Europarecht

Opferentschädigung: Keine Entschädigung bei Nachricht von Amoklauf und bloßer Befürchtung des Verletzung Angehöriger

Aktenzeichen  L 15 VG 2/19

Datum:
6.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 21525
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
BVG § 30
OEG § 1
SGB XIV-E § 14 Abs. 2

 

Leitsatz

Zur Unmittelbarkeit der Schädigung durch einen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG im Falle eines “Amoklaufs”.
1. Wer selbst nicht am Ort eines Amoklaufes anwesend ist, vom Amoklauf aber teilweise  Nachricht erhält und wegen der Nähe zum Tatort um sein eigenes Leben und um das Leben seiner Familienangehörigen Angst hat, erleidet allein deshalb noch keinen tätlicher Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt eine unmittelbare gesundheitliche Schädigung des Opfers, die auch psychischer Natur sein kann, voraus. Unmittelbarkeit der Schädigung setzt grundsätzlich einen engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder voraus. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Übermittlung von Nachrichten über Gewalttaten durch die Medien an Personen ohne enge personale Beziehung zum Betroffenen fehlt es an der Unmittelbarkeit. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 30 VG 43/17 2018-10-25 Endurteil SGMUENCHEN SG München

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 25. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Wie das SG zu Recht entschieden hat, steht dem Kläger kein Anspruch auf die Feststellung von Schädigungsfolgen und auf die Gewährung von Heilbehandlung und Beschädigtenrente zu. Der Bescheid vom 12.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Vorliegend ist ein (vorsätzlicher rechtswidriger) tätlicher Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht gegeben.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Zwar sind nicht nur physische Beeinträchtigungen, sondern auch psychische Gesundheitsschäden geeignet, einen Opferentschädigungsanspruch auszulösen. Sowohl physische als auch psychische Gesundheitsschäden müssen jedoch auf einen „tätlichen Angriff“ zurückzuführen sein. Insoweit ist entscheidend, ob der Primärschaden und eventuelle Folgeschäden gerade die zurechenbare Folge einer körperlichen Gewaltanwendung gegen eine Person sind.
Nach der Rechtsprechung des BSG reicht die bloße Verwirklichung eines Straftatbestandes und ein Angriff gegen Dritte ohne weitere Besonderheiten für die Annahme eines „tätlichen Angriffs“ im Sinn der genannten Vorschrift nicht aus (vgl. z.B. das Urteil vom 07.04.2011 – B 9 VG 2/10 R), auch wenn das Opfer angsterfüllt oder verzweifelt ist etc. und z.B. seelische Gesundheitsschäden davonträgt (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 V 1/13 R).
Es ist höchstrichterlich längst geklärt, dass sogar in den Fällen der direkten Bedrohung des Opfers oder der Drohung mit Gewalt, wenn sich die auf das Opfer gerichteten Einwirkungen – ohne Einsatz körperlicher Mittel – allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellen und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielen, die Grenze der Wortlautinterpretation von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erreicht ist (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2014, a.a.O., m.w.N.).
Dass der Kläger wegen der zu ihm zumindest teilweise durchgedrungenen Nachricht vom „Amoklauf im O.“ um sein eigenes Leben und um das Leben seiner Familienangehörigen Angst gehabt hat, ist gerade unter Berücksichtigung seines damaligen Alters nachvollziehbar. Ein tätlicher Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG liegt darin jedoch nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. a.a.O., m.w.N.) setzt der Entschädigungsanspruch nach dem OEG entsprechend dem Regelungssystem der Kriegsopferversorgung eine unmittelbare gesundheitliche Schädigung des Opfers, die auch psychischer Natur sein kann, voraus. Die Unmittelbarkeit der Schädigung betrifft eine Vorfrage der Kausalität und begrenzt den berechtigten Personenkreis. Sie wird grundsätzlich als enger zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandselemente ohne örtliche und zeitliche Zwischenglieder verstanden. Ob das Opfer einer Gewalttat durch den Angriff unmittelbar geschädigt worden ist, beurteilt sich je nach den Umständen des Einzelfalls wertend anhand des Schutzzwecks des Gesetzes. Im Ergebnis werden die psychischen Auswirkungen einer schweren Gewalttat als mit dieser so unmittelbar verbunden betrachtet, dass beide eine natürliche Einheit bilden (s. auch BSG, Urteile vom 10.12.2002 – 9 VG 7/01 R – und vom 08.08.2001 – 9 VG 1/00 R). Diese grundsätzliche Einschränkung auf unmittelbar Geschädigte leitet das BSG auch im Bereich des OEG aus der Gesetzeshistorie des § 1 Abs. 1 BVG ab (a.a.O.).
Sie entfällt auch nicht etwa deswegen, weil nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auch eine Person anspruchsberechtigt sein kann, die durch einen auf eine „andere Person“ verübten Angriff geschädigt wird, worauf die Klägerseite im erstinstanzlichen Verfahren hingewiesen hat. Diese Formulierung zielt ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 7/2506, S. 14) vielmehr auf die Fälle der sog. aberratio ictus ab, also Fälle, bei denen der vom Täter beabsichtigte Erfolg – etwa durch einen Fehlschuss – bei einem anderen als dem von ihm anvisierten Objekt eintritt. Auch das Opfer einer „aberratio ictus“ erleidet eine Schädigung unmittelbar durch den Angriff auf einen anderen (vgl. BSG, Urteil vom 08.08.2001, a.a.O.).
Eine derartige unmittelbare Schädigung des Klägers in psychischer Hinsicht durch die im O. verübten Gewalttaten vom 22.07.2016 liegt hier nicht vor. Insbesondere hat er keinen psychischen Schaden in Form eines sog. Schockschadens erlitten. Bei Auftreten von Schockschäden hat das BSG (vgl. bereits das Urteil vom 07.11.1979 – 9 RVg 1/78) den gebotenen engen Zusammenhang zum einen bejaht, wenn das Sekundäropfer am Tatort unmittelbar Zeuge der Tat gewesen ist, als der seelische Schock eintrat. Dies ist beim Kläger jedoch nicht der Fall gewesen. Er war während der Tatzeit nicht im O. und damit nicht unmittelbar Zeuge der Tat. Entschädigungspflichtig ist zum anderen auch, wenn eine Person die Nachricht von der Ermordung eines nahen Angehörigen erhält und dadurch einen Schock erleidet. Eine Nachricht ist ein zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindender kommunikativer Vorgang, ein Schock stellt eine starke seelische Erschütterung durch ein plötzlich hereinbrechendes bedrohliches Ereignis dar (BSG, Beschluss vom 17.12.1997 – 9 BVg 5/97). In einem solchen Falle bildet die Nachrichtenübermittlung eine natürliche Einheit mit dem Tatgeschehen, weswegen auch der Empfänger der Nachricht von dem besonders schrecklichen Geschehen nicht etwa nur mittelbar, sondern – wenn auch zeitlich versetzt – unmittelbar geschädigt wird. Denn erst der Erhalt der Nachricht von der Gewalttat gegen das Primäropfer bildet ihm gegenüber das Ende der Gewalttat (BSG, Urteil vom 08.08.2001, a.a.O.).
Ungeachtet der Frage, ob beim Kläger überhaupt ein Schock vorgelegen hat, steht jedenfalls fest, dass eine schwere Straftat (wie die Tötung) gegen nahe Angehörige – glücklicherweise – nicht verübt worden ist. Vorliegend ist keine Mitteilung von der Verübung einer schweren Straftat gegen die Familienangehörigen des Klägers erfolgt, sondern lediglich von einer solchen gegen weitere (fremde) Personen, woraufhin sich der Kläger Sorgen gemacht und lediglich vermutet hat, dass auch er oder seine Familienangehörigen (ggf. später noch) Opfer werden könnten. An der Unmittelbarkeit fehlt es aber bei der Übermittlung von Nachrichten über Gewalttaten durch die Medien an Personen ohne enge personale Beziehung zum Betroffenen (ausdrücklich Rademacker, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 1 OEG, Rdnr. 18). Bloße Befürchtungen genügen nicht.
