Europarecht

Fahrzeug, Kaufvertrag, Sittenwidrigkeit, Rechtsanwaltskosten, Berufung, Kaufpreis, Mangel, Software, Frist, Wirksamkeit, Erstattung, Bindungswirkung, Auslegung, Zahlung, Zug um Zug, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Erstattung des Kaufpreises

Aktenzeichen  20 U 5499/19

Datum:
27.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 32703
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

10 O 3929/18 2019-09-20 Urt LGMUENCHENII LG München II

Tenor

1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts München II vom 20.09.2019, Az. 10 O 3929/18, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts München II ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 31.915,03 € festgesetzt.

Gründe

I.
Die Klagepartei macht gegen die beklagte Automobilherstellerin Schadensersatz- und Gewährleistungsansprüche wegen behaupteter Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen für die Abgasreinigung geltend.
Die Parteien schlossen am 27.03.2013 einen Kaufvertrag über einen Mercedes Benz B 200 CDI zum Preis von 42.500,00 € bei einem Stand von 50 Kilometern (Anlage K16). Das Fahrzeug wurde im Juni 2013 übergeben (vgl. Rechnung vom 12.06.2013, K16). Es verfügt über den Motor OM 651 und unterfällt der EURO 5 – Norm.
Das Fahrzeug verfügt über ein Abgasrückführungssystem (AGR), bei dem das Abgas teilweise in das Ansaugsystem des Motors zurückgeführt wird und erneut an der Verbrennung teilnimmt. Bei bestimmten, im einzelnen streitigen Umgebungstemperaturen wird die Menge des zurückgeführten Abgases verringert (so genanntes „Thermofenster“).
Des Weiteren kommt bei dem Fahrzeug eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung zum Einsatz (geregeltes Kühlmittelthermostat), wobei dessen Arbeitsweise bzw. die konkreten Auswirkungen auf die Abgaswerte im Einzelnen streitig sind. Über ein SCR-System (selektive katalytische Reduktion) verfügt das Fahrzeug nicht.
Das Fahrzeug unterliegt keinem Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt (KBA). Die Beklagte bietet eine freiwilligen Kundendienstmaßnahme in Form eines Software-Updates zur Verbesserung der Emissionswerte an, welches vom KBA freigegeben wurde.
Mit Anwaltsschreiben vom 22.08.2018 (Anlage K 17) erklärte die Klagepartei den Rücktritt vom Vertrag und forderte die Beklagte zur Erstattung des Kaufpreises unter Abzug einer Nutzungsentschädigung auf Basis einer Gesamtlaufleistung von 300.000 Kilometern zuzüglich Zinsen auf den Kaufpreis sowie zur Zahlung außergerichtlicher Anwaltskosten auf, Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs. Eine Frist zur Nachbesserung wurde nicht gesetzt.
Erstinstanzlich hat die Klagepartei vorgetragen, im Fahrzeug sei eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut. Die Motorsteuerungssoftware sei so programmiert, dass sie erkenne, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befindet (die Vornahme des Emissionstests erkennt). Auf dem Prüfstand würden geringere NOx – Werte erzielt als auf der Straße. Dagegen würden auf der Straße die Grenzwerte für Stickoxid nicht eingehalten. Das AGR-System sei so gesteuert, dass bei niedrigen Temperaturen der Grad der Abgasrückführung reduziert werde (Thermofenster). Dabei handele es sich um eine unzulässige Abschaltstrategie. Soweit sich die Beklagte darauf berufe, eine temperaturabhängige Regelung des Systems sei zum Schutz des Motors erforderlich (Gefahr der Versottung), müsse sie dies im Rahmen der sekundären Darlegungslast im Einzelnen substantiiert vortragen. Auch bei der Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung handele es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung. Auf dem Prüfstand werde eine niedrigere Kühlmitteltemperatur und dementsprechend eine andere Abgasreinigungsstrategie verwandt. Im Straßenbetrieb sei diese Funktion deaktiviert und die Emissionen stiegen erheblich an.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Sie hat vorgetragen, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug keine Programmierung, insbesondere keine Betrugssoftware, verwendet werde, die – manipulativ – so gestaltet sei, dass auf der Straße unter „normalen Betriebsbedingungen“ ein anderes Emissionsverhalten des Emissionskontrollsystems angestrebt werde als auf dem Prüfstand. Auch bezüglich des „Thermofensters“ handele sich nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung. Die temperaturabhängige Abgasrückführung diene dem Schutz des Motors. Nicht jede Reduzierung der Wirksamkeit des Emissionsreinigungssystems sei daher eine Abschalteinrichtung oder -strategie. Das KBA genehmige laufend derartige temperaturabhängige Systemsteuerungen. Die Abgasrückführung müsse sinnvollerweise temperaturabhängig betrieben werden, um bei den Temperaturen, bei denen Versottungsrisiken nicht oder nur in hinnehmbaren Maße bestehen, das Potenzial der Abgasrückführung voll auszunutzen und bei niedrigen Temperaturen zu verhindern, dass der Motor beschädigt wird.
