Europarecht

Kostenerstattungsstreit zwischen Leistungträgern über Eingliederungshilfe

Aktenzeichen  AN 6 K 15.02382

Datum:
9.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 150164
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX aF § 14 Abs. 1 S. 1, 2, Abs. 4
SGB X § 104 Abs. 1 S. 1 u. 2

 

Leitsatz

1 Die Vorschrift des § 14 SGB IX soll im Außenverhältnis zwischen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern die möglichst schnelle Leistungserbringung sichern und schließt Kostenerstattungsansprüche nach §§ 102 ff. SGB X zwischen Leistungsträgern grundsätzlich nicht aus (ebenso BSG BeckRS 2007, 46154; BVerwG BeckRS 2013, 55000 Rn. 27-29; BayVGH BeckRS 2013, 57178 Rn. 21-28). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein solcher Kostenerstattungsanspruch ist ausgeschlossen, wenn der erstangegangene Rehabilitationsträger zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingreift und das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 S. 2 SGB IX missachtet, nicht aber dann, wenn er den Leistungsantrag „nur“ in der irrtümlichen Annahme seiner (endgültigen) Zuständigkeit nicht weiterleitet (ebenso BayVGH BeckRS 2013, 57178 Rn. 26, 27). (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für die für … geb. …2006, im Zeitraum vom 18. August 2013 bis 19. August 2014 erbrachten Leistungen für Schulbegleitung und Besuch der Heilpädagogischen Tagesstätte in Höhe von 24.617,42 EUR zu erstatten.
2. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht kann über die Klage im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Der streitgegenständlichen allgemeinen Leistungsklage, die Kostenerstattung für Leistungen an den Leistungsberechtigten … im Zeitraum vom 18. August 2013 bis 19. August 2014 mit einem geltend gemachten Erstattungsanspruch in Höhe von insgesamt 24.617,42 EUR betrifft, ist stattzugeben, weil sie sowohl zulässig als auch vollständig begründet ist. Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruches ist § 104 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), der den Kostenerstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers regelt. Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht (ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen), ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
Nachrangig verpflichtet in diesem Sinn ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X).
Die Geltendmachung der Erstattung auf dieser Grundlage ist entgegen der Auffassung des Beklagten nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger die der Leistungserbringung zu Grunde liegenden, bei ihm eingegangenen Anträge von Seiten des Leistungsempfängers auf Schulbegleitung und auf Gewährung von Eingliederungshilfe in der Heilpädagogischen Tagesstätte nicht fristgerecht gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB IX an den Beklagten weitergeleitet hat. Denn § 14 SGB IX soll nur im Außenverhältnis – also zwischen behinderten Menschen und Rehabilitationsträgern – die möglichst schnelle Leistungserbringung sichern, diese Vorschrift schließt jedoch grundsätzlich nicht – auch nicht mit Blick auf § 14 Abs. 4 SGB IX – Kostenerstattungsansprüche nach §§ 102 ff. SGB X aus (so schon grundlegend BSG, U.v. 26.6.2007 – B 1 KR 34/06 R – BSGE 98, 267; dem folgend BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30.12 – juris und BayVGH, U.v. 7.10.2013 – 12 B 11.1886 – juris; dadurch ist die von Seiten des Beklagten zitierte Rechtsprechung des VG Würzburg – wiederum unter Bezug auf einen Beschluss des BayVGH vom 1.12.2003 – 12 CE 03.2683 – überholt).
