Europarecht

Erstattung von Kosten für Jugendhilfeleistungen

Aktenzeichen  AN 6 K 18.00385

Datum:
25.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 18616
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayAufnG Art. 7 Abs. 1, Art. 8
SGB VIII § 7, § 42, § 89d

 

Leitsatz

1. Unbegleitet ist ein Minderjähriger, wenn er zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig allein ist oder wenn die Personen, in deren Obhut er steht, nicht personensorgeberechtigt oder zumindest erziehungsberechtigt sind. Maßgeblicher Zeitraum im Sinne des Art. 7 AufnG ist der Zeitraum der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Gewährung der Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe, für die Kostenerstattung begehrt wird. Es ist nicht erforderlich, dass der Minderjährige bereits bei der Einreise unbegleitet war. Bei der Prüfung der Frage, ob der Minderjährige von Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten begleitet wird, bleiben nach Sinn und Zweck der Regelungen zu unbegleiteten Minderjährigen Maßnahmen, die von öffentlich-rechtlichen Trägern getroffen wurden, grundsätzlich außer Betracht.
2. Im Rahmen des Art. 7 AufnG bedarf es keines Zusammenhangs zur Einreise; vielmehr genügt es, wenn der Minderjährige während der Zeit der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unbegleitet ist oder wird.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
3. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

I.
Das Urteil kann gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beteiligten wirksam auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichteten.
II.
Die Klage wurde als allgemeine Leistungsklage zulässig erhoben.
III.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung nicht zu.
1. Grundlage des Kostenerstattungsanspruchs sind Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz – AufnG) vom 24. Mai 2002 (GVBl. S. 192, BayRS 26-5-I), das zuletzt durch § 1 Abs. 275 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98) geändert worden ist (im Folgenden: AufnG).
2. Nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ist der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen, die nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigt sind, Anspruch auf Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfe – (SGB VIII) haben. Die Erstattungspflicht ist gemäß Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG gegenüber einer Erstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII nachrangig.
Die anspruchsbegründenden Voraussetzungen liegen nicht vor, da die Begünstigte während des Zeitraums der streitgegenständlichen Jugendhilfegewährung nicht als unbegleitet anzusehen ist.
a) Unbegleitet ist ein Minderjähriger, wenn er zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig allein ist oder wenn die Personen, in deren Obhut er steht, nicht personensorgeberechtigt oder zumindest erziehungsberechtigt sind (aa). Maßgeblicher Zeitraum im Sinne des Art. 7 AufnG ist der Zeitraum der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und der Gewährung der Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe, für die Kostenerstattung begehrt wird. Es ist nicht erforderlich, dass der Minderjährige bereits bei der Einreise unbegleitet war (bb). Bei der Prüfung der Frage, ob der Minderjährige von Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten begleitet wird, bleiben nach Sinn und Zweck der Regelungen zu unbegleiteten Minderjährigen Maßnahmen, die von öffentlich-rechtlichen Trägern getroffen wurden, grundsätzlich außer Betracht (cc). Die Begünstigte befand sich nach diesem Maßstab, während sie nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigt war und sich in Obhut der Klägerin befand, in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Die Inobhutnahme durch die Klägerin selbst führte nicht dazu, dass sie nachträglich unbegleitet wurde (dd).
aa) Ein Minderjähriger ist unbegleitet, wenn er zum jeweils maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig allein ist oder wenn die Personen, in deren Obhut er steht, nicht personensorgeberechtigt oder zumindest erziehungsberechtigt sind. Der Begriff des unbegleiteten Minderjährigen ist im AufnG nicht ausdrücklich definiert. In systematischer Hinsicht kann er aber in Anlehnung an die beiden in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII ausdrücklich geregelten Begriffsbestimmungen definiert werden. In der Gesetzesbegründung zu § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII wurde ausgeführt, die Vorschrift diene der Klarstellung. Sie entspreche inhaltlich der bislang übereinstimmenden Rechtsauffassung und der behördlichen Praxis (vgl. BT-Drs. 18/12086 vom 25.4.2017, S. 27). Zumindest der grundlegende Rechtsgedanke, dass weder personensorge- noch erziehungsberechtigte Personen vor Ort sind, stellt vor diesem Hintergrund einen verallgemeinerbaren Rechtsgedanken dar, weshalb dieses Begriffsmerkmal auch für den Regelungsbereich des AufnG als maßgeblich anzusehen ist.
