Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen Abschiebungsanordnung wegen Ablaufs der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 8 K 16.50321

Datum:
2.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a, § 75 Abs. 1
Dublin-III-VO Art. 29 Abs. 1, Abs. 2
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1 Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 S. 2 AsylG ist mit Ablauf der in Art. 29 Dublin-III-VO geregelten Überstellungsfrist wegen des damit verbundenen Übergangs der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat rechtswidrig geworden.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Wenn wegen Ablaufs der Überstellungsfrist allein noch die Zuständigkeit der Beklagten zur Durchführung des Asylverfahrens verbleibt, kann der Anspruch auf Durchführung dieses Verfahrens als denknotwendiger Bestandteil des materiellen Asylrechts auch gegenüber dem dann zuständigen Staat geltend gemacht werden.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Mai 2016, Az. …, wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte vom hier gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) zuständigen Einzelrichter (vgl. Beschluss vom 1.12.2016) ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erteilt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die streitbefangene Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG in Nummer 1 des Bescheids vom 4. Mai 2016 ist mit Ablauf der in Art. 29 der VO (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (im Folgenden: Dublin-III-VO), geregelten Überstellungsfrist wegen des damit verbundenen Übergangs der Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO) rechtswidrig geworden. Damit ist auch die Regelung in dessen Nummer 2 nunmehr gegenstandlos. Dies verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Vorliegend ist die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens entfallen und die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-III-VO für die Durchführung zuständig geworden. Nach dieser Vorschrift geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Der Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der 6-Monats-Frist in Art. 29 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 der Dublin-III-VO begründet keinen fingierten Selbsteintritt, sondern stellte eine besondere Zuständigkeitsvorschrift dar, die lediglich vom Ablauf dieser Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedsstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitnah, d. h. innerhalb der Frist der Dublin-III-VO, durchführt, die Verfahrensfolgen tragen muss (BayVGH, B. v. 11.5.2015 – 13a ZB 15.50000 – juris Rn. 4 f.).
Die sechsmonatige Überstellungsfrist ist im vorliegenden Fall abgelaufen. Sie beginnt nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 der Dublin-III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedsstaat – hier gemäß Art. 25 Abs. 2, Abs. 1 Satz 2 der Dublin-III-VO nach Ablauf der zweiwöchigen Frist nach Stellens des Ersuchens vom 21. Dezember 2015 am 5. Januar 2016 – oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Nachdem der Kläger keinen diese Frist unterbrechenden (vgl. dazu die Rechtswirkung der Antragsstellung gemäß § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. §§ 75 Abs. 1, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt hat, ist die sechsmonatige Überstellungsfrist folglich – auch nach Ansicht der Beklagten (vgl. Bl. 18 d. A.) – am 5. Juli 2016 abgelaufen.
Das Verstreichen der Überstellungsfrist am 5. Juli 2016 hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-III-VO zur Folge, dass der zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht. Mit dieser zunächst objektiven und allein verfahrensrechtlich begründeten Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids geht vorliegend ausnahmsweise auch eine subjektive Rechtsverletzung des Betroffenen, hier also des Klägers, einher. Zwar handelt es sich bei den Vorschriften der Dublin-III-VO um objektives Zuständigkeits- und Verfahrensrecht, das grundsätzlich keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers begründet. Wenn allerdings wegen Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-VO allein noch die Zuständigkeit der Beklagten zur Durchführung der Asylverfahrens verbleibt, kann der Anspruch auf Durchführung dieses Verfahrens als denknotwendiger Bestandteil des materiellen Asylrechts auch gegenüber dem dann zuständigen Staat – hier also der Beklagten – geltend gemacht werden (vgl. BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50173 – juris Rn. 24 ff.). Auch im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum – aufgrund der Rechtsnatur der Dublin-II/III-VOen als objektives Zuständigkeits- und Verfahrensrecht – regelmäßigen Fehlen des Drittschutzes bei einem Verstoß gegen Fristen- und Zuständigkeitsregelungen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates (vgl. U. v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – juris, zur Frist für das Aufnahmegesuch nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Dublin II-VO) kann sich der Kläger daher hier auf den Ablauf der Überstellungsfrist des Art. 29 der Dublin-III-VO berufen, da Italien jedenfalls nicht verpflichtet ist, das Asylverfahren durchzuführen. Vorliegend ist zudem auch nichts dafür ersichtlich, dass sich Italien entgegen den unionsrechtlichen Bestimmungen nicht auf den Fristablauf berufen würde und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme des Klägers bereit wäre (BayVGH, B. v. 11.2. 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 4).
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Da die Beklagte als unterliegende Partei die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, bedurfte es keiner Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (§ 166 VwGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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