Europarecht

Kostenfestsetzungsbeschluss, Erinnerung, Zweites Corona-Steuerhilfegesetz, zum Gegenstandswert bei mehreren Klägern in Asylstreitigkeiten, zur Frage, auf welchen Zeitpunkt bei einer temporären Absenkung des Umsatzsteuersatzes für die Berechnung der Rechtsanwaltsvergütung in einem gerichtlichen Verfahren abzustellen ist

Aktenzeichen  M 11 M 21.30892

Datum:
15.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 31815
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 116 Abs. 2
VwGO § 151
VwGO § 164
RVG § 8 Abs. 1
RVG § 30 Abs. 1
RVG-VV Nr. 7008
UStG § 28 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Der im Verfahren M 11 K 17.45581 erlassene Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. April 2021 wird abgeändert:
In Absatz 1 dieses Kostenfestsetzungsbeschlusses wird der Satzteil „901,90 EUR (i. W. neunhunderteins 90/100 Euro)“ durch den Betrag „1.049,80 EUR“ ersetzt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Gründe

I.
Die Klägerinnen, eine Mutter und ihre minderjährige Tochter, sind somalische Staatsangehörige. Mit Bescheid vom 5. April 2017, der beide Klägerinnen betraf, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Asylanträge ab. Die Klägerinnen erhoben durch einen früheren Bevollmächtigten im Wege der subjektiven Klagehäufung gemeinsam Klage (M 11 K 17.45581). Im November 2019 übernahmen die jetzigen Bevollmächtigten die Vertretung der Klägerinnen. Mit Urteil vom 15. Oktober 2020 verpflichtete das Gericht die Beklagte, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen; die Kosten des Verfahrens wurden der Beklagten auferlegt. Das Gericht verfuhr dabei nach § 116 Abs. 2 VwGO. Der schriftliche Urteilstenor wurde am 15. Oktober 2020 der Geschäftsstelle übergeben. Das mit Gründen versehenene schriftliche Urteil wurde den Beteiligten erst im Jahr 2021 zugestellt und in der Folge rechtskräftig.
Mit zwei separaten Schreiben vom 19. März 2021, bei Gericht eingegangen am 22. März 2021, beantragten die Bevollmächtigten der Klägerinnen, die von der Beklagten zu tragenden Rechtsanwaltskosten für jede Klägerin auf jeweils 1017,45 EUR zuzüglich Zinsen festzusetzen. Zugrunde gelegt wurde jeweils ein Gegenstandswert von 5000 EUR und ein Umsatzsteuersatz von 19%.
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. April 2021 setzte der Kostenbeamte die von der Beklagten zu tragenden notwendigen Aufwendungen der Klägerinnen auf insgesamt 901,90 EUR zuzüglich Zinsen fest. In der Begründung wurde ausgeführt, dass nach § 60 Abs. 1 RVG der Rechtsanwalt die Vergütung nach altem Recht zu berechnen habe, wenn ihm der unbedingte Auftrag zur Erledigung vor Inkrafttreten des 3. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes am 1. Januar 2021 erteilt worden sei. Im vorliegenden Fall seien die Bevollmächtigten der Kläger am 25. November 2019 bestellt worden. Der Umsatzsteuersatz von 16% sei auf die sonstigen Leistungen des Rechtsanwalts anzuwenden, die zwischen dem 1. Juli 2020 und dem 31. Dezember 2020 bewirkt worden seien. Die Leistungen eines Rechtsanwalts seien grundsätzlich dann ausgeführt, wenn der seiner Leistung zugrundeliegende Auftrag erledigt oder die Angelegenheit beendet sei. Die Angelegenheit sei hier durch das Urteil vom 15. Oktober 2020 beendet gewesen.
Die Bevollmächtigten der Klägerinnen legten gegen den ihnen am 7. April 2021 zugestellten Kostenfestsetzungsbeschluss am 12. April 2021
Erinnerung ein.
Sie machen geltend, dass es sich um zwei Klägerinnen und Klagen handele, für die separate eigene Asylgründe geltend gemacht worden seien. Dementsprechend sei in dem Urteil den Klägerinnen aus unterschiedlichen Gründen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Daher seien für die Klägerinnen auch zwei separate Kostenfestsetzungsanträge gestellt worden. Die Kosten für die beiden Klägerinnen seien getrennt festzusetzen. Während es zutreffe, dass die Vergütung nach altem Recht zu berechnen sei, sei der im Kostenfestsetzungsbeschluss angewandte Umsatzsteuersatz von 16% fehlerhaft. Die Angelegenheit und der anwaltliche Auftrag seien nicht vor dem 31. Dezember 2020 beendet gewesen. Es sei Beschluss ergangen, dass das Urteil gemäß § 116 Abs. 2 VwGO zugestellt werde. Die Angelegenheit und der anwaltliche Auftrag seien daher erst mit der Urteilszustellung im Jahr 2021 beendet gewesen. Für jede der beiden Klägerinnen seien die entstandenen notwendigen Aufwendungen auf 925,23 EUR, jeweils einschließlich 147,73 EUR Mehrwertsteuer, festzusetzen.
