb davon aus, dass die Überstellungsfrist nach Estland 31.07.2017 begann und bis 31.01.2018 läuft.
Mit Bescheid vom 01.08.2017, der den jetzigen Prozessbevollmächtigten des Antragstellers mit Schreiben vom 04.08.2017 zugesandt und dem Antragsteller am 09.08.2017 ausgehändigt wurde, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Estland an (Ziff. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4). Auf die Begründung des Bescheides wird verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 07.08.2017, der am 08.08.2017 bei Gericht eingegangen ist, hat der Antragsteller Klage beim Verwaltungsgericht Bayreuth erhoben sowie beantragt, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 01.08.2017 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten festzustellen, dass in der Person des Antragstellers Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Az. B 6 K 17.50915).
Ebenfalls am 07.08.2017 hat der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Die in der Antragsschrift angekündigte Begründung haben die Prozessbevollmächtigten des Antragstellers bis heute nicht vorgelegt.
Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 11.08.2017, eingegangen am 15.08.2017, beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung verweist sie auf die angefochtene Entscheidung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der nach § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG zulässige Antrag ist unbegründet.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Halbsatz VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage anordnen, wenn die Klage nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 VwGO keine aufschiebende Wirkung hat. Bei seiner Entscheidung hat das Gericht insbesondere eine summarische Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorzunehmen und bei offenen Erfolgsaussichten das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs mit dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides abzuwägen.
Die angegriffene Abschiebungsanordnung stellt sich bei der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage bei der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig dar. Deshalb hat das Aussetzungsinteresse des Antragstellers hinter das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung zurückzutreten.
Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG wird die Abschiebung ohne das Erfordernis einer vorherigen Androhung und Fristsetzung insbesondere dann angeordnet, wenn der Ausländer in einen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 AsylG) abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Voraussetzungen für die Abschiebung erfüllt sind, also feststeht, dass der andere Staat zuständig ist und die Abschiebung in den zuständigen Staat nicht – wenn auch nur vorübergehend – aus anderen Gründen rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich ist.
Diese notwendigen Voraussetzungen liegen hier im Hinblick auf die beabsichtigte Abschiebung des Antragstellers nach Estland vor.
a) Für die Durchführung des Asylverfahrens ist die Republik Estland zuständig.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
aa) Gemäß Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO anwendbar, so lange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat, wenn der Antragsteller ein Visum besitzt, das seit weniger als sechs Monaten ausgelaufen ist, aufgrund derer er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaaten einreisen konnte.
Nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist dann, wenn der Antragsteller ein gültiges Visum besitzt, der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig. Gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.
Als der Antragsteller am 28.06.2017 in Bamberg einen Asylerstantrag stellte, hatte die Republik Estland ihm am 31.05.2017 ein Visum für einen Aufenthalt in diesem Land ausgestellt, das am 23.06.2017 ausgelaufen war. Den Beweis dafür konnte die Antragsgegnerin durch einen von VIS übermittelten Treffer erbringen (Verzeichnis A Beweise I Ziff. 5 Spiegelstrich 3 Durchführungsverordnung Nr. 118/2014 zur Dublin III-VO). Die gemäß Art. 12 Abs. 4 Unterabs. A 1 Satz 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständige Republik Estland hat sich deshalb am 31.07.2017 zu Recht als für die Prüfung des Antrages zuständig erklärt.
bb) Die Zuständigkeit Estlands ist auch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO nach Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Die sechsmonatige Überstellungsfrist, die gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO mit der Annahme des Aufnahmegesuchs durch die estnische Dublin-Einheit am 31.07.2017 zu laufen begann, endet am 31.01.2018 und ist damit noch nicht abgelaufen.
cc) Weiter ergibt sich die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers auch nicht aus Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO. Insbesondere kann der Antragsteller einer Überstellung nach Estland nicht mit Erfolg mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Estland systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S. d. Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen, so dass eine Überstellung nach Estland unmöglich wäre (Art.3 Abs. 2 UnterAbs . 2 und 3 Dublin III-VO).
Dazu wäre es zunächst erforderlich gewesen, dass der Antragsteller konkretisiert hätte, worin die systemrelevanten Schwachstellen liegen sollen, weil das europäische Asylsystem von der Vermutung ausgeht, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta der Europäischen Union und der Genfer Flüchtlingskonvention steht (BayVGH, B.v.08.09.2016 – 13a ZB 16.50052 – juris Rn. 5). Dies hat der Antragsteller jedoch nicht getan. Das Gericht geht deshalb im Einklang mit den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen und der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Potsdam davon aus, dass Estland sowohl im Hinblick auf das dortige Rechtssystem als auch auf die Verwaltungspraxis über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes Asylverfahren verfügt. Asyl – und Flüchtlingsschutz sind gesetzlich vorgesehen und die Regierung hat ein System errichtet, das den Flüchtlingen Schutz bietet. Außerdem ist der Zugang zu anwaltlicher Hilfe und zu Dolmetschern in jedem Verfahrensstadium gewährleistet und es besteht die Möglichkeit, gegen eine ablehnende Entscheidung zu klagen (US-Außenministerium, Country Reports on Human Rights Practices for 2016, Estland, S. 7; VG Potsdam, B. v. 26.05.2016 – VG 6 L 353/16.A – juris Rn. 8).
b) Weiter hat die Antragsgegnerin zu Recht die Feststellung getroffen, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen. Eine individuelle Gefahr für Leib und Leben in Estland hat der Antragsteller nicht vorgetragen.
c) Schließlich ist die Abschiebungsanordnung gemäß § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG auch nicht deshalb rechtswidrig, weil ihr zielstaatsbezogene oder in der Person des Antragstellers begründete inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegenstünden.
Ein inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ergibt sich insbesondere nicht aus einem Anspruch auf Duldung aus rechtlichen Gründen gemäß § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, weil der Antragsteller einen offenbaren Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG hätte, den zu verfolgen ihm durch eine Überstellung nach Estland erschwert oder unmöglich gemacht würde. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug des volljährigen Klägers zu einem seiner volljährigen Brüder zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich wäre.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.
Hinweis:
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.

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