Europarecht

Freiheitsstrafe, Generalstaatsanwaltschaft, Auslieferungshaft, Strafe, Auslieferung, Vollstreckung, Drittstaat, Auflage, Straftat, Anordnung, Vorlagefrage, Finnland, Anspruch, Ausland, Bundesrepublik Deutschland, einstweilige Anordnung, kein Antragsrecht

Aktenzeichen  1 AR 285/20

Datum:
9.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 7019
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Dem Europäischen Gerichtshof wird gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Gebieten es die Grundsätze aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. November 2018 in der Rechtssache Raugevicius – C-247/17 (ECLI:ECLI:EU:C:2018:898) zur Anwendung der Art. 18 und 21 AEUV ein auf das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 gestütztes Ersuchen eines Drittstaats um Auslieferung eines Unionsbürgers zur Strafvollstreckung auch dann abzulehnen, wenn der ersuchte Mitgliedsstaat nach diesem Übereinkommen völkervertraglich zur Auslieferung des Unionsbürgers verpflichtet ist, weil er den Begriff „Staatsangehörige“ gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens dahin bestimmt hat, dass nur seine eigenen Staatsangehörigen und nicht auch andere Unionsbürger davon erfasst werden?
2. Das Auslieferungsverfahren wird bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Vorlagefrage ausgesetzt.

Gründe

I.
Am 5. November 2020 ersuchten die bosnischherzegowinischen Behörden die Bundesrepublik Deutschland um Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung der im Urteil des Gemeindegerichts Bosanska Krupa vom 24. März 2017, Az. 18 0 K 031029 16 K, wegen Bestechlichkeit verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten.
Der Verfolgte ist serbischer, bosnischherzegowinischer sowie kroatischer Staatsbürger und lebt mit seiner Ehefrau seit Mitte des Jahres 2017 in Deutschland. Seit 22. Mai 2020 arbeitet er hier als regionaler Kurierfahrer. Er befindet sich, nachdem er zwischenzeitlich in Auslieferungshaft war, auf freiem Fuß.
Die kroatischen Behörden wurden von dem Ersuchen der bosnischherzegowinischen Behörden höchstvorsorglich in Kenntnis gesetzt. Eine Reaktion erfolgte nicht.
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat unter Bezugnahme auf die RaugeviciusEntscheidung des Europäischen Gerichtshofs beantragt, die Auslieferung des Verfolgten für unzulässig zu erklären.
II.
1. Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 29 Abs. 1 des deutschen Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (im Folgenden: IRG) ist nach Auffassung des Senats zulässig (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 23. November 2015 – 1 Ausl 46/14, juris; entgegen OLG Dresden, Beschluss vom 17. Februar 2021 – OLGAusl 258/20, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 11. Februar 2021 – 1 AR (Ausl.) 17/20, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 15. Februar 2016 – 20 OLGAusl 21/15, juris; SLGH/Riegel, 6. Aufl. 2020, IRG § 29 Rn. 5). Das Rechtsschutzbedürfnis der Generalstaatsanwaltschaft für diesen Antrag ergibt sich daraus, dass der Verfolgte, der kein eigenes Antragsrecht hat (Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Auflage, Rn. 362), nicht als reines Objekt internationalen Rechts behandelt werden darf und einen Anspruch auf Rechtssicherheit hat, vgl. auch § 77 IRG i.V.m. § 296 Abs. 2 StPO. Diese Ansicht ist mit dem Wortlaut des § 29 Abs. 1 IRG vereinbar, da sich der Antrag darauf richten muss, „ob“ und nicht „dass“ die Auslieferung zulässig ist.
2. Die Begründetheit des Antrags hängt von der in der Beschlussformel niedergelegten Frage ab, ob Art. 18 und 21 EAUV so auszulegen sind, dass sie die Nichtauslieferung eines Unionsbürgers auch dann vorschreiben, wenn der ersuchte Staat völkervertraglich zu dessen Auslieferung verpflichtet ist.
Diese Frage ist durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 13. November 2018 in der Rechtssache Raugevicius – C-247/17 (ECLI:ECLI:EU:C:2018:898) nicht beantwortet worden, da – wie unter Ziffer II.2.b) näher dargelegt wird – die Republik Finnland gegenüber der Russischen Föderation völkervertraglich zur Nichtauslieferung des litauischen Staatsangehörigen berechtigt war, wohingegen die Bundesrepublik Deutschland gegenüber Bosnien-Herzegowina im vorliegenden Fall völkervertraglich zur Auslieferung des kroatischen Staatsangehörigen verpflichtet ist.