Der Kostenbeamte half der Erinnerung nicht ab und legte sie dem Gericht vor. Richtig sei hier ein Streitwert von 6.000 EUR gemäß § 30 Abs. 1 RVG. Es handele sich um eine Klage, nicht um zwei eigenständige Klagen.
Die Beklagte, die Gelegenheit zur Stellungnahme hatte, hat sich nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (sog. Erinnerung) hat nur in geringem Umfang Erfolg.
1. Im vorliegenden Fall ist nicht für jede der beiden Klägerinnen ein Gegenstandswert von 5.000 EUR, sondern für das Verfahren insgesamt ein Gegenstandswert von 6.000 EUR zugrunde zu legen.
Bei dem zugrundeliegenden Verfahren M 11 K 17.45581 handelt es sich um ein Klageverfahren nach dem Asylgesetz im Sinne von § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG, an dem zwei natürliche Personen beteiligt waren, so dass sich gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 RVG der Gegenstandswert von 5.000 EUR um 1.000 EUR auf 6.000 EUR erhöht. Eine davon abweichende Gegenstandswertfestsetzung nach § 30 Abs. 2 RVG ist nicht erfolgt und auch nicht angebracht, weil der sich aus § 30 Abs. 1 RVG ergebende Wert nicht nach den besonderen Umständen des Einzelfalls unbillig ist. Insbesondere reicht es hierfür nicht aus, dass für die Klägerinnen unterschiedliche Asylgründe geltend gemacht wurden und ihnen ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund unterschiedlicher Erwägungen zuerkannt worden ist. Da das AsylG und die sonstigen im Asylverfahren einschlägigen Rechtsvorschriften grundsätzlich eine individuelle, den jeweiligen Asylbewerber betreffende Prüfung verlangen, ist dies für sich genommen nicht atypisch. Gerade dann, wenn – wie hier – die weitere natürliche Person i. S. d. § 30 Abs. 1 Satz 2 RVG ein enger Familienangehöriger ist, handelt es sich grundsätzlich ohne weiteres um einen Fall, der angemessen von der Gegenstandswerterhöhung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 RVG erfasst ist und keine darüber hinausgehende Erhöhung rechtfertigt, zumal bei den Klägerinnen für die Rückkehrprognose von einer gemeinsamen Rückkehr auszugehen und daher insoweit ein identischer Lebenssachverhalt zugrunde zu legen war.
2. Bei dem somit anzunehmenden Gegenstandswert von 6.000 EUR beträgt die volle Verfahrensgebühr im vorliegenden Fall 354 EUR. Maßgeblich ist insoweit nach § 60 Abs. 1 Satz 1 RVG nicht die gegenwärtige Fassung von § 13 Abs. 1 RVG, sondern diejenige, die zum Zeitpunkt der Erteilung des unbedingten Auftrags gegolten hat. Damit ergibt sich bei Ansatz einer 1,3-fachen Verfahrensgebühr (Nr. 3100 RVG-VV), einer 1,2-fachen Terminsgebühr (Nr. 3104 RVG-VV) und der Pauschale für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (20 Euro; Nr. 7002 RVG-VV) ein Betrag von
[354] EUR x 2,5 + 20 EUR = 905 EUR (ohne Umsatzsteuer).
Der im Kostenfestsetzungsbeschluss unter Nummer I unrichtig festgesetzte Wert von 901,90 EUR (einschließlich 16% Umsatzsteuer) beruht wohl auf einer irrtümlich angenommenen Verfahrensgebühr von ((901,90 EUR / 1,16 – 20 EUR) / 2,5 =) 303 EUR. Dies ist jedoch die Verfahrensgebühr für einen Gegenstandwert bis zu 5.000 EUR.
3. Für die in voller Höhe ansetzbare Umsatzsteuer (Nr. 7008 RVG-VV) ist im vorliegenden Fall ein Umsatzsteuersatz von 16% zugrunde zu legen. Die durch das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz für die Zeit vom 1. Juli 2020 bis zum 31. Dezember 2020 eingeführte befristete Absenkung des allgemeinen Steuersatzes auf 16% (§ 28 Abs. 1 UStG) ist im vorliegenden Fall maßgeblich.
