Europarecht

Ermessensreduzierung auf Null bei Ausübung des Selbsteintrittsrechts im Rahmen des Dublin-Verfahrens wegen schutzwürdiger Beistandsgemeinschaft

Aktenzeichen  M 2 K 15.50214

Datum:
16.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2, Art. 17
AsylG AsylG § 27a, § 34a
EMRK EMRK Art. 8
GG GG Art. 6

 

Leitsatz

1 Erbringt eine bereits volljährige Asylbewerberin gegenüber ihrer psychisch und physisch schwer erkrankten und der deutschen Sprache nicht mächtigen Mutter, deren Asylverfahren in der Bundesrepublik durchgeführt wird, unabdingbare Hilfeleistungen, führt dies im Rahmen des Dublin-Verfahrens ungeachtet der Zuständigkeit Italiens bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung zu einer Ermessensreduzierung auf Null. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Bei Erlass einer Abschiebungsanordnung nach  34a Abs. 1 AsylG sind vom Bundesamt auch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse zu berücksichtigen. Einer Abschiebung kann daher nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK auch das Bestehen einer schutzwürdigen Beistandsgemeinschaft zwischen Familienangehörigen entgegenstehen. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. Januar 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die isolierte Anfechtungsklage ist gegen den Bescheid des Bundesamts, mit dem der Asylantrag nach § 27a AsylG als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung angeordnet wird, ist zulässig. Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung ist statthafte Klageart gegen eine Feststellung nach § 27 a AsylG allein die Anfechtungsklage (BayVGH, B. v. 20.5.2015 – 11 ZB 14.50036 – juris Rn. 11; BayVGH, B. v. 11.2.2015 – 13a ZB 15.50005 – juris Rn. 8 ff.; OVG RhPf, U. v. 5.8.2015 – 1 A 11020/14 – juris Rn. 19; OVG NRW, B. v.16.6.2015 – 13 A 221/15.A – juris Rn. 16 ff.; VGH BW, U. v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 35 ff.). Diese gewährt den erforderlichen wie auch ausreichenden Rechtschutz: Nach Aufhebung des auf § 27a AsylG gestützten Bescheids hat die Beklagte eine inhaltliche Überprüfung des Asylantrags vorzunehmen, ohne dass es hierzu einer gesonderten Verpflichtung der Beklagten bedürfte. Nach Abschluss dieser Prüfung hat die Beklagte eine inhaltliche Entscheidung über das Asylbegehren zu treffen. Im Falle einer negativen Entscheidung kann Verpflichtungsklage auf Statuszuerkennung erhoben werden.
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 7. Januar 2015 ist in dem maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er war daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da Deutschland für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin zuständig ist, ist sowohl die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 27a AsylVfG als auch die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 2 AsylVfG des Bescheids vom 7. Januar 2015 aufzuheben.
Rechtsgrundlage für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheids) ist § 27 a AsylG. Gemäß dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung (Ziffer 2. des Bescheids) ist § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, soll der Ausländer u. a. in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann.
Vorliegend ist aufgrund des Eurodac-Treffers der Kategorie 2 sowie der eigenen Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass Italien nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Mangels Reaktion Italiens auf das Aufnahmeersuchen des Bundesamts vom 3. November 2014 ist die Fiktionswirkung nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO eingetreten. Auch die Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin-III-VO ist aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Beschluss vom 17. April 2015 nicht abgelaufen. Damit wäre Italien weiterhin für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig.
Im hier zu entscheidenden Fall ist jedoch Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil das der Beklagten nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung zustehende Ermessen für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts auf null reduziert ist (a) und zudem einer Abschiebung ein inländisches Vollstreckungshindernis entgegensteht (b).
a) Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.
Das der Beklagten danach zustehende Ermessen ist vorliegend wegen der Hilfsbedürftigkeit der Mutter der Klägerin dahingehend eingeschränkt, dass die Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zu bejahen ist. Bei der Anwendung der Dublin-III-Verordnung ist die Achtung des Familienlebens vorrangig zu berücksichtigen, Mitglieder einer Familie sollen nicht getrennt werden, der Grundsatz der Einheit der Familie soll geachtet werden und von den Zuständigkeitskriterien der Verordnung soll insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen abgewichen werden können, um Familienangehörige, Verwandte oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen (Erwägungen Nrn. 14, 15 und 17 der Dublin-III-VO). Zwar ist die volljährige Antragstellerin nach der Legaldefinition in Art. 2 Buchst. g Dublin-III-Verordnung keine Familienangehörige ihrer Mutter, sie ist jedoch die leibliche Tochter ihrer psychisch und physisch kranken und hilfsbedürftigen, der deutschen Sprache nicht mächtigen Mutter, für die nach dem rechtkräftigen Urteil vom 7. April 2016, Az. M 23 K 15.50070, das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen ist. Zwischen der Klägerin und ihrer Mutter besteht eine seit der Geburt der Klägerin gelebte Gemeinschaft, auf die die Mutter der Klägerin gerade in ihrer derzeitigen Lage dringend angewiesen ist. Es würde den in der Dublin-III-Verordnung verankerten Grundsätzen der Wahrung der Familieneinheit und der Humanität grob widersprechen, wenn das Asylverfahren der Klägerin in Italien durchgeführt werden müsste.
b) Zudem besteht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das von der Beklagten bei Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG zu prüfen ist (BayVGH, B. v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – Rn. 4 m. w. N.; Funke-Kaiser, GK-Asylverfahrensgesetz, Stand Juni 2014, § 34a Rn. 22 m. w. N.). Die Klägerin und ihre hilfsbedürftige Mutter sind, auch wenn die volljährige Klägerin keine Familienangehörige im Sinne der Dublin-III-Verordnung ist, in gerader Linie verwandt und Angehörige einer Familie. Die Mutter der Klägerin ist offensichtlich auf Hilfe und Beistand ihrer Tochter angewiesen. Einer Abschiebung kann in Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK auch entgegenstehen, wenn eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne einer sog. Beistandsgemeinschaft zwischen erwachsenen Familienmitgliedern besteht.
Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein Familienmitglied auf eine auch tatsächlich erbrachte Lebenshilfe des anderen von einigem Gewicht angewiesen ist und sich diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik erbringen lässt, namentlich, wenn einem beteiligten Familienmitglied die Ausreise nicht zumutbar ist. Eine Haus- oder Haushaltsgemeinschaft ist dabei nicht unbedingt erforderlich. Gefordert wird, dass eine erforderliche wesentliche Hilfe geleistet wird, ohne dass dabei die Schwelle der spezifischen Pflegebedürftigkeit erreicht sein müsste. Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte, die nicht Familienangehörige sind (zum Ganzen: Funke-Kaiser, GK-AufenthG, Stand März 2015, § 60 a Rn. 199 ff. m. w. N.). Dies ist hier der Fall.
Nach alledem war der Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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