Europarecht

Haftung des Herstellers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs: Bewertung des schädigenden Verhaltens als sittenwidrig

Aktenzeichen  VI ZR 818/20

Datum:
23.11.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:231121UVIZR818.20.0
Normen:
§ 31 BGB
§ 826 BGB
Art 3 Nr 10 EGV 715/2007
Art 5 Abs 1 EGV 715/2007
§ 6 EG-FGV
§ 27 EG-FGV
Spruchkörper:
6. Zivilsenat

Leitsatz

Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen.

Verfahrensgang

vorgehend OLG Oldenburg (Oldenburg), 14. Mai 2020, Az: 14 U 207/19vorgehend LG Oldenburg (Oldenburg), 2. Juli 2019, Az: 5 O 3486/18

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 14. Mai 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung eines Kraftfahrzeugs auf Schadensersatz in Anspruch.
2
Der Kläger erwarb am 29. Juli 2016 bei einem Autohaus einen Audi Q3 mit einem Dieselmotor der Baureihe EA189. Dieser Motor war mit einer Motorsteuerungssoftware ausgestattet, die zwei Betriebsmodi hatte. Der NOx-optimierte Modus 1 war ausschließlich auf dem Prüfstand aktiv und es kam zu einer höheren Abgasrückführungsrate. Im normalen Fahrbetrieb war der Modus 0 aktiv. Im Oktober 2015 beanstandete das Kraftfahrtbundesamt diese Motorsteuerungssoftware als unzulässige Abschalteinrichtung und forderte die Beklagte zu deren Entfernung auf.
3
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Landgerichts abgeändert und die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, an den Kläger 16.110,20 € nebst Zinsen Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs zu zahlen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung weiter.

Entscheidungsgründe

4
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt, soweit das Berufungsgericht zum Nachteil der Beklagten entschieden hat, zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
5
Das Berufungsgericht hat – soweit im vorliegenden Zusammenhang relevant – ausgeführt, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 826 BGB habe. Die Beklagte habe den Kläger vorsätzlich sittenwidrig geschädigt, indem sie das mit dem von der Volkswagen AG hergestellten Motor EA189 ausgestattete Fahrzeug in den Verkehr gebracht habe. Der Entscheidung sei zugrunde zu legen, dass der frühere Vorstandsvorsitzende der Beklagten bereits im April 2012 davon Kenntnis gehabt habe, dass in den von der Volkswagen AG hergestellten Motoren des Typs EA189 die Motorsteuerungssoftware mit der im Tatbestand beschriebenen Funktionsweise verbaut sei. Ausreichend sei, dass die Beklagte zum Zeitpunkt dieser Tathandlung vorsätzlich und sittenwidrig gehandelt habe. Dass diese Voraussetzungen auch noch bei Eintritt des Schadens, also bei Abschluss des Kaufvertrages, vorgelegen hätten, sei nicht erforderlich, so dass es nicht darauf ankomme, ob die Aufklärungsmaßnahmen der Beklagten ab Oktober 2015 und die allgemeine Berichterstattung über die Dieselthematik geeignet gewesen seien, diese Sittenwidrigkeit zu beseitigen.
II.
6
Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann ein Schadensersatzanspruch des Klägers aus §§ 826, 31 BGB nicht bejaht werden. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe dem Kläger durch die Konzeption und das Inverkehrbringen des mit der unzulässigen Prüfstanderkennungssoftware ausgestatteten Motors in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise Schaden zugefügt. Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit rechtsfehlerhaft allein auf den Zeitpunkt der haftungsbegründenden Handlung abgestellt und das weitere Verhalten der Beklagten bis zum Eintritt des angenommenen Schadens insoweit nicht in den Blick genommen.
7
Nach dem mangels abweichender Feststellungen revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Vortrag der Beklagten hatte sie die Verwendung der unzulässigen Software bereits vor Abschluss des streitgegenständlichen Vertrages öffentlich gemacht, insbesondere eine Pressemitteilung vom 2. Oktober 2015 herausgegeben, in der sie auf “Unregelmäßigkeiten der verwendeten Software” sowie auf die Möglichkeit, sich über die Betroffenheit eines Fahrzeugs auf einer Webseite zu informieren, hingewiesen hatte. Ferner hatte sie ihre Vertriebspartner und den Handel informiert.
8
Selbst wenn man unterstellt, dass dem Vorstandsvorsitzenden der Beklagten beim Inverkehrbringen des Fahrzeugs die illegale Prüfstanderkennungssoftware bekannt war, scheiterte ein Anspruch des Klägers aus § 826 BGB jedenfalls daran, dass nach dem der revisionsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legenden Vortrag der Beklagten und den vom Berufungsgericht für unerheblich gehaltenen Informationsmaßnahmen der Beklagten ab Oktober 2015 das Verhalten der Beklagten dem Kläger gegenüber nicht als objektiv sittenwidrig im Sinne des § 826 BGB anzusehen wäre (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 15. Juni 2021 – VI ZR 566/20, juris Rn. 4, 6; Urteile vom 12. Oktober 2021 – VI ZR 879/20 zVb; vom 13. April 2021 – VI ZR 276/20, NJW-RR 2021, 812 Rn. 7 f.; siehe weiter Senat, Urteil vom 8. März 2021 – VI ZR 505/19, NJW 2021, 1669; BGH, Urteil vom 16. September 2021 – VI ZR 192/20, juris Rn. 23 ff.).
III.
9
Da das Berufungsgericht den Vortrag der Beklagten aus Rechtsgründen für nicht erheblich gehalten und dazu keine Feststellungen getroffen hat, ist die Sache nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die angegriffene Entscheidung ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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