bb) Maßgeblicher Zeitraum ist im Rahmen des Art. 7 AufnG der Zeitraum, in dem Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vorliegt und die Leistung der Kinder- und Jugendhilfe, für die Kostenerstattung begehrt wird, gewährt wird. Es ist nicht erforderlich, dass der Begünstigte bereits bei Einreise unbegleitet ist. Die Bezugnahme auf den Zeitpunkt der Einreise in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII ist spezifisch für die vorläufige Inobhutnahme vorgesehen. Zu Recht weist daher die Kommentarliteratur darauf hin, dass der Zeitpunkt der Einreise nur der für die vorläufige Inobhutnahme maßgebliche Zeitpunkt ist. Etwas anderes gilt bereits bei der dauerhaften Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII. Zudem wird darauf hingewiesen, dass aus europarechtlichen Gründen, wegen Art. 2 lit. m) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates eine teleologische Reduktion bei nach der Einreise eintretender Unbegleitetheit vorzunehmen und auf den späteren Zeitpunkt der nachträglichen Unbegleitetheit abzustellen ist (vgl. Kepert/Dexheimer, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 42a Rn. 6). Im Rahmen des Art. 7 AufnG bedarf es keines Zusammenhangs zur Einreise; vielmehr genügt es, wenn der Minderjährige während der Zeit der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz unbegleitet ist oder wird. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:
Der Wortlaut der Art. 7 und 8 AufnG bietet keine Anhaltspunkte für ein solches Erfordernis. Die Rede ist lediglich von unbegleiteten minderjährigen Personen. Sind diese im Sinne des Art. 1 AufnG und § 1 AsylbLG leistungsberechtigt und haben sie Anspruch auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, so kann der Träger der Jugendhilfe Erstattung verlangen. Der Begriff der „Einreise“ ist im Wortlaut der Vorschrift dagegen nicht genannt. Auch der Wortlaut des Art. 8 AufnG – der im Übrigen auch nur die Höhe des Kostenerstattungsanspruchs regelt – bietet keinen Anhaltspunkt für ein einschränkendes Verständnis der in Art. 7 Abs. 1 AufnG zugunsten des Jugendhilfeträgers weit gefassten Anspruchsvoraussetzungen. Auch dort wird der Begriff der „Einreise“ nicht genannt. Dass der Kostenerstattungsanspruch durch eine längere Unterbrechung der Jugendhilfemaßnahme, durch einen späten Beginn oder durch den Umstand zwischenzeitlicher Begleitung des Jugendlichen ausgeschlossen sein könnte, findet keine Andeutung im Wortlaut beider Vorschriften.
Auch der systematische Vergleich spricht gegen die Annahme einer einschränkenden Auslegung des Art. 7 Abs. 1 AufnG. Soll ein Bezug zur Einreise in der genannten Weise vorausgesetzt werden, so ist dies in den einschlägigen Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts ausdrücklich geregelt. So heißt es in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII: „unbegleitet nach Deutschland kommt“. Und § 42a Abs. 1 Satz 2 HS. 1 SGB VIII nimmt ausdrücklich Bezug auf die „Einreise nicht in Begleitung“. Zudem sind die Fälle der Unterbrechung der Jugendhilfeleistung und des späten Beginns (nämlich einen Monat nach der Einreise) in § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII bzw. in § 89d Abs. 3 SGB VIII für diesen Kostenerstattungsanspruch ausdrücklich geregelt. Das Fehlen derartiger Bezugnahmen und Bestimmungen im Regelungsbereich des Art. 7 Abs. 1 AufnG kann vor diesem Hintergrund nur so verstanden werden, dass ein Bezug zur unbegleiteten Einreise, der sich in einem baldigen Beginn der Jugendhilfemaßnahme und ihrer höchstens kurz unterbrochenen Dauer zeigt, keine Voraussetzung der Kostenerstattung des Art. 7 Abs. 1 AufnG sein kann. Auch die Vorschrift des Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG spricht nicht dafür, die – höchst unterschiedlich formulierten – Kostenerstattungsvorschriften des § 89d SGB VIII und des Art. 7 Abs. 1 AufnG gleich zu verstehen. Diese Vorschrift bringt lediglich zum Ausdruck, dass die Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG nachrangig gegenüber der Kostenerstattung aus § 89d SGB VIII ist. Dass die Anspruchsvoraussetzungen der nachrangigen Erstattungsnorm zugunsten des Kinder- und Jugendhilfeträgers „großzügiger“ sind, ist bei Vorliegen eines solchen Vorrangverhältnisses nicht systemwidrig, sondern vielmehr zu erwarten.
Auch die Entstehungsgeschichte der landesrechtlichen Erstattungsnorm und ihr Zweck sprechen gegen ein Erfordernis eines Zusammenhangs zwischen Einreise, Unbegleitetsein und Jugendhilfegewährung.
Nach dem Entwurf der Neufassung des Aufnahmegesetzes vom 5. Februar 2002 ist der zentrale Zweck des Gesetzes, „alle nach dem Asylbewerberleistungsgesetz leistungsberechtigten Personen“ in den Geltungsbereich des AufnG einzubeziehen (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 1). In der Begründung heißt es allgemein: „Die Aufgaben- und Ausgabenzuständigkeit für alle Personen, die nach dem AsylbLG leistungsberechtigt sind, geht insgesamt auf den Staat über“ (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 4). Im Hinblick auf die Kosten für unbegleitete Minderjährige wird ausgeführt: „Um auch in diesem Bereich eine konsequente Regelung zu schaffen, erfolgt die Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht nur wie bisher bei asylsuchenden Personen, sondern bei allen unbegleiteten Minderjährigen, die zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gehören“ (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 5). In der Begründung zu Art. 7 AufnG wird dann ausgeführt: „Die Regelung gilt im Sinn eines einheitlichen und schlüssigen Vollzuges für alle unbegleiteten minderjährigen Personen, die zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gehören (LT-Drs. 14/8632 vom 5.2.2002, S. 7). Beabsichtigt war nach dem Gesetzesentwurf also die Kostenübernahme für alle Minderjährigen, solange sie unbegleitet und leistungsberechtigt nach dem AsylbLG sind. Dass ein besonderer Bezug zur Einreise gegeben sein muss, der nicht besteht, wenn die leistungsberechtigte, minderjährige Person erst nach der Einreise nicht mehr begleitet wird oder wenn die Kinder- und Jugendhilfe länger als einen Monat nach der Einreise begonnen wird oder – wie vorliegend – die Kinder- und Jugendhilfe für einen längeren Zeitraum unterbrochen war, ist dem Entwurf dagegen nicht zu entnehmen. Im Gegenteil, in die Kostenerstattung einbezogen werden sollten die Kosten für alle Personen, die die ausdrücklich genannten Kriterien erfüllen. Eine Absicht, einen Gleichlauf der Erstattungsvoraussetzungen mit § 89d SGB VIII zu erreichen, wird dabei weder ausdrücklich erwähnt noch angedeutet.