Entgegen dem Vortrag der Klägerseite ist nicht ausreichend, wenn die Angehörigen von einem „Amoklauf“ nur derart betroffen sind, dass sie sich in der Nähe des Tatorts – also dort, wo Schüsse fallen etc. – aufhalten und gegebenenfalls sogar psychische Beeinträchtigungen erleiden, ohne selbst Opfer physischer Gewalt zu werden, und wenn der Betroffene (Sekundäropfer) hiervon (ggf. über die Medien – vgl. das Urteil des BSG vom 10.12.2002, a.a.O.) Kenntnis erhält. Auch wenn der Senat in keiner Weise in Abrede stellt, dass dies für in Tatortnähe befindliche Betroffene ein gegebenenfalls einschneidendes, belastendes Erlebnis darstellt (u.a. Furcht, Opfer physischer Einwirkungen zu werden, Gefühl der unmittelbaren Gefährdung und ggf. des Ausgeliefertseins in einem Versteck o.ä.) und u.U. selbst Entschädigungsansprüche auslösen kann, sind insoweit die Grundvoraussetzungen für die Annahme eines Schockschadens des Klägers nicht erfüllt. Denn ein tätlicher Angriff gegenüber den betroffenen Familienangehörigen im vom BSG angenommenen Sinne eines schweren Delikts wie einer Tötung oder schwerer Körperverletzung liegt hier nicht vor.
Entscheidend ist, dass vorliegend eine andere Konstellation als in den von der Rechtsprechung anerkannten Fällen eines Schockschadens (s.o.) gegeben ist: Denn es wird vom Kläger nicht geltend gemacht und ist auch nicht wahrscheinlich, dass dieser durch die Mitteilung der Tatsache, dass seine Familie wegen des Amoklaufs sich in einem Versteck o.ä. befindend Furcht vor einer schweren Verletzung oder Tötung gehabt und sich ausgeliefert etc. gefühlt hätte, selbst (psychisch) beeinträchtigt worden bzw. schockiert gewesen wäre. Vorliegend ist vielmehr vorgetragen, dass der Kläger ebenfalls Angst um sein eigenes Leben und um das Leben seiner Familie gehabt hat. Wie der Kläger in der Klagebegründung beim SG selbst dargelegt hat, hat er gerade nicht durch die Kenntniserlangung davon, was die Eltern und die Schwester gleichzeitig im O. erlebt haben, einen (Schock-)Schaden erlitten, sondern es sei dieser durch die Ungewissheit, ob seine Familie gegebenenfalls auch Opfer werden könnte bzw. ob er seine Familie jemals wiedersehen würde, eingetreten. Bloße Befürchtungen sowie Ungewissheit und allgemeine Unsicherheit genügen jedoch – unabhängig von der Frage, inwieweit diese begründet sind – nach der oben dargestellten Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) nicht, um die Unmittelbarkeit einer Schädigung des Betroffenen (in psychischer Hinsicht) durch die anderswo verübten Gewalttaten begründen zu können.
Leistungen der Beschädigtenversorgung nach dem OEG für den Kläger scheiden damit aus. Wie das BSG bereits ausdrücklich dargelegt hat, ist es dem Gesetzgeber vorbehalten, „den Begriff des tätlichen Angriffs über den mit Bedacht gewählten und bis heute beibehaltenen engen Wortsinn des OEG auf Straftaten zu erstrecken“, bei denen es wie vorliegend an einem solchen tätlichen Angriff fehlt (Urteil vom 16.12.2014, a.a.O.), und vergleichbare Fallkonstellationen in den Entschädigungsanspruch des OEG miteinzubeziehen. Ob dies im künftigen Recht der Opferentschädigung (Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch – SGB XIV) u.U. noch erfolgen wird, bleibt abzuwarten (vgl. hierzu den derzeitigen Gesetzesentwurf zum SGB XIV, BR-Drs. 351/19, im Einzelnen: § 14 Abs. 2 SGB XIV-E). Der Senat hat sich dagegen an die derzeit geltende Rechtslage zu halten.
Die Berufung ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt angesichts der gefestigten Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).


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