a) Maßgeblicher Zeitpunkt für die Frage, welcher Steuersatz zugrunde zu legen ist, ist derjenige, in dem der jeweilige Umsatz „ausgeführt“ wird. Dies ergibt sich aus der allgemeinen Übergangsvorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 1 UStG, wonach Änderungen des UStG, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 und 5 UStG anzuwenden sind, die ab dem Inkrafttreten der maßgeblichen Änderungsvorschrift „ausgeführt“ werden. Weder dem Wortlaut des § 28 UStG noch der Gesetzesbegründung zum Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz (vgl. BR-Drs. 329/20 S. 25 f.) kann insoweit entnommen werden, dass auf einen anderen Zeitpunkt als denjenigen der Leistungsausführung abzustellen sein soll (im Ergebnis ebenso Weymüller, in BeckOK UStG, 28. Edition, Stand 16.02.2021, § 28 Rn. 8; Klenk, in Sölch/Ringleb, UStG, Werkstand 90.EL Oktober 2020, § 28 Rn. 6).
b) Nach ganz herrschender Meinung ist bei einem Rechtsanwalt der Zeitpunkt der Leistungsausführung identisch mit demjenigen der Fälligkeit im Sinne des § 8 RVG (Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, 25. Aufl. 2021, RVG-VV 7008 Rn. 35 m. w. N.; HK-RVG/Kroiß, 8. Aufl. 2021, RVG VV-7008 Rn. 7; BeckOK RVG/K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt, 53. Ed. 1.9.2021, RVG VV-7008 Rn. 9; Riedel/Sußbauer RVG/Ahlmann, 10. Aufl. 2015, RVG-VV 7008 Rn. 8). Gründe, dieser Ansicht nicht zu folgen, sind nicht dargelegt und für das Gericht auch nicht ersichtlich.
c) Im vorliegenden Fall ist die maßgebliche Fälligkeit nach § 8 Abs. 1 RVG noch zu einem Zeitpunkt eingetreten, zu dem noch der abgesenkte Steuersatz von 16% gegolten hat.
§ 8 Abs. 1 Satz 2 RVG bestimmt, dass in den Fällen, in denen – wie hier – ein Rechtsanwalt in einem gerichtlichen Verfahren tätig wird, die Vergütung u. a. auch dann fällig wird, wenn eine Kostenentscheidung ergangen ist oder der Rechtszug beendet ist. Im vorliegenden Fall war der Rechtszug zwar wohl jedenfalls nicht vor Zustellung des schriftlichen, mit Gründen versehenen Urteils beendet. Jedoch ist die Fälligkeit bereits früher eingetreten, weil die im Urteil enthaltene Kostenentscheidung bereits im Oktober 2020 im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 RVG „ergangen“ ist.
Die ganz herrschende Meinung, der das Gericht beipflichtet, geht davon aus, dass im Falle ihrer Verkündung eine Kostenentscheidung in diesem Zeitpunkt im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 RVG „ergangen“ ist (Gerold/Schmidt/Mayer25. Aufl. 2021, RVG, § 8 Rn. 14; HK-RVG/Gierl, 8. Aufl. 2021, § 8 Rn. 36; BeckOK RVG/v. Seltmann, 53. Ed. 1.9.2021, RVG § 8 Rn. 16; Riedel/Sußbauer RVG/Ahlmann, 10. Aufl. 2015, RVG § 8 Rn. 12). Wenn – wie im vorliegenden Fall – das Gericht nicht den Weg der Verkündung (§ 116 Abs. 1 VwGO), sondern denjenigen der Zustellung (§ 116 Abs. 2 VwGO) wählt, ist es sachgerecht, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Entscheidung eine Wirkung erlangt, die derjenigen entspricht, die im Falle einer Verkündung bestünde. Dies ist nicht der Zeitpunkt der Zustellung des schriftlichen, mit Gründen versehenen Urteils. Denn auch im Falle einer Verkündung wird das Urteil typischerweise zum Verkündungszeitpunkt noch nicht vollständig schriftlich abgefasst sein. Eine der Verkündung vergleichbare Wirkung erlangt im Falle des Vorgehens nach § 116 Abs. 2 VwGO das Urteil vielmehr in dem Zeitpunkt, zu dem es wirksam und für das Gericht unabänderlich wird. Eine solche Wirkung tritt nach Übergabe des Urteilstenors an die Geschäftsstelle nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts jedenfalls spätestens dann ein, wenn in der Folge der Urteilstenor an mindestens einen Beteiligten formlos bekanntgegeben wird (BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 2015 – 7 B 18/14 -, juris Rn. 8). Im vorliegenden Fall ist ausweislich einer von der Geschäftsstelle angefertigten Notiz der Urteilstenor dem Bevollmächtigten der Klägerinnen am 19. Oktober 2020 formlos bekannt gegeben worden. Spätestens an diesem Tag ist somit die Kostenentscheidung des Urteils im Sinne des § 8 Abs. 1 Satz 2 RVG „ergangen“, so dass die Rechtsanwaltsvergütung noch im Jahr 2020 fällig wurde und somit der herabgesetzte Steuersatz von 16% maßgeblich ist.
d) Einschließlich der Umsatzsteuer ergibt sich somit ein Betrag von
[905] EUR x 1,16 = 1.049,80 EUR.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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