Europarecht

IX ZB 60/20

Aktenzeichen  IX ZB 60/20

Datum:
20.1.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
EuGH-Vorlage
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2022:200122UIXZB60.20.0
Normen:
Art 34 Nr 2 VollstrZustÜbk 2007
Spruchkörper:
9. Zivilsenat

Verfahrensgang

vorgehend OLG Frankfurt, 1. Oktober 2020, Az: 26 W 25/19vorgehend LG Frankfurt, 19. Juli 2019, Az: 2-3 O 489/18

Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage vorgelegt:
Ist Art. 34 Nr. 2 des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (LugÜ) dahin auszulegen, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück handelt?

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt, eine Entscheidung eines schweizerischen Gerichts in Deutschland für vollstreckbar zu erklären. Auf seinen Antrag erließ das Betreibungsamt Genf gegen den Antragsgegner, der seinen Wohnsitz in Deutschland hat, wegen Mietforderungen einen Zahlungsbefehl, der ihm am 19. Januar 2013 zugestellt wurde. Der Antragsgegner erhob gegen den Zahlungsbefehl gemäß Art. 74 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889 (SchKG) am 28. Januar 2013 Rechtsvorschlag.
2
Im Folgenden reichte der Antragsteller gegen den Antragsgegner vor dem Gericht für Pacht- und Mietsachen des Kantons Genf Klage ein, ohne eine Aufhebung des Rechtsvorschlags zu beantragen. Das Gericht versuchte, die Klageschrift in französischer Sprache an den Antragsgegner an seinem deutschen Wohnsitz zuzustellen. Dieser verweigerte die Annahme der Zustellung, weil keine deutsche Übersetzung beigefügt war. In der weiteren Folge des Prozesses erhielt der Antragsgegner keine weiteren Informationen über das Verfahren. Das Gericht verurteilte den Antragsgegner mit Urteil vom 30. Januar 2014 zur Zahlung von insgesamt 4.120,70 CHF nebst Zinsen. Der Rechtsvorschlag gegen den Zahlungsbefehl wurde nicht beseitigt. Das Urteil wurde öffentlich zugestellt.
3
Der Antragsteller beantragte nach dem Erlass des Urteils einen neuen Zahlungsbefehl, der am 5. März 2015 erlassen wurde. Der Antragsgegner erhob auch dagegen fristgerecht Rechtsvorschlag.
4
Der Antragsteller hat die Vollstreckbarerklärung des Urteils in Deutschland nach Art. 38, 53 LugÜ beantragt und hierzu beglaubigte und übersetzte Abschriften des Urteils vom 30. Januar 2014 und der Bescheinigung nach Art. 54 LugÜ vorgelegt. Das Landgericht hat dem Antrag stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Antragsgegners hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Antragsgegner weiter gegen die Vollstreckbarerklärung.
II.
5
Der Erfolg der Rechtsbeschwerde hängt von der Auslegung des Art. 34 Nr. 2 LugÜ ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
6
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist gemäß Art. 44 LugÜ iVm § 15 Abs. 1 AVAG, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch zulässig, weil ihr aufgrund der Vorlagepflicht des Bundesgerichtshofs als letztinstanzliches Gericht eine grundsätzliche Bedeutung gemäß § 574 Abs. 2 ZPO zukommt.
7
2. Das Beschwerdegericht hat ausgeführt: Einer Anerkennung des Urteils stehe Art. 34 Nr. 2 LugÜ nicht entgegen. Dem Antragsgegner sei das verfahrenseinleitende Schriftstück in einer den Versagungsgrund des Art. 34 Nr. 2 LugÜ ausschließenden Weise zugestellt worden. Als verfahrenseinleitendes Schriftstück sei der Zahlungsbefehl, der dem Antragsgegner am 19. Januar 2013 zugestellt wurde, anzusehen. Aufgrund dieses Zahlungsbefehls sei der Antragsgegner davon unterrichtet gewesen, dass der Antragsteller gegen ihn Mietforderungen geltend mache, und er habe sich – wie sich durch den Rechtsvorschlag vom 28. Januar 2013 gezeigt habe – auch in einer seine Rechte wahrenden Weise an dem Verfahren beteiligen können. Die Anerkennung des Urteils verstoße im Übrigen auch nicht gegen Art. 34 Nr. 1 LugÜ. Auch wenn die Zustellung der Klageschrift nicht ordnungsgemäß erfolgt sei, komme in Betracht, dass der Antragsgegner aufgrund der Kenntnis des Zahlungsbefehls eine Mitwirkungsobliegenheit gehabt habe. Ein Verstoß gegen den ordre public sei aber jedenfalls deshalb ausgeschlossen, weil der Antragsgegner nicht vorgetragen habe, mit welchen Einwendungen er sich gegen die geltend gemachten Ansprüche verteidigt hätte.
8
3. Das würde der rechtlichen Nachprüfung nicht standhalten, sofern die Vorlagefrage bejaht wird.
9
a) Von der Beantwortung der Frage hängt ab, ob die Vollstreckbarerklärung der Entscheidung des Gerichts für Pacht- und Mietsachen des Kantons Genf vom 30. Januar 2014 gemäß Art. 45 Abs. 1, Art. 34 Nr. 2 LugÜ zu versagen ist.
10
aa) Nach Art. 34 Nr. 2 LugÜ ist die Anerkennung einer Entscheidung zu versagen, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte. Dem Antragsgegner wurde zunächst der Zahlungsbefehl vom 19. Januar 2013 zugestellt, gegen den er sich mit dem Rechtsvorschlag vom 28. Januar 2013 zur Wehr gesetzt hat. Am 11. September 2013 wurde versucht, dem Antragsgegner die Klageschrift des Forderungsprozesses zuzustellen. Da diese in französischer Sprache verfasst und keine Übersetzung beigefügt war, verweigerte der Antragsgegner die Annahme des Schriftstücks.
11
(1) Hinsichtlich des Zahlungsbefehls ist zwischen den Parteien unstreitig, dass von einer ordnungsgemäßen Zustellung auszugehen ist. Dementsprechend hat der Antragsgegner gegen die Entscheidung auch einen Rechtsvorschlag erhoben, woraufhin das Betreibungsverfahren eingestellt wurde.
12
(2) Hinsichtlich der Zustellung der Klageschrift wurden die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 des Haager Übereinkommens über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom 15. November 1965 (Haager Zustellungsübereinkommen; HZÜ) hingegen nicht eingehalten.
13
Die Art der Zustellung der Klageschrift richtete sich nach den Regelungen des Haager Zustellungsübereinkommens, dem sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die Schweiz beigetreten sind. Die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (“Zustellung von Schriftstücken”) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates (EuZVO) sind nicht anzuwenden, da die Schweiz dieser Verordnung nicht beigetreten ist. Die förmliche Zustellung erfolgte gemäß Art. 5 Abs. 1 HZÜ. Nach § 3 des Ausführungsgesetzes vom 22. Dezember 1977 (BGBl. I S. 3105) ist eine förmliche Zustellung in Deutschland nur zulässig, wenn das zuzustellende Schriftstück in deutscher Sprache abgefasst oder in diese Sprache übersetzt ist. Die Zustellung der Klageschrift am 11. September 2013 entsprach nicht diesen Voraussetzungen, da diese nur in französischer Sprache vorlag. Eine deutsche Übersetzung war nicht beigefügt.
14
(3) Bei einer fehlenden Übersetzung ist die Zustellung nicht in einer Weise erfolgt, dass sich der Beklagte verteidigen konnte. Anders als im Lugano-Übereinkommen vom 16. September 1988 kommt es nicht mehr allein auf die Ordnungsgemäßheit der Zustellung an, vielmehr ist zu prüfen, ob durch den Zustellungsmangel das Verteidigungsrecht des Beklagten erheblich beeinträchtigt worden ist. Schwerwiegende Zustellungsmängel sind regelmäßig ein starkes Indiz dafür, dass dem Schuldner kein ausreichendes rechtliches Gehör bei der Verfahrenseinleitung gewährt wurde (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2007 – XII ZB 240/05, EuZW 2008, 251 Rn. 28). Die fehlende Übersetzung wird grundsätzlich als ein solcher schwerwiegender Zustellungsmangel angesehen, wenn der Beklagte den Empfang dieses Schriftstücks aufgrund des Zustellungsmangels verweigert hat (EuGH, Urteil vom 8. November 2005 – C-443/03, Leffler, Slg. 2005, I-9611 Rn. 68; Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO, 4. Aufl., Art. 45 BrüsselIa-VO Rn. 162; MünchKomm-ZPO/Gottwald, 6. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 29).
15
Die Klageschrift wurde mangels Übersetzung nicht in einer Weise zugestellt, dass sich der Antragsgegner dagegen verteidigen konnte. Unstreitig war er der französischen Sprache selbst nicht mächtig. Er hat zudem die Annahme des Schriftstücks verweigert.
16
(4) Aufgrund dieses Zustellungsmangels könnte die Anerkennung gemäß Art. 34 Nr. 2 LugÜ zu versagen sein, wenn die Klageschrift als verfahrenseinleitendes Schriftstück angesehen wird. Sollte das Verfahren hingegen bereits durch den Zahlungsbefehl eingeleitet worden sein, wären die Voraussetzungen des Art. 34 Nr. 2 LugÜ nicht gegeben. In jedem Verfahren kann es nur ein verfahrenseinleitendes Schriftstück geben (vgl. Wieczorek/Schütze/Haubold, ZPO, 4. Aufl., Art. 45 Brüssel Ia-VO Rn. 122).
17
bb) Die Frage, ob im Schweizer Klageverfahren das verfahrenseinleitende Schriftstück der Zahlungsbefehl ist oder die Klageschrift, ist bisher nicht entschieden.
18
(1) Der Bundesgerichtshof hat sich bisher lediglich mit der Frage befasst, ob der Zahlungsbefehl verjährungshemmende Wirkung hat (BGH, Urteil vom 17. April 2002 – XII ZR 182/00, NJW-RR 2002, 937, 938). Es wurde festgestellt, dass der schweizerische Zahlungsbefehl funktional dem Mahnbescheid nach § 209 Abs. 2 Nr. 1 BGB aF gleichwertig sei und ebenso wie der deutsche Mahnbescheid die Verjährung unterbreche. Im Übrigen sind zum Schweizer Zahlungsbefehl im Rahmen der Vollstreckbarerklärung keine Entscheidungen ergangen.
19
(2) Die Funktion des Zahlungsbefehls als verfahrenseinleitendes Schriftstück wird primär in der schweizerischen Literatur diskutiert. Teilweise wird vertreten, dass es sich bei dem Zahlungsbefehl nicht um eine Entscheidung gemäß Art. 32 LugÜ handele, weil sich seine Rechtskraft auf den rein vollstreckungsrechtlichen Inhalt beschränke (Kren Kostkiewicz, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, 3. Aufl., Rn. 506). Andere hingegen klassifizieren den Zahlungsbefehl als anerkennungsfähige Entscheidung (Domej, ZZPInt 2008, 167, 173 ff; Markus, Internationaler Zivilprozess, 2011, 35 ff; Markus, FS Kaissis, S. 657 ff).
20
(3) Hinsichtlich der Klageschrift stellt sich nicht die Frage, ob der Zahlungsbefehl generell als verfahrenseinleitendes Schriftstück angesehen werden kann. Entscheidend ist vielmehr, ob in dem Prozess, der auf einen Zahlungsbefehl folgt, die Klageschrift als ein separates verfahrenseinleitendes Schriftstück einzuordnen ist, weil das Betreibungsverfahren und das Klageverfahren kein einheitliches Verfahren bilden.
21
(aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichnet der Begriff des verfahrenseinleitenden oder eines diesem gleichwertigen Schriftstücks im Sinne des Art. 45 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO das oder die Schriftstücke, deren ordnungsgemäße und rechtzeitige Zustellung den Antragsgegner in die Lage versetzt, seine Rechte vor Erlass einer vollstreckbaren Entscheidung im Urteilsstaat geltend zu machen (EuGH, Urteil vom 13. Juli 1995 – C-474/93, Hengst Import BV, EuZW 1995, 803 Rn. 19 zu Art. 27 Abs. 2 EuGVÜ).Unter dieser Prämisse hat der Gerichtshof den italienischen Mahnbescheid (“decreto ingiuntivo”) in Verbindung mit der Antragsschrift als verfahrenseinleitendes Schriftstück angesehen(EuGH, Urteil vom 13. Juli 1995, aaO Rn. 20 f). Gleiches hatte er bereits für den deutschen Zahlungsbefehl (den Vorläufer des Mahnbescheids) entschieden (EuGH, Urteil vom 16. Juni 1981 – Rs. 166/80, Klomps, Slg 1981, 1593 Rn. 9).
22
(bb) Das Schweizer System der Schuldbetreibung unterscheidet zwischen dem Einleitungsverfahren und dem Fortsetzungsverfahren (ausführlich dazu Kren Kostkiewicz, Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, 3. Aufl., Rn. 484 ff). Der Zweck des Einleitungsverfahrens besteht darin, Bestand, Umfang und Vollstreckbarkeit der in Betreibung gesetzten Forderung abzuklären. Das Verfahren wird dadurch eingeleitet, dass der Gläubiger beim Betreibungsamt des Betreibungsortes ein Betreibungsbegehren einreicht (Art. 67 SchKG). Dabei sind die Forderungssumme und der Forderungsgrund anzugeben, wenn dieser sich nicht aus einer einzureichenden Urkunde unmittelbar ergibt (Art. 67 Abs. 1 Nr. 3 und 4 SchKG). Entspricht das Betreibungsbegehren den formellen Anforderungen, erlässt das Betreibungsamt einen Zahlungsbefehl (Art. 69 Abs. 1 SchKG). Mit der Zustellung des Zahlungsbefehls an den Schuldner beginnt die Schuldbetreibung (Art. 38 Abs. 2 SchKG). Der Schuldner kann dann innerhalb von 10 Tagen gegen den Zahlungsbefehl einen Rechtsvorschlag erheben (Art. 74 Abs. 1 SchKG). Durch den Rechtsvorschlag wird die Betreibung zum Stillstand gebracht und der Gläubiger auf den Prozessweg verwiesen (Kren Kostkiewicz, aaO Rn. 530; ebenso Hunkeler/Malacrida/Roesler, SchKG, 2. Aufl., Art. 74 Rn. 1).
23
Der Gläubiger hat die Möglichkeit, den Rechtsvorschlag zu beseitigen. Liegt noch kein Titel vor, muss er den Weg der Anerkennungsklage beschreiten. Gemäß Art. 79 Satz 2 SchKG kann er die Fortsetzung der Betreibung nur aufgrund eines vollstreckbaren Entscheids erwirken, der den Rechtsvorschlag ausdrücklich beseitigt (Bundesgericht, BGE 107 III 60; Hunkeler/Vock, SchKG, 2. Aufl., Art. 79 Rn. 12). Der Gläubiger hat dann einen gewöhnlichen Forderungsprozess zu betreiben, in welchem gleichzeitig über die Aufhebung des Rechtsvorschlags entschieden wird (Kren Kostkiewicz, aaO Rn. 574).
24
Die Rechtskraft des Zahlungsbefehls beschränkt sich allerdings auf den vollstreckungsrechtlichen Inhalt (Kren Kostkiewicz, aaO Rn. 506). Er entfaltet, auch wenn er unwidersprochen bleibt, keine materielle Rechtskraft (Kren Kostkiewicz, aaO Rn. 518). Folglich kann die Forderung neben dem Zahlungsbefehl auch auf prozessualem Wege geltend gemacht werden. Das Betreibungsverfahren muss nicht fortgesetzt werden.
25
(cc) Die Entscheidungen zum deutschen und italienischen Mahnbescheid betreffen keinen Folgeprozess. Beim Schweizer Zahlungsbefehl könnte davon ausgegangen werden, dass dieser das verfahrenseinleitende Schriftstück ist, wenn im Folgeprozess die Aufhebung des Rechtsvorschlags mitbegehrt wird. In diesem Fall beabsichtigt der Gläubiger, seine Forderung feststellen und danach die Vollstreckung (Betreibung) wieder aufnehmen zu lassen. Damit es zu einer Beseitigung des Rechtsvorschlags kommt, muss der Gläubiger dann allerdings beantragen, dass dieser aufzuheben ist. Verzichtet er auf einen entsprechenden Antrag, kann das Prozessgericht nicht über die Aufhebung entscheiden. Gemäß Art. 58 Abs. 1 der Schweizerischen Zivilprozessordnung (Schweizer ZPO) gilt der Dispositionsgrundsatz, wonach einer Partei nicht mehr zugesprochen werden darf, als sie verlangt.
26
Gegenüber dem deutschen Mahnverfahren weist das schweizerische Betreibungsverfahren die Besonderheit auf, dass keine Abgabe des Verfahrens von der Stelle, die den Zahlungsbefehl erlassen hat, an das Prozessgericht erfolgt. Im deutschen Mahnverfahren wird die Verbindung des Verfahrens damit zum Ausdruck gebracht, dass gemäß § 696 Abs. 1 ZPO nach Widerspruch des Schuldners und auf dessen oder des Gläubigers Antrag auf Durchführung des streitigen Verfahrens der Rechtsstreit von Amts wegen an das Prozessgericht abgegeben wird. Im schweizerischen Recht endet für das Betreibungsamt durch die Einlegung des Rechtsvorschlags zunächst das Verfahren, ohne dass es einer Abgabe an das Prozessgericht bedürfte.
27
Eine ähnliche Situation wäre im deutschen Recht möglich, wenn der Gläubiger das Mahnverfahren zunächst nicht mehr betreibt und dann später beim Prozessgericht eine Klage einreicht. Da gemäß § 696 Abs. 3 ZPO die Rechtshängigkeit des Verfahrens erst mit der Abgabe an das Prozessgericht rückwirkend auf den Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids eintritt, besteht vor der Abgabe keine Rechtshängigkeitssperre gemäß § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Der Gläubiger ist dann nicht gehindert, noch ein weiteres Verfahren einzuleiten.
28
Entscheidend für den Rechtsstreit ist, ob wegen des Zusammenhangs zwischen dem vorangegangenen Einleitungsverfahren und dem danach stattfindenden Zivilprozessverfahren der Zahlungsbefehl insgesamt als verfahrenseinleitendes Schriftstück gilt. Dies ist nach Auffassung des Senats jedenfalls dann nicht der Fall, wenn im Zivilprozessverfahren nicht mehr die Aufhebung des Rechtsvorschlags begehrt wird, sondern die Forderung isoliert geltend gemacht wird.
29
So verhält es sich im Streitfall. Der Antragsteller hat vor dem Prozessgericht nicht die Beseitigung des Rechtsvorschlags beantragt, sondern die Verurteilung des Antragsgegners zur Zahlung. Nach dem Erlass des Urteils hat er die Vollstreckung nicht mehr auf den ursprünglichen Zahlungsbefehl gestützt, sondern einen neuen Zahlungsbefehl beantragt.