In der Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes vom 15. Mai 2012, mit dem insbesondere die Regelung zur Bestimmung des Verhältnisses von bundes- und landesrechtlicher Kostenerstattungsregelung in Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG eingefügt werden sollte, werden die Anspruchsgrundlagen des § 89d SGB VIII und des Art. 7 Abs. 1 AufnG als zwei nebeneinander stehende Kostenerstattungsverfahren beschrieben, die unterschiedliche Voraussetzungen haben, sich dabei aber teilweise überschneiden. Zweck der Änderung war eine Klarstellung des Rangverhältnisses – nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Bayreuth war bis dahin vom Vorrang des Art. 7 Abs. 1 AufnG auszugehen (VG Bayreuth, U.v. 22.2.2010 – B 3 K 09.986 – BeckRS 2010, 37607) -, um eine Schlechterstellung Bayerns im bundesweiten Belastungsausgleich zu vermeiden. Von einer Synchronisierung beider Erstattungsnormen im Sinne eines Gleichlaufs der jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen wurde dabei aber nicht gesprochen (vgl. LT-Drs. 16/12538 vom 15.5.2012, S. 4; ebenso stellte dies die zuständige Staatsministerin in der Plenarsitzung des Bayerischen Landtages vom 23.5.2012 dar, vgl. Bayerischer Landtag, Protokollauszug 102. Plenum, 23.5.2012, Tagesordnungspunkt 1c, S. 2). Ebenso wenig ist von dem Erfordernis eines Bezuges zur Einreise die Rede. Weder war dies Zweck der Änderung noch hat dies im Wortlaut des AufnG Ausdruck gefunden.
Allein in dem Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze vom 21. Februar 2017 (LT-Drs. 17/15589) wird ausgeführt: „Mit den geplanten Änderungen ist auch eine Harmonisierung der Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 und dem bisherigen Art. 7 AufnG, der die Refinanzierung von Kosten durch den Freistaat regelt, und damit eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung verbunden“ (LT-Drs. 17/15589 vom 21.2.2017, S. 9). Beabsichtigt war aber nach dem Wortlaut und dem wesentlichen Regelungsgehalt des Änderungsgesetzes keine völlige Harmonisierung, die einen völligen Gleichlauf aller Anspruchsvoraussetzungen bewirkt hätte. Wesentliche Änderung – und Harmonisierung mit dem Bundesrecht – sollte die Unabhängigkeit der landesrechtlichen Kostenerstattung von dem Aufenthaltsstatus der unbegleiteten minderjährigen Person sein (vgl. LT-Drs. 17/15589 vom 21.2.2017, S. 1). Zudem heißt es: „Häufiger Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG war zudem das unverschuldete Versäumnis der Monatsfrist gemäß § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII“ (LT-Drs. 17/15589 vom 21.2.2017, S. 11). Bereits daraus ist zu lesen, dass die Voraussetzungen beider Kostenerstattungsnormen – solange Art. 7 Abs. 1 AufnG zumindest übergangsweise noch anzuwenden ist – gerade nicht gleichlaufen sollen. Zugleich zeigt der Auszug aus der Begründung, dass das Verstreichenlassen der Monatsfrist nach dem Willen des Landesgesetzgebers nur ein – wenn auch häufiger – Anwendungsfall der subsidiären, landesrechtlichen Kostenerstattung sein sollte („häufiger“, nicht „einziger“ Anwendungsfall).
Die von dem Beklagten vorgelegten Auslegungshinweise des BMFSFJ, die Ergebnisse der „Arbeitsgruppe Kostenerstattungsverfahren bei unbegleiteten Minderjährigen“ und die Ergebnisse der „Punktuation“ führen zu keinem anderen Auslegungsergebnis. Das Gericht ist auch nicht an die in dieser Form niedergelegte Auffassung der Verwaltung gebunden. Rückschlüsse auf die Absichten des Gesetzgebers können angesichts des eindeutigen historischen, systematischen und Wortlautbefundes nicht aus diesen Dokumenten gezogen werden. Insbesondere sind Zweck des Gesetzes und der Wille des Gesetzgebers in den jeweiligen Gesetzesentwürfen eindeutig dargestellt.
