Europarecht

Kein Anspruch auf ALG II sowie Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt mangels Aufenthaltsrechts eines kroatischen Staatsangehörigen in der BRD

Aktenzeichen  S 14 AS 437/17 ER

Datum:
3.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2, S. 4
SGB XII SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2
SGB II SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2

 

Leitsatz

1 Ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII stellt im Verhältnis zu dem Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB II und/oder SGB XII einen eigenständigen Streitgegenstand dar. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Unionsbürger, die sich entweder auf kein Freizügigkeitsrecht oder nur auf eine solches aus dem Zweck der Arbeitssuche berufen können, sind gleichermaßen von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgeschlossen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) – Arbeitslosengeld II -.
Der 1988 geborene ledige Antragsteller ist kroatischer Staatsangehöriger. Er reiste am 28.10.2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und lebt seitdem hier. Vom 01.07.2015 bis 01.02.2016 übte der Antragsteller eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Vom 01.06.2016 bis 30.11.2016 bezog er Arbeitslosengeld II vom Jobcenter B-Stadt (Bescheid vom 16.11.2016). Zum 27.12.2016 verzog der Antragsteller in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners.
Mit Beschlüssen des Amtsgerichts B-Stadt vom 06.05.2016 bzw. 21.10.2016 wurde dem Antragsteller ein Betreuer bestellt.
Dieser stellte für den Antragsteller am 31.01.2017 beim Antragsgegner Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld II. Mit Bescheid vom 01.03.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.03.2017 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Der Antragsteller sei gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgeschlossen, weil er ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland allein zum Zwecke der Arbeitsuche habe.
Am 20.04.2017 erhob der Antragsteller, jeweils anwaltlich vertreten, Klage zum Sozialgericht Augsburg (Az.: S 14 AS 442/17, noch anhängig) und beantragte zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Seine Bevollmächtigte beantragte für ihn:
„den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller die SGB II-Leistungen ab sofort bis 30.06.2017 zu gewähren.“
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller sich nicht allein zum Zwecke der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte, sondern vielmehr bereits „im Arbeitsmarkt integriert“ gewesen sei, bevor er „krankheitsbedingt aktuell einer Beschäftigung vorübergehend nicht nachgehen kann“. Der Antragsteller bemühe sich sehr, eine neue Beschäftigung aufzunehmen, was ihm „aufgrund seiner Erkrankung“ schlecht gelinge. Der zuständige Sozialhilfeträger sei beizuladen.
Der Antragsgegner beantragte mit Schreiben vom 25.04.2017, den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist zulässig, aber unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Voraussetzung hierfür ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs im Sinne eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtschutzes verpflichtet werden soll, sowie eines Anordnungsgrundes im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit der Anordnung, die ein weiteres Zuwarten, insbesondere das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar erscheinen lässt. Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne liegt vor, wenn das Vorliegen der den Anordnungsanspruch und den Anordnungsgrund begründenden Tatsachen überwiegend wahrscheinlich ist.
Vorliegend fehlt es an einem Anordnungsanspruch. Dem Antragsteller steht weder der ausdrücklich geltend gemachte Anspruch gegen den Antragsgegner auf Arbeitslosengeld II zu noch hat er einen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß § 23 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.V.m. §§ 27ff. SGB XII, weshalb der zuständige Sozialhilfeträger auch nicht zum vorliegenden Verfahren beizuladen war.
Ansprüche des Antragstellers auf Arbeitslosengeld II und auf Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt sind nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (jeweils in der ab 29.12.2016 geltenden Fassung) ausgeschlossen.
§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bestimmt, dass Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben (lit. a) oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (lit. b), von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen sind.
Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII erhalten Ausländer keine Leistungen nach Abs. 1 des § 23 SGB XII oder nach dem Vierten Kapitel, wenn sie kein Aufenthaltsrecht haben oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Der Leistungsausschluss bezieht sich ausweislich des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift sowohl auf die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt (§ 23 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 27ff. SGB XII) als auch auf die in § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII geregelte Sozialhilfe als Ermessensleistung.