30
b) Die Beantwortung der Frage ist auch entscheidungserheblich. Ein weiterer Versagungsgrund liegt nicht vor. Das Beschwerdegericht ist davon ausgegangen, dass sich der Antragsgegner nicht auf den Versagungsgrund des Art. 34 Nr. 1 LugÜ berufen kann, weil er auch im Rahmen des Anerkennungsverfahrens nicht vorgetragen hat, wie er sich inhaltlich gegenüber dem Anspruch des Antragstellers zur Wehr gesetzt hätte. Es sei nicht ersichtlich, wie sich der Antragsgegner auch bei ordnungsgemäßer Beteiligung an dem schweizerischen Verfahren beteiligt hätte.
31
Diese Auslegung des Beschwerdegerichts ist rechtsfehlerfrei.
32
Es kann dahin gestellt bleiben, ob Art. 34 Nr. 1 LugÜ neben Art. 34 Nr. 2 LugÜ einschlägig sein kann. Es mangelt jedenfalls an einem Verstoß gegen den deutschen ordre public. Die Versagungsgründe in Art. 34 LugÜ bilden in der Systematik, ebenso wie die Gründe in Art. 45 Abs. 1 EuGVVO, die Ausnahme zum Grundsatz der automatischen Anerkennung und Vollstreckbarkeit mitgliedstaatlicher Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten. Auch der ordre public-Einwand ist ein solcher Ausnahmetatbestand und als solcher eng auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2011 – C-139/10, Prism, Slg. 2011, I – 9511 Rn. 33; vom 16. Juli 2015 – C-681/13, Diageo Brands, ZIP 2015, 1848 Rn. 41 zu Art. 34 Nr. 1 EuGVVO aF mwN).
33
Die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die fehlende Übersetzung der Klageschrift sowie die auch im Übrigen unterbliebene Unterrichtung des Antragsgegners über das Verfahren rechtfertigte nur dann eine Versagung der Anerkennung nach Art. 34 Nr. 1 LugÜ, wenn sich dieser bei einer ordnungsgemäßen Beteiligung auch inhaltlich gegen die Entscheidung zur Wehr gesetzt hätte. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass Einwände gegen das anzuerkennende Urteil grundsätzlich im Rahmen des Rechtswegs geltend zu machen sind (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015, aaO Rn. 64; vom 7. Juli 2016 – C-70/15, Lebek, EuZW 2016, 618 Rn. 48). Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antragsgegner noch gegen das schweizerische Urteil eine Beschwerde gemäß Art. 321 Schweizer ZPO einlegen könnte – gegebenenfalls unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß Art. 148 Schweizer ZPO – und ob die Obliegenheit zur Rechtswegerschöpfung aufgrund des Vorbehalts in Art. III Abs. 1 Satz 1 des Protokolls 1 zum Luganer Übereinkommen auch im Rahmen des Art. 34 Nr. 1 LugÜ keine Geltung beanspruchen kann. Selbst wenn keinerlei Rechtsmittelobliegenheit bestünde, wäre der Antragsgegner im Anerkennungsverfahren gehalten gewesen, im Kern vorzutragen, wie er sich gegen die Entscheidung verteidigt hätte, um auszuschließen, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs in keiner Weise ursächlich für das Entscheidungsergebnis sein, er sich allein aus formalen Gründen gegen die Anerkennung zur Wehr setzen kann (vgl. Hess in Schlosser/Hess, EU-Zivil-prozessrecht, 5. Aufl., Art. 45 EuGVVO Rn. 15).
34
Einer solchen Obliegenheit steht auch nicht der vom Antragsgegner erhobene Einwand des Verbots der Révision au fond entgegen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts im Vollstreckungsstaat zu prüfen, ob der Einwand tatsächlich im nationalen Recht des Urteilsstaates Erfolg gehabt hätte. Vielmehr ist lediglich zu prüfen, ob aus Sicht der nationalen Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates ein plausibler Einwand gegenüber dem Anspruch hätte geltend gemacht werden können. Ist dies nicht der Fall, kann nicht allein aufgrund eines formalen Verstoßes gegen die nationalen Regelungen des Urteilsstaates die Anerkennung versagt werden.
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