Eine Ausnahme insoweit besteht nur dann, wenn der erstangegangene Träger zielgerichtet in fremde Zuständigkeiten eingreift und das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX missachtet. Leitet er dagegen „nur“ in der irrtümlichen Annahme seiner (endgültigen) Zuständigkeit den Leistungsantrag nicht weiter, so begründet dies im Erstattungsverhältnis zu anderen Trägern lediglich eine nachrangige, keine einen Kostenerstattungsanspruch ausschließende endgültige Zuständigkeit. Hat der erstangegangene Träger seine Zuständigkeit geprüft und bejaht, muss er im Nachhinein zu einer Korrektur im Rahmen der Erstattung befugt sein, sonst wäre er gehalten, schon bei geringstem Verdacht einen Rehabilitationsantrag weiterzuleiten, um die Zuständigkeitsproblematik gegebenenfalls im Erstattungsstreit austragen zu können und andererseits nicht automatisch von jeglicher Erstattungsmöglichkeit ausgeschlossen zu sein. Dies widerspräche sowohl dem Regelungszweck, zu einer schnellen Zuständigkeitsklärung gegenüber dem behinderten Menschen zu kommen, als auch dem Ziel, das gegliederte Sozialsystem zu erhalten. In Folge dessen muss der erstangegangene Träger hier zu einer „nachträglichen Korrektur“ der irrtümlichen Bejahung seiner Zuständigkeit berechtigt sein und einen Anspruch wegen nachrangiger Verpflichtung aus § 104 SGB X geltend machen können. § 14 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB IX schafft deshalb nur eine nachrangige Zuständigkeit, die es zulässt, dass der erstangegangene Rehabilitationsträger im Rahmen eines Erstattungsstreits sich die Kosten der Rehabilitationsmaßnahme nach § 104 SGB X vom „eigentlich“ zuständigen, in diesem Sinne vorrangigen Rehabilitationsträger erstatten lässt. Der Träger, der irrtümlich seine Zuständigkeit bejaht, wird damit nicht – im dargelegten Sinne dem Primärziel des § 14 SGB IX zuwiderlaufend – dauerhaft mit den Kosten der Rehabilitationsmaßnahme belastet (so ausdrücklich BayVGH, U.v. 7.10.2013 – 12 B 11.1886 – juris Rn. 26 und 27, unter Bezugnahme auf das bereits genannte Urteil des BSG vom 26.6.2007).
Davon, dass der Kläger als erstangegangener Träger aber das Weiterleitungsgebot des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX (bewusst) missachtet und trotz Verneinung seiner Zuständigkeit geleistet hat, obwohl nach dem Ergebnis seiner Prüfung ein anderer Rehabilitationsträger zuständig ist (Formulierung gem. BayVGH, U.v. 7.10.2013, a.a.O., Rn. 30), kann im vorliegenden Fall jedoch trotz der Existenz des Aktenvermerks vom 22. Mai 2012 in den Akten des Klägers nicht ausgegangen werden. Die für die geltend gemachte Kostenerstattung maßgeblichen Anträge auf Leistungsgewährung sind erst im Mai 2013 bzw. – der weitere Antrag auf Fortführung der Leistungen für einen Schulbegleiter über das erste Schulhalbjahr 2013/14 hinaus – Ende Januar 2014 beim Kläger als erstangegangenem Träger eingegangen. Seit dem Aktenvermerk vom 22. Mai 2012 ist aber ausweislich der Klägerakten bis Mai 2013 eine Vielzahl von Vorgängen in dem Hilfeverfahren … angefallen, zudem waren der Antragstellung vom Mai 2013 beigegeben eine Vielzahl von Unterlagen zur Entwicklung des Kindes …, die – wenn auch eher für frühere Zeiten – auch deutliche Hinweise auf über eine seelische Behinderung hinausreichende Ursachen des Hilfebedarfs vermittelten. Zwar vermag das Gericht angesichts der vorliegenden Niederschrift zu der Hospitation am 29. April 2014 schwerlich nachzuvollziehen, dass – wie vom Kläger vorgetragen – diese Hospitation dann ausschlaggebend für die (erneute) Erkenntnis gewesen sei, dass der Eingliederungshilfebedarf beim Hilfeempfänger lediglich im Bereich der seelischen Behinderung vorliege, sondern sieht darin wohl eher einen Versuch, zu bemänteln, dass die zutreffende damalige Erkenntnis von Mai 2012 bei den Entscheidungen über die Leistungsanträge von Mai 2013 und Januar 2014 mangels genügend sorgfältiger Prüfung irrtümlich – fehlerhaft – übersehen/verdrängt/übergangen worden ist. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass die Erkenntnis vom 22. Mai 2012 bei den hier zu betrachtenden Entscheidungen, die betreffenden Anträge von Mai 2013 bzw. Januar 2014 nicht weiterzuleiten, sondern in eigener Zuständigkeit (leistungsgewährend) zu verbescheiden, für den Kläger noch aktuell war. In Auswertung der zur Überzeugung des Gerichts vollständig und ungeschönt vorgelegten Akten des Klägers ist mithin davon auszugehen, dass hier „nur“ ein erstangegangener Träger in der irrtümlichen Annahme seiner (endgültigen) Zuständigkeit einen Leistungsantrag nicht weitergeleitet hat, und nicht eine (bewusste) Missachtung des Weiterleitungsgebots samt einem zielgerichteten Eingriff in eine fremde Zuständigkeit vorliegt. Dies bedeutet zusammengefasst, dass der Weg zu den §§ 102 ff. SGB X für den Kläger durch die damalige Nicht-Weiterleitung nicht gesperrt ist.
Die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X liegen sodann zugunsten des Klägers vor. Der Kläger war nachrangig verpflichteter, der Beklagte vorrangig verpflichteter Leistungsträger für die kostenstreitgegenständliche Leistungserbringung an … Der Hilfeempfänger hatte wegen seiner seelischen Behinderung einen Anspruch auf Eingliederungshilfe gemäß §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII gegen den Kläger als zuständigen überörtlichen Träger der Sozialhilfe und zugleich stand ihm ein Anspruch auf Jugendhilfe in Gestalt der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35a SGB VIII gegen den Beklagten als dafür zuständigen Träger zu; dabei gehen gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII die Jugendhilfeleistungen den Sozialhilfeleistungen im Rang vor, weil – wie zwischen den Beteiligten im Gerichtsverfahren auch unstreitig – die geltend gemachte Kostenerstattung nicht Maßnahmen der Frühförderung von Kindern im Vorschulbereich betrifft und der Hilfeempfänger nicht als (auch) körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht eingestuft werden kann. Ein Fall des nachträglichen Wegfalls der Leistungsverpflichtung des Klägers im Sinne von § 103 Abs. 1 SGB X liegt ebenfalls nicht vor. Die gewährte Hilfe selbst entsprach schließlich den einschlägigen materiellen Voraussetzungen des Jugendhilferechts, was ebenso wie die Höhe des für die gewährten Leistungen geltend gemachten Kostenerstattungsbetrags weder von Beklagtenseite angegriffen worden ist noch ansonsten aus Sicht des Gerichts zu beanstanden ist, sodass auch § 104 Abs. 3 SGB X den Umfang des streitgegenständlichen Kostenerstattungsanspruchs trägt.
Fehl geht der Beklagte mit seinem Einwand, jedenfalls für die Zeit nach dem 29. April 2014 könne keine Kostenerstattung mehr geltend gemacht werden, weil nach dem eigenen Vortrag des Klägers bei der Hospitation an diesem Tag Klarheit darüber gewonnen worden sei, dass der Leistungsberechtigte von einer rein seelischen Behinderung betroffen sei. Denn maßgeblich für den möglichen Ausschluss der Kostenerstattung wegen (bewusster) Missachtung der Zuständigkeit eines anderen Trägers ist die Frist, binnen der der erstangegangene Träger gemäß § 14 SGB IX über die Übernahme des Hilfefalles oder die Weiterleitung an einen anderen Träger entscheiden muss. Diese Frist war angesichts des Antragseingangs beim Kläger am 31. Januar 2014 längst verstrichen, sodass beim Kläger die Pflicht zur Sachverbescheidung gegenüber dem Hilfeempfänger bestand und eine (erst) am 29. April 2014 gewonnene Erkenntnis im Klagezusammenhang unschädlich ist.
Da nach alledem dem Klageantrag stattzugeben ist, sind die Verfahrenskosten hier gemäß § 161 Abs. 1, § 154 Abs. 1 VwGO dem Beklagten aufzuerlegen.
Die Anordnung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 709 Sätze 1 und 2 ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen