Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Belgien

Aktenzeichen  M 1 S 17.50973

Datum:
27.4.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 34a Abs. 2 S. 1, § 75 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 9 – 11, Art. 16 – 17
GRCh GRCh Art. 4
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Einer Überstellung nach Belgien kann nicht mit dem Einwand entgegentreten werden, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Belgien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung iSd Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen, sodass eine Überstellung nach Belgien unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3 Dublin III-VO). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Dublin III-VO trägt dem Grundsatz der Einheit der Familie und des Wohls des Kindes Rechnung (siehe Dublin III-VO, EG 13 bis 17) und gestaltet den Grundsatz mit bestimmten Maßgaben und Voraussetzungen näher aus (siehe Art. 9 – 11, Art. 16 Dublin III-VO). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragsteller (Mutter und Sohn) sind nach ihren Angaben ugandische Staatsangehörige und am 8.1.2017 nach Deutschland eingereist. Sie stellten am …1.2017 Asylanträge.
Nachdem eine EURODAC- Abfrage ergab, dass die Antragsteller bereits in Belgien ein Asylverfahren angestrengt hatten, richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 9.2.2017 ein Übernahmeersuchen an Belgien, dem am 14.2.2017 entsprochen wurde.
Mit Bescheid vom 29. März 2017 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Belgien an (Nr. 3). In Nr. 4 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
Die Bevollmächtigte der Antragsteller erhob am *.4.2017 gegen den Bescheid Klage (M 1 K 17.50972) und beantragte zugleich im vorliegenden Verfahren,
die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO Zur Begründung trug die Bevollmächtigte der Antragsteller vor, dass eine Abschiebung nach Belgien nicht erfolgen könne, weil der Vater des Kindes, der der traditionelle Ehemann der Mutter und nigerianischer Staatsangehöriger sei, hier in Deutschland lebe und einen Asylantrag gestellt habe. Außerdem wurde ein Schreiben einer Erzieherin des Caritas-Zentrums Fachdienst Asylberatung Erstaufnahmeeinrichtung … vom …3.2017 vorgelegt, wonach beim Kind eine erhebliche Entwicklungsverzögerung vorliege und dringender Förderbedarf bestehe.
Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässige Antrag ist unbegründet.
Die Klage entfaltet von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG. Das Gericht der Hauptsache kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundlage der Entscheidung ist eine eigene Interessenabwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin das Aussetzungsinteresse der Antragsteller, da die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG rechtmäßig ist. Nach § 34a Abs. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
Das Bundesamt hat zu Recht seine Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens abgelehnt (1.) und das Vorliegen von Abschiebungsverboten oder Abschiebungshindernissen verneint (2.).
1. Belgien hat dem fristgerecht gestellten Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin entsprochen. Belgien ist damit der für die Bearbeitung der Asylbegehren allein zuständige Staat nach der Dublin III-VO und verpflichtet, die Antragsteller (wieder) aufzunehmen.
Besondere Umstände, die die ausnahmsweise Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 der Dublin III-VO begründen oder nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-VO rechtfertigen bzw. bedingen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere können die Antragsteller ihrer Überstellung nach Belgien nicht mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Belgien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen, sodass eine Überstellung nach Belgien unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 und 3 der Dublin III-VO).
Nach dem Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 ua – juris) und dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber implizieren (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O Rn. 86). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVwerG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 5 f. m. w. N.). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Dem Gericht liegen keine Erkenntnisquellen vor, die die Befürchtung rechtfertigen, dass in Belgien systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen bestehen. Die Antragsteller selbst haben systemische Mängel in Belgien weder geltend gemacht noch konkret dargelegt, worin diese liegen.
Nach den insoweit im Kern übereinstimmenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass Belgien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass ein im Dublin-Verfahren rücküberstellter Asylbewerber nicht mit Verstößen gegen Gewährleistungsrechte aus Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 EMRK rechnen muss. So geht aus dem Bericht „aida, Asylum Information Database, National Country Belgium, Stand 30. April 2013“ hervor, dass einem Asylbewerber während der Prüfung seines Asylantrags ein Platz in der Betreuungseinrichtung zusteht. Der Asylbewerber hat dann Anspruch auf materielle, medizinische, soziale und rechtliche Begleitung. Lediglich solange eine von der Behörde festgestellte Ausreiseverpflichtung vollziehbar ist, bestehen diese Rechte nicht. Der Asylbewerber kann aber die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs beantragen. Der Bericht des Auswärtigen Amtes der Vereinigten Staaten von Amerika (Belgium 2012 Human Rights Report) beschreibt auf Seite 7ff. die Flüchtlingssituation in Belgien, ohne Beanstandungen systemischer Art auch nur im Ansatz zu erwähnen. Amnesty International enthält in seinem „Amnesty Report 2013-Belgien“ lediglich den Hinweis darauf, dass die Kapazität der Aufnahmezentren für Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten nicht ausreichend gewesen sei, ein Zustand, der nach dem vorzitierten aida-Report, S.44, ab Ende 2012 nicht fortbestanden haben soll. Hierauf ist die Annahme systemischer Mängel nicht zu stützen.
Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin folgt auch nicht aus dem Einwand der Antragsteller, der Vater und traditionelle Ehemann der Mutter lebe hier in Deutschland. Die Dublin III-VO trägt dem Grundsatz der Einheit der Familie und des Wohls des Kindes Rechnung (siehe Dublin III-VO, EG 13 bis 17) und gestaltet den Grundsatz mit bestimmten Maßgaben und Voraussetzungen näher aus (siehe Art. 9 bis 11, 16 Dublin III-VO). Die sich in Kapitel III. der Dublin III-VO findenden Art. 9 bis 11 Dublin III-VO betreffen die Phase der Bestimmung des für das Schutzgesuch zuständigen Mitgliedstaats nach den zwingenden Kriterien des Kapitel III., welche hier mit der Zuständigkeit Belgiens abgeschlossen ist (s.o.). Nach dem sich in Kapitel IV der Dublin III-VO findenden Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO (Zuständigkeit nach Regelermessen) entscheiden die Mitgliedstaaten, wenn das Kind eines Antragsteller oder ein Elternteil, das/der sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhält, auf die Unterstützung des Antragstellers angewiesen ist, in der Regel, den Antragsteller und dieses Kind oder Elternteil nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat und die betroffenen Personen ihren Wunsch schriftlich kundgetan haben. Vorliegend fehlt es an einem rechtmäßigen Aufenthalt des behaupteten Vaters. Ein bloßes gesetzliches, vorübergehendes, verfahrensbegleitendes Aufenthaltsrecht wie etwa § 81 Abs. 3 Satz 1 bzw. Abs. 4 Satz 1 AufenthG oder nach § 55 Abs. 1 AsylG begründet keinen rechtmäßigen Aufenthalt in dem vorstehend genannten Sinne (VG Düsseldorf, B.v. 8.4.2015 – 13 L 914/15.A -, juris Rn. 17). Des Weiteren fehlt es an hinreichend substantiierten Darlegungen zum Bestehen einer familiären Bindung bereits im Herkunftsland und dazu, ob die Mutter und das Kind wirklich der Unterstützung durch den angeblichen Vater bedürfen. Außerdem liegt kein schriftlicher Nachweis der Mutter darüber vor, dass sie überhaupt eine Hilfe durch den angeblichen traditionellen Ehemann und angeblichen Vater des Kinds und seine familiäre Anwesenheit wünscht. Im Besonderen ist aber keineswegs klar, ob das Kind überhaupt Kind des behaupteten Vaters ist. Über die Identität des angeblichen Vaters findet sich in den Akten nur ein Name (Bl. 70 d.A. des Bundesamts). Auch ist sehr zweifelhaft, ob der angebliche Vater überhaupt, wie behauptet, mit der Mutter des Kindes verheiratet ist. In den Akten des Bundesamts findet sich hierzu nur ein Zertifikat einer athenisch-griechischen christlichen Glaubensgemeinschaft. Das belegt eine eheliche Verbindung keineswegs. Zum einen steht noch eine Echtheitsprüfung des Dokuments aus. Zum anderen ist für den Nachweis des Bestehens einer Ehe eine amtliche, staatliche Urkunde erforderlich. Entscheidend aber ist, dass die Identität der Mutter und des angeblichen Ehemanns nicht überprüfbar ist, da weder sie noch er irgendwelche Dokumente zu ihrer Identität vorgelegt haben, so dass schon nicht klar ist, dass die beiden das in dem Zertifikat genannte Brautpaar sind.
2. Die Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheids bleibt voraussichtlich auch ohne Erfolg, als im Rahmen der Anordnung zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote und inlandsbezogene Abschiebungshindernisse zu prüfen sind (zu dieser Prüfungspflicht siehe BayVGH, B.v.12.3.2014, Az. 10 CE 14.427, juris).
Die vorgetragenen Entwicklungsverzögerungen des Kindes können der Abschiebung nicht entgegengehalten werden. Das Gesetz stellt hohe Anforderungen an die Berücksichtigungsfähigkeit gesundheitlicher Einwendungen, sowohl was die Schwere des Leidens, den Einwand nicht ausreichender Behandelbarkeit im Zielland als auch den qualifizierten ärztlichen Nachweis betrifft (siehe § 60 Abs. 7 Satz 2 bis 4, § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG). Diesen Anforderungen ist hier bei Weitem nicht Genüge getan. Die Feststellungen der Erzieherin des Caritas-Zentrums Fachdienst Asylberatung vom …3.2017 sind keine ärztlichen Aussagen und sprechen nur von der Förderungsnotwendigkeit des Kindes. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, warum etwaige Entwicklungsstörungen des Kindes nicht in Belgien behandelbar sein sollten. Nach den obigen Ausführungen besteht in Belgien eine ausreichende Gesundheitsfürsorge (siehe auch Bescheid vom 29.3.2017 Bl. 5).
Der Einwand, der Vater des Kindes und traditionelle Ehemann lebe in Deutschland, kann der Abschiebung ebenfalls nicht entgegengehalten werden. Das wurde bereits oben in Nr. 1 ausgeführt. Aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK ergeben sich – ungeachtet der Frage, inwieweit diese Rechte neben den oben genannten Grundsätzen der Dublin III-VO im Dublin III-VO-Verfahren überhaupt Bedeutung erlangen – keine anderen Gesichtspunkte.
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)

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