Das Fahrzeug werde auch nicht von einer Anordnung des KBA im Zusammenhang mit der sog. „Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung“ erfasst. Es sei falsch, dass die Funktion nur im NEFZ aktiv sei. Die Funktion komme auch im realen Fahrbetrieb zum Einsatz und führe zu einer besseren Emissionskontrolle.
Ein Mangel liege nicht vor, im Übrigen seien Gewährleistungsansprüche verjährt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Sachvortrag der Klagepartei zu unzulässigen Abschalteinrichtungen sei ersichtlich ins Blaue erfolgt. Das Fahrzeug sei unstreitig nicht von einem Rückruf betroffen. Es gebe keinen substantiierten Sachvortrag, welche Organe der Beklagten Kenntnis von der Verwendung bzw. dem Einsatz der Motorsteuerungssoftware gehabt haben sollen. Die Beklagte treffe keine diesbezügliche Darlegungs- und Beweislast. Ein Verstoß gegen die EG-FGV liege nicht vor, die entsprechenden Normen seien im Übrigen nicht drittschützend.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Klagepartei mit ihrer Berufung. Sie erweitert und vertieft ihren Vortrag zu dem Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen. Hinsichtlich der geltend gemachten vertraglichen Ansprüche habe das Landgericht übergangen, dass sie das Fahrzeug bei der Beklagten gekauft habe. Die temperaturabhängige Reduzierung der Abgasreinigung sei nicht „Industriestandard“ gewesen. Die konkrete Funktionsweise sei dem KBA weder angezeigt worden noch bekannt gewesen. Die Abweichung zwischen Prüfstand und Straßenbetrieb sei relevant. Der BGH habe in seiner Entscheidung vom 8.1.2019, VIII ZR 225/17 klargestellt, dass ein Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen die Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 einhalten müsse. Die Beklagte habe im Typgenehmigungsverfahren falsche bzw. unvollständige Angaben gemacht und Mitteilungspflichten verletzt. Was das geregelte Kühlmittelthermostat angehe, so gehöre das Fahrzeug zu der Gruppe von Fahrzeugen, die die Grenzwerte im NEFZ ohne die Kühlmittelsollwerttemperatur – Regelung nicht einhielten. Es sei unzutreffend, dass das Fahrzeug die Prüfstandsituation nicht erkenne, vielmehr orientiere sich das System an den Bedingungen des Prüfzyklus. In Abhängigkeit davon werde die Kühlmittelsolltemperatur gesteuert.
