Aktenzeichen 2 Ss OWi 5/16
StVG StVG a.F. § 28 Abs. 3, § 29 Abs. 6 S. 2
StVO StVO § 3 Abs. 3 Nr. 2
BKatV BKatV § 1, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 2 S. 2
Leitsatz
1. Aus der am Willen des Gesetzgebers orientierten Auslegung der Übergangsregelung des § 65 III Nr. 2 S. 2 StVG n. F. folgt, dass eine Hemmung des Tilgungsablaufs für noch vor dem 01.05.2014 im Verkehrszentralregister (VZR) nach § 28 III StVG a. F. gespeicherte Entscheidungen nicht durch Entscheidungen ausgelöst wird, die erst ab dem 01.05.2015 im Fahreignungsregister (FAER) gespeichert werden. (amtlicher Leitsatz)
2 Die Bestimmung des § 29 Abs. 6 S. 2 StVG in der bis zum 30.4.2014 geltenden Fassung ist gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 StVG in der seit dem 1.5.2014 geltenden Fassung nur auf vor dem 1.5.2014 erfolgte Eintragungen im Fahreignungsregister anwendbar; nach dem 30.4.2014 im Fahreignungsregister erfolgende Eintragungen entfalten daher keine Tilgungshemmung für bis zum 30.4.2014 enthaltene Eintragungen (so auch OLG Karlsruhe BeckRS 2016, 09261). (redaktioneller Leitsatz)
3 Bei der Auslegung einer strafrechtlichen Bestimmung ist auch bei entgegenstehendem Wortlaut der mit der Norm verfolgte Wille des Gesetzgebers zugrunde zu legen, wenn sich dies ausschließlich zugunsten des Betroffenen auswirkt; der mögliche Wortsinn des Gesetzes begrenzt die zulässige richterliche Auslegung der Norm nur zum Nachteil des von ihr Betroffenen (Anschluss an BGH BeckRS 2007, 18596 Rn. 28). Dies gilt auch für die Auslegung bußgeldrechtlicher Vorschriften. (redaktioneller Leitsatz)
Gründe
I. Die gemäß § 79 I 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat auf die Sachrüge des Betr. insoweit Erfolg, als der Rechtsfolgenausspruch des Urteils keinen Bestand hat. Im Übrigen ist die Rechtsbeschwerde jedoch unbegründet (§ 349 II StPO i. V. m. § 79 III 1 OWiG).
1. Soweit sich die Rechtsbeschwerde gegen den Schuldspruch richtet, war sie als unbegründet zu verwerfen. Auch ein Verfahrenshindernis besteht nicht. […]
2. Das angefochtene Urteil hält jedoch in Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch einer sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand. […]
a) Die Rechtsfolgenentscheidung beruht sowohl hinsichtlich der Bemessung der Geldbuße als auch hinsichtlich der Verhängung des Fahrverbotes maßgeblich auf der Verwertung der im Urteil näher mitgeteilten Vorahndungen. Dies erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil […] mit Ausnahme der letzten Eintragung alle übrigen 6 angeführten Eintragungen am Tag des Erlasses des tatrichterlichen Urteils […] am 22.06.2015 bereits tilgungsreif waren.
aa) Die Rechtskraft der vom AG bei der Bemessung der Rechtsfolgen als Vorahndungen berücksichtigten Bußgeldentscheidungen Nr. 1 bis 6 datiert vom 13.10.2012, 10.11.2012, 02.02.2013, 15.02.2013, 12.03.2013 und 26.04.2013. Dies hat zur Folge, dass sich nach § 65 III Nr. 2 StVG n. F. die Tilgung dieser Eintragungen nach den Bestimmungen des § 29 StVG in der bis zum 30.04.2014 anwendbaren Fassung richtet.
bb) Grundsätzlich beträgt die Tilgungsfrist bei Entscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 29 I 2 Nr. 1 StVG a. F. 2 Jahre. Gemäß § 29 IV Nr. 3 StVG a. F. beginnt bei Bußgeldentscheidungen die Tilgungsfrist mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidung. Für diese vom Tatrichter berücksichtigten Vorahndungen wäre die Tilgungsfrist somit bereits mit Ablauf des 25.04.2015 verstrichen. Sind im Fahreignungsregister jedoch – wie hier – mehrere Entscheidungen nach § 28 III Nrn. 1 bis 9 a. F. StVG über eine Person eingetragen, so ist nach § 29 VI 1 StVG a. F. die Tilgung einer Eintragung vorbehaltlich der Regelung in § 29 VI S. 2 bis 6 StVG a. F. erst zulässig, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen. Dies war hier zum Entscheidungszeitpunkt am 22.06.2015 allerdings nicht der Fall, da für die seit dem 06.02.2015 rechtskräftige (letzte) Bußgeldentscheidung vom 20.01.2015 noch keine sog. Tilgungsreife eingetreten war.
cc) Jedoch kommt eine Tilgungshemmung durch die unter Nr. 7 erfasste (letzte) Bußgeldentscheidung vom 20.01.2015 vorliegend deshalb nicht in Betracht, weil § 29 VI 2 StVG a. F. lediglich auf vor dem 01.05.2014 erfolgte Eintragungen anwendbar ist (§ 65 III Nr. 2 1 StVG n. F.). Eine Eintragung der erst nach Inkrafttreten der Reform begangenen Tat vom 17.11.2014 konnte den Ablauf der Tilgungsfrist für die vom AG festgestellten Bußgeldentscheidungen Nrn. 1 bis 6 daher nach richtiger Ansicht nicht mehr hemmen (vgl. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker StVR 24. Aufl. § 4 StVG Rn. 11 i. V. m. § 29 StVG a. F. Rn. 1 i. V. m. § 29 StVG n. F. Rn. 3; Gübner VRR 2014, 89).
b) Die Einfügung des § 65 III Nr. 2 StVG durch das Änderungsgesetz vom 28.08.2013 zielt nämlich ausweislich der Gesetzesmaterialien darauf ab, die Weiterführung der Tilgungshemmung auf den bei Inkrafttreten der Reform vorhandenen Registerbestand und die bereits ausgelösten Ablaufhemmungen zu beschränken. Eintragungen nach Inkrafttreten der Reform sollen unabhängig von Tattag und Entscheidungsdatum keine Tilgungshemmung mehr auslösen können. Die abzuschaffende Tilgungshemmung soll damit bereits in der Übergangszeit so weit wie möglich reduziert werden (BTDrucks. 17/13452 S. 7; VkBl. 2013, 1155).
aa) Nach dem Wortlaut des § 65 III Nr. 2 StVG kann die Ablaufhemmung des § 29 VI 2 StVG a. F. nicht durch Entscheidungen ausgelöst werden, die ab Inkrafttreten des Änderungsgesetzes am 01.05.2014 im Fahreignungsregister (FAER) gespeichert werden. Allerdings fehlt eine ausdrückliche Bezugnahme auch auf die Ablaufhemmung nach § 29 VI 1 StVG a. F. Ob hierfür aber für den Gesetzgeber überhaupt Anlass bestand, nachdem § 29 VI 1 StVG a. F. nur nach altem Recht eingetragene Entscheidungen betrifft, wohingegen § 29 VI 2 StVG a. F. von einer „neuen“ Tat spricht, ist umstritten (bejahend und allein auf den Wortlaut abstellend jedenfalls Hentschel/König/Dauer StVR 43. Aufl. § 29 StVG Rn. 43). Nach Auffassung des Senats erweist sich indes für die Auslegung der Vorschrift der in den Gesetzesmaterialien niedergelegte Wille des Gesetzgebers als ausschlaggebend.
bb) Die Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich vorliegend eindeutig aus den Gesetzesmaterialien ergibt, ist als eine gegenüber den weiteren Methoden gleichrangige Auslegungsmethode auch dann anwendbar, wenn der Gesetzeswortlaut selbst keinen entsprechenden Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers enthält. Dem gesetzgeberischen Willen ist insoweit im Rahmen der Auslegung umso größeres Gewicht beizumessen, wenn es sich – wie hier – um eine noch junge Norm handelt, da dies umso eher die Unterstellung ermöglicht, dass der Wille des Gesetzgebers bei deren Erlass auch zum Entscheidungszeitpunkt noch fortgelten soll (st.Rspr.; vgl. u. a. BGH, Urteil v. 28.08.2007 – 1 StR 268/07 = BGHSt 52, 31 = NJW 2008, 240 = StV 2008, 77 = JR 2008, 207 und Beschl. v. 02.04.2008 – 1 ARs 3/08 = JR 2008, 255 mit Anm. Kudlich; vgl. auch BGH, Urt. v. 18.01.2007 – 4 StR 394/06 = StV 2007, 186 = StraFo 2007, 167 = NStZ 2007, 332 = JR 2007, 379 m. Anm. Kudlich JR 2007, 381). Der BGH hat es jedenfalls dann für ohne weiteres zulässig gehalten, selbst bei abweichendem Wortlaut die Vorstellung des Gesetzgebers der Gesetzesauslegung zugrunde zu legen, wenn sich dies – wie im vorliegenden Fall – ausschließlich zugunsten des von einer Sanktion Betr. auswirkt. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Auslegung einer strafrechtlichen Bestimmung danach nur zum Nachteil des von dieser Betr. (BGH a. a. O.; vgl. auch BGHSt 43, 237/238; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 59. Aufl. Einl. Rn. 194). Ein Grund dafür, bei der Auslegung bußgeldrechtlicher Vorschriften insoweit von anderen Maßstäben auszugehen, ist nicht ersichtlich.
c) Nach alledem war das AG an der Verwertung der im Urteil festgestellten Vorahndungen Nrn. 1 bis 6 nach § 29 VIII i. V. m. VII StVG a. F. gehindert, weil diese Voreintragungen tilgungsreif waren. Tilgung und Tilgungsreife sind wesensgleich; in beiden Fällen darf eine Voreintragung zum Nachteil des Betr. nicht verwertet werden (Hentschel/König/Dauer § 29 StVG [42. Aufl.] Rn. 12).
II. Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels, auf dem sowohl die Bemessung der Geldbuße als auch die Verhängung des Fahrverbotes beruht, war das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch abzuändern. Eine Zurückverweisung an das AG war insoweit entbehrlich. Der Senat kann gemäß § 79 VI OWiG in der Sache selbst […] entscheiden, weil weitere für den Rechtsfolgenausspruch erhebliche Feststellungen nicht mehr zu erwarten sind. Nachdem die der Bußgeldentscheidung Nr. 7 zugrundeliegende Tat erst am 17.11.2014 und damit zeitlich nach der verfahrensgegenständlichen Tat begangen wurde, ist ein Anlass, gegen den als nicht vorgeahndet geltenden Betr. eine andere als die vorgesehene Regelgeldbuße von 120 Euro ohne Verhängung eines Fahrverbots (§ 1 I 1, II BKatV, Nr. 11.3.6 Tab. 1c zum BKat) festzusetzen, nicht erkennbar. […]