Die Voraussetzungen der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII sind hier erfüllt. Es bedarf keiner Klärung, ob der Antragsteller kein Aufenthaltsrecht hat oder ob sich ein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Fest steht jedenfalls, dass neben einem möglichen, sich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebenden Recht zum Aufenthalt (§ 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern – FreizügG/EU -) kein anderes Aufenthaltsrecht besteht und dass deshalb die Leistungsausschlüsse eingreifen.
Eine Freizügigkeitsberechtigung (und damit ein Recht zum Aufenthalt) des Antragstellers ergibt sich insbesondere nicht aus der Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit (§ 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Die letzte Beschäftigung des Antragstellers endete bereits am 01.02.2016.
Auch der Verlängerungstatbestand nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU greift nicht ein. Nach dieser Regelung bleiben die Freizügigkeitsberechtigung und das Recht zum Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer unberührt bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Im Rahmen der Antragstellung beim Antragsgegner am 31.01.2017 hat der Betreuer des Antragstellers im Antragsformular angekreuzt, der Antragsteller sei nach seiner Einschätzung gesundheitlich in der Lage, eine Tätigkeit von mindestens drei Stunden täglich auszuüben. Gründe für Zweifel an dieser Einschätzung sind nicht ersichtlich, zumal der Antragsteller nach dem Vortrag seiner Bevollmächtigten weiterhin sehr bemüht ist, eine neue Beschäftigung aufzunehmen. Soweit die Bevollmächtigte des Antragstellers an anderer Stelle geltend macht, der Antragsteller könne „krankheitsbedingt aktuell einer Beschäftigung vorübergehend nicht nachgehen“, bleibt bereits unklar, auf welchen Zeitraum sich die sinngemäß behauptete Arbeitsunfähigkeit bezieht. Da zudem weder medizinische Unterlagen vorgelegt noch zumindest Diagnosen und behandelnde Ärzte des Antragstellers benannt wurden, waren weitere Ermittlungen des Gerichts ins Blaue hinein nicht veranlasst.
Ebenso wenig greift der Verlängerungstatbestand nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU ein. Nach dieser Regelung bleiben die Freizügigkeitsberechtigung und das Recht zum Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit infolge von Umständen, auf die der Arbeitnehmer keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Insoweit fehlt es vorliegend jedenfalls an einer Tätigkeitsdauer von mehr als einem Jahr. Der Antragsteller war lediglich vom 01.07.2015 bis zum 01.02.2016 beschäftigt und damit nur sieben Monate und einen Tag lang.
Ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU, das einen fünfjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, scheitert daran, dass der Antragsteller erst im Oktober 2013 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist.
Hieraus folgt zugleich, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II bzw. § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII geregelten Ausnahmen von den Leistungsausschlüssen der § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht eingreifen; die Vorschriften verlangen einen Aufenthalt im Bundesgebiet seit mindestens fünf Jahren, der hier gerade nicht gegeben ist.
Nach alledem sind Ansprüche auf Arbeitslosengeld II nach dem SGB II sowie Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bzw. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen.
Über weitergehende Ansprüche ist vorliegend nicht zu befinden. Es ist insbesondere nicht darüber zu entscheiden, ob ein Anspruch des Antragstellers gegen den zuständigen Sozialhilfeträger auf Überbrückungsleistungen (§ 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII) besteht. Nach dieser Vorschrift werden hilfebedürftigen Ausländern, die dem Leistungsausschluss nach Abs. 3 Satz 1 des § 23 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Der Anspruch stellt im Verhältnis zu dem Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB XII einen eigenständigen Streitgegenstand dar. Das Begehren des Antragstellers erstreckt sich erkennbar nicht auf diesen Anspruch; er beabsichtigt keine Ausreise.
Auch ein Anspruch auf Übernahme der Kosten der Rückreise (§ 23 Abs. 3a SGB XII) ist nicht zu prüfen. Ein dahingehendes Begehren des Antragstellers besteht nicht.
Schließlich ist nicht über eine Leistungsgewährung aufgrund der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII zu entscheiden. Nach dieser Vorschrift werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach Satz 3 des § 23 Abs. 3 SGB XII zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Absatz 1 des § 23 SGB XII gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Die Härtefallregelung knüpft nach Wortlaut und Systematik an die Gewährung von Überbrückungsleistungen an. Wie bereits dargelegt, erstrebt der Antragsteller im vorliegenden Fall nicht die Gewährung von Überbrückungsleistungen; er beabsichtigt nicht die Ausreise. Deshalb ist auch kein auf die Gewährung von – die Überbrückungsleistungen modifizierenden bzw. verlängernden – Leistungen nach der Härtefallregelung gerichtetes Begehren zu erkennen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
III.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist abzulehnen, weil der Antrag aus den vorgenannten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO).


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