Die Klagepartei beantragt nach einseitiger Teil-Erledigterklärung zuletzt:
1. Die Beklagte und Berufungsbeklagte wird verurteilt, an die Klagepartei 29.116,04 EUR sowie Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 29.08.2018 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeuges Mercedes-Benz B 200 CDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer …366.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Ziffer 1. genannten Fahrzeuges seit dem 29.08.2018 in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an die E. Versicherung AG, … zur Schadennummer: …20-0009 vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1239,40 EUR sowie an die Klagepartei vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 324,60 EUR, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten, sowie die Klagepartei von weiteren vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 469,00 EUR gegenüber der R. Partnerschaft von Rechtsanwälten freizustellen,
hilfsweise:
das Urteil aufzuheben und das Verfahren an das Gericht des ersten Rechtszugs zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertieft ihren Vortrag. Hinsichtlich des „Thermofensters“ sei der Sachvortrag des Klägers schon unschlüssig und unsubstantiiert. Schon deshalb treffe die Beklagte keine sekundäre Darlegungslast. Die Voraussetzungen einer unzulässigen Abschalteinrichtung seien nicht erfüllt. Dies belege die Typgenehmigung des KBA, die Bindungswirkung für Zivilgerichte habe. Ein Rückruf habe zu keinem Zeitpunkt gedroht. Das Vorhandensein eines „Thermofensters“ sei nicht gleichbedeutend mit einer Manipulation. Im Übrigen sei die Beklagte einer vertretbaren Rechtsauffassung gefolgt. Sie habe im Typgenehmigungsverfahren keine falschen oder unvollständigen Angaben gemacht. Erst ab Mai 2016 seien ausführlichere Angaben erforderlich gewesen. Bei der „Kühlmittelsolltemperaturregelung“ handele es sich nicht um eine Regelung, durch die auf dem Prüfstand eine andere Abgasreinigungsstrategie bzw. Emissionskontrollstrategie angewendet würde als im Fahrbetrieb auf der Straße unter gleichen Betriebsbedingungen. Das geregelte Kühlmittelthermostat sei vielmehr in beiden Fallgruppen, also auch im Straßenbetrieb und nicht nur auf dem Prüfstand, aktiviert. Das KBA habe bestätigt, dass es bei Fahrzeugen der Beklagten gerade keine Prüfstandsmanipulation rüge, und habe in Fahrzeugen der Beklagten keine manipulative Prüfstand- bzw. Prüfzyklus-Erkennungssoftware beanstandet. Alle Fahrzeuge, in denen das geregelte Kühlmittelthermostat programmiert gewesen oder noch vorhanden sei, seien dem KBA bekannt. Hierzu zähle auch der streitgegenständliche Fahrzeugtyp, der aber gerade nicht von einem Rückruf betroffen sei. Die Funktion sei nicht ausschlaggebend für die Einhaltung der NOx-Grenzwerte im NEFZ.
Dass die freiwillige Kundendienstmaßnahme durchgeführt werden dürfe, belege, dass das KBA nach Prüfung keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt habe.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29.09.2021 Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Klagepartei ist unbegründet. Weder beruht das angefochtene Urteil auf einem Rechtsfehler (§ 546 ZPO), noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zu berücksichtigende Tatsachen eine andere Entscheidung, § 513 Abs. 1 ZPO. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn der Klagepartei stehen weder vertragliche (§§ 433, 437 Nr.2, 323, 326, 346 ff. BGB) noch deliktische Ansprüche (insbesondere aus §§ 826, 31 BGB) zu.
1. Es kann dahinstehen, ob greifbare Anhaltspunkte für einen Sachmangel vorliegen. Zum einen sind die Voraussetzungen für einen Rücktritt vom Kaufvertrag nicht gegeben, zum anderen sind Gewährleistungsansprüche verjährt.
a) Anders als die Klagepartei meint, liegt kein Fall des § 440 S. 1, 3. Alt. BGB vor. Die Mängelbeseitigung durch Aufspielen eines Software – Updates ist nicht unzumutbar. Unterstellt man das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung und damit einen Mangel, kann dieser durch ein Software – Update, welches die Funktionsweise der Abschalteinrichtungen verändert, beseitigt werden. Soweit die Klagepartei pauschal behauptet, das Update greife in ein komplexes System der Motorsteuerung ein, was für sich bereits unwägbare Risiken insbesondere bezüglich der Dauerhaltbarkeit mit sich bringe, stellt dies eine Behauptung ins Blaue hinein dar.
b) Die zweijährige Verjährungsfrist ab Übergabe des Fahrzeugs war zum Zeitpunkt der Erklärung des Rücktritts mit Schreiben vom 22.08.2018 (Anlage K16) abgelaufen. Der Kaufvertrag wurde am 27.03.2013 abgeschlossen und das Fahrzeug im Juni 2013 an die Klagepartei übergeben (vgl. Rechnung vom 12.06.2013, Anlage K16).