Im Einzelnen:
a)
Die Bundesrepublik Deutschland ist gegenüber Bosnien-Herzegowina gemäß Art. 1 des Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (im Folgenden: EuAuslÜbk) völkervertraglich verpflichtet, den Verfolgten zur Vollstreckung der vom Gemeindegericht Bosanska Krupa verhängten Freiheitsstrafe auszuliefern.
aa)
Die Auslieferung des Verfolgten richtet sich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, das von der Bundesrepublik Deutschland am 2. Dezember 1976 und von Bosnien-Herzegowina am 25. April 2005 ratifiziert worden ist.
Gemäß Art. 1 EuAuslÜbk sind die Vertragsparteien verpflichtet, einander Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates zur Vollstreckung einer Strafe gesucht werden, soweit die entsprechenden Bedingungen des Übereinkommens erfüllt sind und nicht eine der anderen Vorschriften des Übereinkommens eine Ausnahme vorsieht (SLGH/Riegel/Trautmann, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., Art. 1 EurAuslÜbk Rn. 5; Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Auflage, Rn. 1086; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 31. März 1987 – 2 BvM 2/86, juris Rn. 34 sowie Art. 26 f. des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zwischen Staaten vom 23. Mai 1969).
bb)
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen des Übereinkommens für eine Auslieferungspflicht gegeben.
Es handelt sich um eine auslieferungsfähige Straftat im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EuAuslÜbk. Das von dem Gemeindegericht Bosanska Krupa festgestellte Verhalten des Verfolgten wäre auch nach deutschem Recht gemäß § 332 Abs. 1 Satz 1 des deutschen Strafgesetzbuchs mit dem Höchstmaß einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren strafbar. Das Maß der verhängten Sanktion beträgt mehr als vier Monate, Art. 2 Abs. 1 Satz 2 EuAuslÜbk.
Auslieferungshindernisse nach den Art. 3 bis 11 EuAuslÜbk liegen nicht vor. Die gemäß Art. 12 EuAuslÜbk erforderlichen Auslieferungsunterlagen des Abkommens wurden von BosnienHerzegowina vollständig übermittelt.
Die Auslieferung des Verfolgten und die ihr zugrundeliegenden Akte würden den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren sowie die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz nicht verletzen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 26. Februar 2018 – 2 BvR 107/18, juris; Einstweilige Anordnung vom 26. Januar 1982 – 2 BvR 856/81).
b)
Fraglich ist allerdings, ob Art. 18 und 21 AEUV verlangen, den kroatischen Verfolgten trotz der bestehenden völkervertraglichen Pflicht zur Auslieferung nicht an Bosnien-Herzegowina auszuliefern, weil die Bundesrepublik Deutschland einen deutschen Staatsangehörigen gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a EuAuslÜbk nicht ausliefern würde.
(1)
Auf den ersten Blick scheint diese Frage durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Raugevicius – C-247/17 (ECLI:ECLI:EU:C:2018:898) beantwortet worden zu sein. Er hat die Vorlagefrage des obersten finnischen Gerichtshofs wie folgt beantwortet:
„Nach alldem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 18 und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass der ersuchte Mitgliedstaat, nach dessen nationalem Recht die Auslieferung eigener Staatsangehöriger an Staaten außerhalb der Union zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe verboten und die Möglichkeit vorgesehen ist, eine solche im Ausland verhängte Strafe im Inland zu vollziehen, im Fall des von einem Drittstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und nicht zum Zweck der Strafverfolgung gestellten Ersuchens um Auslieferung eines Unionsbürgers, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sicherstellen muss, dass dieser Unionsbürger, wenn er seinen ständigen Wohnsitz im Inland hat, bei Auslieferungsfragen auf gleiche Weise wie seine eigenen Staatsangehörigen behandelt wird.“
Bei genauerem Hinsehen offenbart sich allerdings, dass die Republik Finnland die Auslieferung des dortigen Unionsbürgers verweigern konnte, ohne gegen eine gegenüber der Russischen Föderation bestehende völkervertragliche Pflicht zu verstoßen. Denn die Republik Finnland hat mit ihrer Beitrittserklärung am 12. Mai 1971 den Ausdruck „Staatsangehörige“ gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. b EuAuslÜbk dahin bestimmt, dass dieser alle „Staatsangehöriger von Finnland, Dänemark, Island, Norwegen und Schweden sowie Ausländer, die in diesen Staaten ihren Wohnsitz haben“ umfasst.
Eine ähnliche völkerrechtliche Situation hat auch den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen Petruhhin – C-182/15 (ECLI:EU:C:2016:630), Pisciotti – C-191/16 (ECLI:ECLI:EU:C:2018:222) und BY – C-398/19 (ECLI:ECLI:EU:C:2020:1032) zugrunde gelegen, die die Auslieferung zur Strafverfolgung betroffen haben. Dort haben es sowohl Art. 65 des Abkommens vom 3. Februar 1993 zwischen der Republik Lettland und der Russischen Föderation über Rechtshilfe und die Rechtsbeziehungen auf den Gebieten des Zivil-, Familien- und Strafrechts als auch Art. 10 des Abkommens zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über Auslieferung vom 25. Juni 2003 (ABl. 2003, L 181, S. 27) und Art. 17 EuAuslÜbk in die Hände des ersuchten Staats gelegt zu entscheiden, an welchen von mehreren ersuchenden Staaten der Verfolgte ausgeliefert wird. Eine Auslieferung an den Heimatstaat des verfolgten Unionsbürgers wäre daher in allen vom Gerichtshof entschiedenen Fällen möglich gewesen, ohne dass die ersuchten Unionsstaaten dadurch ihre gegenüber den betroffenen Drittstaaten bestehenden völkervertraglichen Pflichten verletzten.
(2)
Im vorliegenden Fall stellt sich die völkerrechtliche Situation anders dar.
Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Hinterlegung ihrer Ratifikationsurkunde am
3. Oktober 1976 folgende Erklärung zu Art. 6 Abs. 1 Buchst. b EuAuslÜbk abgegeben:
„Die Auslieferung von Deutschen aus der Bundesrepublik Deutschland ins Ausland ist nach Artikel 16 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland nicht zulässig und muss daher in jedem Fall abgelehnt werden. Der Begriff „Staatsangehörige“ im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe b des Europäischen Auslieferungsübereinkommens umfasst alle Deutschen im Sinne von Artikel 116 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland.“
Art. 16 Abs. 2 Satz 1 und Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) lauten:
Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG
Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden.
Art. 116 Abs. 1 GG
Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.
Eine anderweitige gesetzliche Regelung gibt es mit Blick auf die Auslieferung von Personen zur Strafvollstreckung nicht. Der insoweit einschlägige § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) bestimmt:
(1) Ein Ausländer, der in einem ausländischen Staat wegen einer Tat, die dort mit Strafe bedroht ist, verfolgt wird oder verurteilt worden ist, kann diesem Staat auf Ersuchen einer zuständigen Stelle zur Verfolgung oder zur Vollstreckung einer wegen der Tat verhängten Strafe oder sonstigen Sanktion ausgeliefert werden.
(2) […]
(3) Ausländer im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes sind.
Bosnien-Herzegowina hat keine Vorbehalte oder Erklärungen zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen abgegeben.
(3)
Es ist daher zweifelhaft, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 18 und 21 AEUV, wie sie in der Rechtssache Raugevicius ihren Ausdruck gefunden hat, auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist.
(a)
Der Europäische Gerichtshof geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass die darin bestehende Ungleichbehandlung, dass ein Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines anderen als des ersuchten Mitgliedstaats besitzt, im Gegensatz zu einem Staatsangehörigen des ersuchten Mitgliedsstaats ausgeliefert werden kann, eine Beschränkung des Rechts aus Art. 21 AEUV darstellt (EuGH, Urteile vom 13. November 2018 – C-247/17 [ECLI:ECLI:EU:C:2018:898] Rn. 30; vom 17. Dezember 2020 – C-398/19 [ECLI:ECLI:EU:C:2020:1032] Rn. 40; vom 10. April 2018 – C-191/16 [ECLI:EU:C:2018:222] Rn. 45; vom 6. September 2016 – C-182/15 [ECLI:EU:C:2016:630] Rn. 33).
Eine solche Beschränkung lasse sich allerdings rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (EuGH, Urteile vom 13. November 2018 – C-247/17 [ECLI:ECLI:EU:C:2018:898] Rn. 31; vom 17. Dezember 2020 – C-398/19 [ECLI:ECLI:EU:C:2020:1032] Rn. 41; vom 10. April 2018 – C-191/16 [ECLI:EU:C:2018:222] Rn. 46; vom 6. September 2016 – C-182/15 [ECLI:EU:C:2016:630] Rn. 34).
Der Gerichtshof hat anerkannt, dass das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen, die eine Straftat begangen haben, sich dieser Strafe entziehen, als legitimer Zweck einzustufen ist und eine beschränkende Maßnahme wie die Auslieferung grundsätzlich rechtfertigen kann (EuGH, Urteile vom 13. November 2018 – C-247/17 [ECLI:ECLI:EU:C:2018:898] Rn. 32 f.; vom 17. Dezember 2020 – C-398/19 [ECLI:ECLI:EU:C:2020:1032] Rn. 42; vom 10. April 2018 – C-191/16 [ECLI:EU:C:2018:222] Rn. 47; vom 6. September 2016 – C-182/15 [ECLI:EU:C:2016:630] Rn. 37).
Die Maßnahme könne jedoch nur dann durch objektive Erwägungen gerechtfertigt werden, wenn sie zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten sollen, erforderlich ist, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (EuGH, Urteile vom 13. November 2018 – C-247/17 [ECLI:ECLI:EU:C:2018:898] Rn. 32; vom 17. Dezember 2020 – C-398/19 [ECLI:ECLI:EU:C:2020:1032] Rn. 42; vom 10. April 2018 – C-191/16 [ECLI:EU:C:2018:222] Rn. 48; vom 6. September 2016 – C-182/15 [ECLI:EU:C:2016:630] Rn. 38 u. 41).
(b)
Auf die Frage, ob weniger einschränkende Maßnahmen in diesem Sinne auch Verhaltensweisen erfassen, mit denen ein Mitgliedsstaat gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen verstoßen würde, kam es in den genannten Entscheidungen des Gerichtshof nicht an, weil die betroffenen Mitgliedsstaaten die Auslieferung an den Drittstaat in völkerrechtlich zulässiger Weise verweigern konnten. Der Gerichtshof hat sich zu dieser Frage (daher) nicht verhalten.
In der Rechtssache Raugevicius hat der zuständige Generalanwalt in seinen Schlussanträgen allerdings maßgeblich darauf abgestellt, dass „sich die Republik Finnland im Einklang mit der in Art. 6 Abs. 1 Buchst. b dieses Übereinkommens eröffneten Möglichkeit dazu entschlossen hat, den Ausdruck ‚Staatsangehörige‘ im Sinne des erwähnten Übereinkommens in einer Erklärung als ‚Staatsangehörige von Finnland, Dänemark, Island, Norwegen und Schweden sowie Ausländer, die in diesen Staaten ihren Wohnsitz haben‘, zu definieren“ (Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 25. Juli 2018 [ECLI:ECLI:EU:C:2018:616] Rn. 85). Weiter hat er ausgeführt (Rn. 86): „Im vorliegenden Fall kann dieser von der Republik Finnland in der genannten Erklärung zum Ausdruck gebrachte Gleichstellungswille im Hinblick auf den Schutz eines Unionsbürgers wie Herrn R. vor Auslieferung kein Lippenbekenntnis bleiben. Die Art. 18 und 21 AEUV verpflichten die Republik Finnland dazu, ihm vollständig Wirkung zu verleihen.“
Nach alledem bestehen unter Berücksichtigung aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände Zweifel, dass die vom Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache Raugevicius aufgestellten Grundsätze auch auf den vorliegenden Fall anzuwenden und die Art. 18 und 21 AEUV so auszulegen sind, dass die Auslieferung des Verfolgten an Bosnien-Herzegowina – trotz der entgegenstehenden völkerrechtlichen Verpflichtung gemäß Art. 1 EuAuslÜbk – für unzulässig zu erklären wäre.
(4)
Auch wenn es nach Ansicht des Senats für die Entscheidung der Vorlagefrage nicht darauf ankommt, wird mit Blick auf die Ausführungen des Gerichtshofs unter Rn. 42 in der Raugevicius-Entscheidung zur vollständigen Darlegung der nationalen Rechtslage darauf hingewiesen, dass eine Vollstreckung der vom Gemeindegericht Bosanska Krupa verhängten Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich möglich wäre. Da sich der Verfolgte bereits im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhält, ist das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (im Folgenden: ÜberstÜbk), das sowohl von der Bundesrepublik Deutschland als auch von Bosnien-Herzegowina ratifiziert worden ist, nicht einschlägig (BT-Drucks. 12/194, S. 18; Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Auflage, Rn. 635; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. April 2018 – 1 Ws 23/18, juris Rn. 11 [ECLI:DE:OLGSTUT:2018:0425.1WS23.18.00]). Die Vollstreckung des bosnischherzegowinischen Urteils richtet sich daher nach §§ 48 ff. IRG und setzt im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und d ÜberstÜbk weder die deutsche Staatsangehörigkeit noch die Zustimmung des Verfolgten voraus (BT-Drucks. 12/3533, S. 20).
Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 IRG kann die Vollstreckung allerdings nur durchgeführt werden, wenn und soweit der Urteilsstaat, damit einverstanden ist (SLGH/Riegel/Trautmann, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 57 Rn. 4; Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Auflage, Rn. 171). Dies ist – jedenfalls derzeit – nicht der Fall, da die bosnischherzegowinischen Behörden um Auslieferung des Verfolgten und nicht um Übernahme der Vollstreckung ersucht haben.
Vorschriften, deren Wortlaut nicht in diesem Beschluss wiedergegeben wird, sind in der Anlage zu diesem Beschluss dargestellt.


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