Europarecht

Rechtswidrigkeit der Abschiebung eines pakistanischen Staatsangehörigen bei fehlerhafter Anwendung von Zuständigkeitskriterien

Aktenzeichen  M 26 S 16.51164

Datum:
22.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Abs. 2, Art. 7 ff., Art. 19 Abs. 2, Art. 25 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1 Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsanordnung nach Großbritannien wegen fehlender Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags gem. Art. 3 Abs. 1 u. 2, Art. 7 ff. Dublin III-VO, wenn der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat und eine Verpflichtung Großbritanniens nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO zur Wiederaufnahme gem. Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO erloschen ist. (redaktioneller Leitsatz)
2 Im Rahmen eines Rechtsbehelfs kann der Asylbewerber bei fehlerhafter Stattgabe eines Wiederaufnahmegesuchs die fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitskriterien, insbesondere die Nichtbeachtung des Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO, geltend machen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 1. Dezember 2016 (Az. M 26 K 16.51163) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. November 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm drohende Überstellung in das Vereinigte Königreich Großbritannien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller ist laut eigener Auskunft pakistanischer Staatsangehöriger. Bei seiner Erstbefragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) der Antragsgegnerin am … August 2016 gab er an, am … August 2015 über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn in das Bundesgebiet eingereist zu sein und stellte einen Asylerstantrag. Eine durch das Bundesamt am selben Tag durchgeführte Eurodac-Abfrage ergab einen Eurodac-Treffer der 2. Kategorie für Griechenland (Aufgriffsdatum … Juli 2015; Eurodac-Nr. …) sowie zwei Treffer der 1. Kategorie für Großbritannien (Antragsdatum … Mai 2013, Eurodac-Nr. …) und Ungarn (Antragsdatum … August 2015, Eurodac-Nr. …). Das vom Bundesamt am … August 2016 an Großbritannien gerichtete Ersuchen um Übernahme des Asylverfahrens des Antragstellers wurde von der dort zuständigen Behörde („Home Office, UK Visas and Immigration“) zunächst mit Schreiben vom … September 2016 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Asylbewerber am … Juli 2013 aus Großbritannien nach Pakistan abgeschoben wurde; die Abschiebung per Flug nach Islamabad belegende Dokumente der „UK Border Agency (Home Office)“ waren dem Schreiben beigefügt. Mit Schreiben vom … September 2016 remonstrierte das Bundesamt ggü. Großbritannien, dass die zweiwöchige Antwortfrist des Art. Art. 25 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Dublin III-VO – am … September 2016 abgelaufen und daher von einer Stattgabe Großbritanniens zum Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO auszugehen sei. Mit Schreiben vom … Oktober 2016 akzeptierte Großbritannien die Remonstration und gab dem Wiederaufnahmegesuch statt.
Im Rahmen seiner Zweitbefragung am … November 2016 gab der Antragsteller an, dass er sich ab 2011 in England (Großbritannien) aufgehalten und dort Asyl beantragt habe. 2013 sei sein Antrag abgelehnt und er sei zurück nach Pakistan abgeschoben worden. Da sein Asylantrag in Großbritannien bereits abgelehnt worden sei, wolle er in Deutschland leben.
Mit dem Antragsteller am … November 2016 zugestellten Bescheid vom 24. November 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen würden (Nr. 2), ordnete die Abschiebung des Antragstellers in das Vereinigte Königreich an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf a. Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO Großbritannien infolge der Stattgabe des Wiederaufnahmegesuchs für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei. Folglich sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz – AsylG – der gestellte Asylantrag unzulässig und werde nicht materiell geprüft. Abschiebungsverbote würden nicht greifen. Weder liege ein Verbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte – EMRK – vor, noch sei gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG eine individuelle, erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit durch die Abschiebung gegeben. Aus dem Vortrag des Antragstellers im Rahmen seiner Zweitbefragung würden sich keine Abschiebungsverbote ergeben. Außergewöhnliche humanitäre Gründe für die Antragsgegnerin, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung basiere auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf § 75 Nr. 12, § 11 Abs. 2 AufenthG, wobei letztere mangels schutzwürdiger Belange gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG nicht kürzer auszugestalten gewesen sei.
Am … Dezember 2016 erhoben die Bevollmächtigten des Antragstellers Anfechtungsklage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. November 2016, über die noch nicht entschieden wurde. Gleichzeitig beantragten sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.
Seitens des Antragstellers werde die Auffassung vertreten, dass im Vereinigten Königreich systemische Mängel im Asylverfahren vorliegen würden.
Mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2016 übermittelte das Bundesamt für die Antragsgegnerin die Behördenakte, stellte aber keinen Sachantrag.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Hauptsacheverfahren (M 26 K 16.51163) sowie auf die vorgelegte Behördenakte ergänzend Bezug genommen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – zulässige Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG vorliegend vom Einzelrichter entschieden wird, ist begründet.
1. Im Rahmen eines Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, indem es eine eigene Ermessensentscheidung trifft. Es hat dabei abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Die am … Dezember 2016 erhobene (Hauptsache-)Klage des Antragstellers wird bei summarischer Prüfung aller Voraussicht nach erfolgreich sein. Denn der Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. November 2016 ist rechtwidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Damit überwiegt das persönliche Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung.
Die in Nr. 3 des Bescheids angeordnete Abschiebung nach Großbritannien und dem folgend auch die sonstigen Festsetzungen des Bescheids sind rechtswidrig, weil Großbritannien nicht (mehr) gemäß Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 7 ff. Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist. Denn wie sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem Schreiben des britischen Home Office, UK Visas and Immigration vom … September 2016 und den insoweit glaubhaften Angaben des Antragstellers gegenüber dem Bundesamt im Rahmen des Zweitbefragung ergibt, hat der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen. Eine etwaige Verpflichtung Großbritanniens nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO zur Wiederaufnahme ist damit gemäß Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO erloschen.
Dies gilt, obwohl Großbritannien dem Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin mit Schreiben vom … Oktober 2016 stattgegeben hat. Denn nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 7. Juni 2016 (EuGH, U. v. 7.6.2016 – C-63/15 – „Ghezelbash“ – und U. v. 7.6.2016 – C-155/15 – „Karim“ – beide in juris) kann ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gemäß Art. 27 Dublin III-VO auch die fehlerhafte Anwendung von Zuständigkeitskriterien, insbesondere die – der Entscheidung „Karim“ zugrundeliegende – Nichtbeachtung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO, geltend machen (a. A. im Rahmen einer Entscheidung zu Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO und einen Individualschutz des Kapitel VI der Dublin III-VO ablehnend VG Hannover, B. v. 12.9.2016 – 1 B 4090/16 – juris. Vgl. grundlegend und weiterführend auch die Anmerkung zu den zitierten Entscheidungen des EuGH von RiVGH Dr. Hoppe, NVwZ 2016, 1157 ff.). Demzufolge kommt die Überstellung des Antragstellers, der sich durch seine Einlassungen im Rahmen der Zweitbefragung auf Art. 19 Abs. 2 Dublin-III-VO beruft, nach Großbritannien nicht in Betracht.
2. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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