2. Die Klagepartei hat keinen Anspruch aus § 826 BGB wegen einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch die Beklagte.
a) Die Klagepartei hat weder in erster Instanz noch im Berufungsverfahren greifbare Anhaltspunkte aufgezeigt, die den Schluss tragen könnten, die Beklagte habe sie durch den Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen in das streitgegenständliche Fahrzeug vorsätzlich sittenwidrig geschädigt. Das gilt auch unter Berücksichtigung ihres erweiterten Sachvortrags im Berufungsverfahren zum geregelten Kühlmittelthermostat. Dieser ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht als verspätet im Sinne von § 531 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, denn die Klagepartei hat dazu bereits in erster Instanz vorgetragen.
b) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteil vom 25. Mai 2020, VI ZR 252/19, juris Rn. 15 mwN). Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, welche die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (vgl. BGH, aaO).
In dem vorstehend zitierten, grundlegenden Urteil vom 25. Mai 2020 zum Diesel-Abgasskandal hat der Bundesgerichtshof die Sittenwidrigkeit damit begründet, dass der Fahrzeughersteller bei der Motorenentwicklung die strategische Entscheidung getroffen habe, die Typgenehmigung durch arglistige Täuschung des Kraftfahrtbundesamtes zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge sodann in den Verkehr zu bringen und dabei die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt auszunutzen. Ein solches Verhalten stehe einer bewussten arglistigen Täuschung derjenigen, die ein solches Fahrzeug erwerben, gleich (BGH, aaO, Rn. 25).
c) Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Dabei kann offenbleiben, ob es sich bei den von der Klagepartei gerügten Funktionen jeweils um unzulässige Abschalteinrichtungen handelt, denn jedenfalls fehlt es an einem diesbezüglichen verwerflichen Handeln der Beklagten bzw. ihrer Organe.
aa) Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 19. Januar 2021 (VI ZR 433/19, juris Rn. 17) festgehalten, dass der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen sei, die der Entscheidung vom 25. Mai 2020 zum VW-Motor EA 189 zugrunde gelegen habe, bei der die Software bewusst und gewollt so programmiert gewesen sei, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand, nicht aber im normalen Fahrbetrieb eingehalten würden (Umschaltlogik). Bei dem Einsatz eines Thermofensters fehle es an einem derartigen arglistigen Verhalten des beklagten Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde.
Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem – unterstellten – Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setze jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und dass sie den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Fehle es hieran, sei bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt. Dabei trage die Darlegungs- und Beweislast für diese Voraussetzung nach allgemeinen Grundsätzen die Klagepartei als Anspruchstellerin (BGH, aaO, Rn. 19). Dass – wie die Klagepartei behauptet – vom Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf ein „Verschulden“ – d.h. wohl auf das Vorliegen der objektiven Sittenwidrigkeit oder eines vorsätzlichen Handelns – geschlossen werden könne, trifft hiernach gerade nicht zu.
bb) Besondere Umstände im vorgenannten Sinne liegen hier aber nicht vor. Insbesondere kann im hier zu entscheidenden Fall nicht davon ausgegangen werden, dass die Beklagte durch ihre Organe eine strategische Entscheidung zur Täuschung oder Manipulation getroffen hätte, um die Tygenehmigung zu erhalten.
Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte im Typgenehmigungsverfahren falsche oder unvollständige Angaben gemacht oder ihre Mitteilungspflichten verletzt hätte, bestehen nicht. Die Angaben der Beklagten gegenüber dem KBA im Typgenehmigungsverfahren in Bezug auf die Lufttemperatur und die Kennfeldsteuerung waren ausreichend. Die Beklagte hat nicht verschleiert, sondern offengelegt, dass die Abgasrückführung von der Außentemperatur mitbestimmt wird. Die Genehmigungsbehörde hat dies nicht beanstandet. Selbst wenn die Beklagte erforderliche Angaben unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG gehalten gewesen, diese zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug zu prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 16.09.2021, VII ZR 268/20, Rn. 26). Im Übrigen waren umfassendere Angaben im Typgenehmigungsverfahren gerichtsbekannt erst ab Mai 2016 erforderlich (VO (EU) Nr. 646/2016). Das streitgegenständliche Fahrzeug wurde bereits im Jahr 2013 an die Klagepartei veräußert.
Anhaltspunkte für wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben der Beklagten im Typgenehmigungsverfahren, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten würden, sind mithin nicht ersichtlich.
cc) Das Verhalten der Beklagten, ein mit einem so genannten Thermofenster ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, ist vorliegend nicht als sittenwidrige Handlung zu bewerten. Dabei kommt es vorliegend nicht darauf an, ob das im streitgegenständlichen Fahrzeug installierte Thermofenster eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht. Anders als bei der so genannten „Schummelsoftware“, wie sie in dem VW-Motor EA 189 verwendet worden ist, kann bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie hier dem Thermofenster, die unstreitig vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand, und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein gehandelt hatten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021, VII ZR 286/20, Rn. 30). Vielmehr muss bei dieser Sachlage, selbst wenn hinsichtlich des Thermofensters von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sein sollte, eine möglicherweise falsche aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe in Betracht gezogen werden (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 20. April 2020, 12 U 1570/19, juris Rn. 25; OLG Köln, Beschluss vom 4. Juli 2019, 3 U 148/18, juris Rn. 6). Eine Sittenwidrigkeit käme daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise im streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (vgl. OLG Koblenz, OLG Köln, jeweils aaO). Solche Anhaltspunkte behauptet die Klagepartei in der Berufungsbegründung nur pauschalierend.
Wie die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 II 2 a VO (EG) Nr. 2007/715 zeigt, ist die Gesetzeslage an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und eindeutig. Nach Einschätzung der vom Bundesverkehrsministerium eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten Thermofenster jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt es im gerichtsbekannten Bericht der Kommission zur Auslegung der vorerwähnten Ausnahmevorschrift ausdrücklich (S. 123): „Zudem verstößt eine weite Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die VO (EG) Nr. 715/2007. Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn vonseiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“
Eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Koblenz, aaO, juris Rn. 29). Darauf, ob die Beklagte zutreffend das Vorliegen eines Ausnahmetatbestands angenommen hat, kommt es nach allem nicht an, weshalb auch entsprechende Vortragslasten nicht bestehen.
dd) Gleiches gilt für die Funktion des geregelten Kühlmittelthermostats. Die Klagepartei zeigt keine greifbaren Anhaltspunkte dafür auf, dass der Einsatz dieser Funktion von einer verwerflichen Gesinnung der Beklagten getragen werde. Es ist schon nicht ersichtlich, dass das KBA die Funktion grundsätzlich beanstandet hätte. Das streitgegenständliche Fahrzeug ist unstreitig nicht von einem Rückruf betroffen. Hingegen wird von der Beklagten für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp eine freiwillige Servicemaßnahme angeboten. Das setzt voraus, dass das angebotene Software-Update vom Kraftfahrtbundesamt genehmigt worden ist, was nur erfolgt, wenn das KBA nach amtlicher Prüfung keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt hat. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten wird nicht nur durch die vorgelegten Auskünfte des KBA in Parallelverfahren vom 20.08.2020 und 19.08.2020 (Anlagen BB 30 und BB 31) bestätigt, sondern auch durch (online) allgemein zugängliche Veröffentlichungen des Kraftfahrtbundesamts, etwa den Bericht zur „Wirksamkeit von Software-Updates zur Reduzierung von Stickoxiden bei Dieselmotoren“ (Stand 10.01.2020, S. 14). Zudem ergibt sich aus dem Marktüberwachungsbericht 2019 (S. 120 ff.), dass das geregelte Kühlmittelthermostat nur bei einem Teil der Fahrzeuge grenzwertrelevant ist und von der Beklagten mit Motorschutzgründen erklärt wird.
ee) Dass die Funktion „in Abhängigkeit von den Bedingungen des NEFZ“ arbeitet, wie die Klagepartei vorträgt, ist nicht gleichbedeutend mit einer „Umschaltlogik“, denn anders als letztere kommt sie nicht ausschließlich auf dem Prüfstand, sondern unter jeweils gleichen Bedingungen auch im normalen Fahrbetrieb zum Einsatz. Nichts anderes ergibt sich aus dem Bericht des Bayerischen Rundfunks vom 10.02.2021, in dem aus einem Schreiben des Bundesverkehrsministeriums zitiert wird, wonach das geregelte Kühlmittelthermostat „unter Prüfbedingungen“ – d.h., immer dann, wenn diese Bedingungen vorliegen, und nicht nur auf dem Prüfstand – in einen Modus schalte, bei dem unter Regelung einer niedrigen Kühlmitteltemperatur der NOx – Grenzwert eingehalten werde.
ff) Aus dem Umstand, dass das Fahrzeug – wie die Klagepartei behauptet – im Betrieb auf der Straße anders als auf dem Prüfstand die gesetzlichen Grenzwerte überschreitet, lässt sich nichts weiter ableiten. Denn es liegt auf der Hand, dass die Überschreitung der Werte im Straßenverkehr darauf zurückzuführen sein kann, dass der Motor im realen Fahrbetrieb aufgrund der konkreten Verkehrsverhältnisse deutlich mehr Schadstoffe emittiert als in einem zu Vergleichszwecken festgelegten, standardisierten Fahrzyklus auf dem Prüfstand.
gg) Das von der Klagepartei in Bezug genommene Privatgutachten vom 07.05.2021 (Anlage BK7) führt zu keiner anderen Bewertung. Eine Teststanderkennung und eine davon abhängige Steuerung des Emissions-Kontrollsystems wird dadurch nicht belegt. Danach sei das Kühlmittelthermostat nur aktiv, wenn die Umgebungstemperatur zwischen 15 °C und 35 °C, die Ansauglufttemperatur zwischen 15 °C und 50 °C sowie der Luftdruck über 800 hPa (Hektopascal) liege, was (wetterabhängig) einer maximalen Höhe über dem Meer von circa 1950 Metern entspreche. Die genannten Parameter gehen mithin weit über die Prüfstandbedingungen hinaus. Überdies wurden – anders als bei der Prüfung durch das KBA – die konkreten Auswirkungen auf das Emissionsverhalten nicht untersucht.
hh) Die Auffassung der Beklagten, die Ausgestaltung des geregelten Kühlmittelthermostats sei zulässig, erscheint jedenfalls vertretbar. Das folgt schon daraus, dass im vorliegenden Fall diese Funktion vom KBA nicht beanstandet worden ist. Darüber hinaus ist nach dem Vortrag der Beklagten das Gros (über 80%) der EU5 Modelle der PKW-Sparte, in denen das geregelte Kühlmittelthermostat zum Einsatz gelangt, wie das hiesige Fahrzeug nicht rückrufbetroffen.
3. Auch aus anderen deliktischen Anspruchsgrundlagen kann der Kläger die geltend gemachten Ansprüche nicht herleiten.
Ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB iVm § 263 StGB scheidet aus, da weder eine Täuschung noch eine Schädigungsabsicht substantiiert dargelegt sind. Auch zu den Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 823 Abs. 2 iVm § 16 Abs. 1 UWG fehlt konkreter Vortrag dazu, dass die Beklagte hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugs unwahre Angaben gemacht hätte. Auf § 823 Abs. 2 BGB iVm Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 oder §§ 6, 27 EG-FGV kann der Kläger seine Ansprüche nicht stützen, da diese Bestimmungen keine Schutzgesetze sind (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, Rn. 12 ff).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit erfolgte gem. §§ 708 Nr.10, 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO) liegen nicht vor.
Der Streitwert wurde gem. §§ 47, 48 GKG, 3 ZPO festgesetzt.


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