Nach alledem spricht die Entstehungs- und Änderungsgeschichte des Art. 7 Abs. 1 AufnG gegen das Erfordernis eines Bezuges der Jugendhilfe und der Unbegleitetheit zur Einreise. Nach dem Willen des Gesetzgebers war Art. 7 Abs. 1 AufnG stets eine gegenüber dem Bundesrecht nachrangige, aber eigenständige Kostenerstattungsregelung, die die vollständige Kostenerstattung für alle unbegleiteten und nach dem AsylbLG berechtigten Minderjährigen gewährleisten sollte. Ein Gleichlauf der Voraussetzungen von § 89d SGB VIII und Art. 7 Abs. 1 AufnG würde dem Zweck, eine vollständige Kostenerstattung zu gewährleisten, gerade zuwiderlaufen.
cc) Personensorgeberechtigt sind nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII die Eltern, Stiefeltern, Adoptiveltern, Lebenspartner oder der Vormund, bei entsprechender Übertragung auch die Pflegeeltern. Erziehungsberechtigt ist demgegenüber nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII neben dem Personensorgeberechtigten auch jede volljährige Person, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dies Vereinbarung bedarf dabei keiner besonderen Form (vgl. Kunkel/Kepert, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Auflage 2018, § 42a Rn. 9f.). Sie kann sogar stillschweigend getroffen werden (vgl. Winkler, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 55. Edition Stand 1.12.2019, § 7 Rn. 5). Zum Nachweis bedarf es dabei keiner hieb- und stichfesten Beweise. Wird der Minderjährige von einem volljährigen Verwandten begleitet, so ist dies ein Indiz für das Bestehen einer solchen Vereinbarung. Daneben muss die Begleitperson aber Kontakt zu den Eltern oder Personensorgeberechtigten haben, da in allen wesentlichen Angelegenheiten Rücksprache mit ihnen möglich sein muss (vgl. DIJF-Rechtsgutachten vom 2.1.2016 – V 1.100 Ho – JAmt 2016, 194 ff.).
Bei der hier maßgeblichen Prüfung der Frage, ob eine fehlende Begleitung durch einen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Sinne des Art. 7 Abs. 1 AufnG vorliegt, bleiben Maßnahmen, die auf Veranlassung oder direkt von jugendhilferechtlichen Trägern getroffen werden, nach Sinn und Zweck dieser Bestimmung und der kinder- und jugendhilferechtlichen Bestimmungen grundsätzlich außer Betracht. Regelungen, die daran anknüpfen, dass eine minderjährige Person unzureichend betreut wird, bezwecken, diesem Umstand von öffentlicher Seite abzuhelfen und dem Minderjährigen das erforderliche Maß an Betreuung zukommen zu lassen. Art. 7 Abs. 1 AufnG zielt darauf ab, die Träger zu schützen und finanziell zu entlasten, die – in Überlast – dazu aufgerufen sind, solche Maßnahmen wegen der Unbegleitetheit eines Minderjährigen zu treffen. Kinder- und jugendhilferechtliche Maßnahmen, die selbst erst zu einer Trennung von den personensorge- oder erziehungsberechtigten Begleitpersonen führen, können aus diesem Grund nicht dazu führen, dass der Hilfeempfänger nachträglich als unbegleitet anzusehen ist. Fälle, in denen ein Minderjähriger zunächst von Personensorge- oder Erziehungsberechtigten betreut wird und dann allein wegen Missständen, unter denen diese Betreuung leidet, in Obhut genommen wird, entsprechen eher der typischen Situation der Gewährung kinder- und jugendhilferechtlicher Leistungen und nicht der besonderen Konstellation der Fürsorge für unbegleitete Minderjährige. Von diesen Kosten sollen die Träger der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Zweck des Art. 7 Abs. 1 AufnG (s.o.) nicht entlastet werden. Sähe man in diesen Fällen den Minderjährigen als nachträglich unbegleitet an, so hätte der zuständige Träger der Kinder- und Jugendhilfe den Tatbestand der „Unbegleitetheit“ des Minderjährigen selbst herbeigeführt. Umgekehrt können staatliche oder kommunale Maßnahmen, die gerade darauf abzielen, dem gegebenen Zustand der Unbegleitetheit abzuhelfen, wie zum Beispiel die Bestellung eines Vormundes, nicht dazu führen, dass der von der Kinder- und Jugendhilfe Begünstigte nicht mehr als unbegleitet im Sinne des Art. 7 Abs. 1 AufnG anzusehen ist. Sind neben der Bestellung eines Vormunds kinder- und jugendhilferechtliche Leistungen zu erbringen, die darin begründet liegen, dass der Minderjährige unbegleitet ist, so handelt es sich um Kosten, vor deren Tragung Art. 7 Abs. 1 AufnG den zuständigen Träger zu schützen bezweckt. Die kinder- und jugendhilferechtliche Leistung dient dann nämlich weiter maßgeblich dem Zweck, der Unbegleitetheit des Minderjährigen abzuhelfen. Zu unterscheiden ist von beiden dargestellten Fällen die Konstellation, in der der minderjährige Hilfeempfänger von seinen personensorge- oder erziehungsberechtigten Begleitern allein gelassen wird. In dieser Konstellation ist der Minderjährige als (nachträglich) unbegleitet anzusehen, da die Trennung von seinen Begleitpersonen nicht auf eine kinder- und jugendhilferechtliche Maßnahme zurückzuführen ist.
dd) Nach diesen Grundsätzen war die von der Kinder- und Jugendhilfe Begünstigte im Zeitraum der streitgegenständlichen Jugendhilfemaßnahme im vorliegenden Fall nicht unbegleitet.
Bei der Einreise war die Begünstigte zunächst unbegleitet. Vom Zeitpunkt der Familienzusammenführung an befand sie sich in Begleitung ihrer Großmutter und ihres Onkels, das heißt in Begleitung volljähriger Verwandter. Diese übernahmen zunächst auch die Fürsorge für die Begünstigte. Sie wohnten gemeinsam in einer Gemeinschaftsunterkunft. Kontakt zu den Eltern der Begünstigten bestand zu dieser Zeit. Dies geht aus der Kinder- und Jugendhilfeakte der Klägerin hervor. Nach oben dargestellten Grundsätzen ist daher davon auszugehen, dass eine Vereinbarung zwischen den Eltern der Begünstigten und ihrer Großmutter, in dessen Obhut sich die Begünstigte befand, bestand, auf der die Erziehungsberechtigung beruht. Demnach war die Begünstigte ab dem Zeitpunkt der Familienzusammenführung begleitete Minderjährige.
Am 15. Februar 2016 wurde die Begünstigte im Rahmen der ihr gewährten Jugendhilfe in Obhut genommen. Die Unterbringung und Trennung von ihrer Erziehungsberechtigten wurde aber durch die Klägerin und damit eine öffentliche Stelle veranlasst und beruhte auf den Konflikten, die zwischen der Begünstigten und ihrer Erziehungsberechtigten bestanden und die ein Einschreiten erforderlich machten. Auch während der Zeit der erneuten Inobhutnahme wäre die Großmutter der Begünstigten bereit gewesen, diese zu betreuen und es bestand regelmäßiger Kontakt. Die Erziehungsberechtigte bemühte sich ausweislich der Kinder- und Jugendhilfeakte der Klägerin aktiv darum, die Minderjährige wieder betreuen zu können. Nach oben dargelegten Grundsätzen wurde die Begünstigte daher durch die Maßnahme der Klägerin nicht nachträglich unbegleitet und ist zum maßgeblichen Zeitpunkt als begleitet anzusehen.
3. Der geltend gemachte Zinsanspruch besteht nicht, da die Hauptforderung nicht besteht.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708, 711 ZPO.
V.
Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 VwGO, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Allein bei dem erkennenden Gericht ist eine größere Zahl an ähnlich gelagerten Rechtsstreitigkeiten anhängig, sodass die Bedeutung der zu klärenden Rechtsfragen über den vorliegenden Einzelfall hinausreicht.


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