Europarecht

Rechtswidrigkeit einer asylrechtlichen Unzulässigkeitsentscheidung für in Deutschland nachgeborenes Kind von in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Eltern

Aktenzeichen  AN 17 K 20.50000

Datum:
30.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18323
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a

 

Leitsatz

1. Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO greift direkt nicht für die Fälle ein, in denen die Eltern eines Antragstellers in einem anderen Mitgliedstaat bereits anerkannt sind. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3.  Eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf derartige Konstellationen sieht das Bundesverwaltungsgericht mangels planwidriger Regelungslücke und vergleichbarer Interessenslage kritisch. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
4.  Eine direkte Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ausgeschlossen, wenn die Klägerin nicht in einem anderen Mitgliedstaat Schutz erhalten hat. Eine analoge Anwendung der Vorschrift, weil ihre Eltern einen Schutzstatus in Griechenland haben, ist nicht möglich, da die Tatbestände einer Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig durch Art. 33 Abs. 2 der RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) abschließend geregelt sind und Art. 33 Abs. 2 Asylverfahrens-RL im Falle eines Asylantrags eines nachgeborenen Kindes von anerkannt schutzberechtigten Eltern in einem anderen Mitgliedstaat keine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig vorsieht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Dezember 2019 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich sowohl Klägerin als auch Beklagte mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Die Klage ist zulässig.
Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Zuge der Änderung des Asylverfahrensgesetzes infolge des Inkrafttretens des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I Nr. 39 v. 5.8.2016). Danach ist die Anfechtungsklage gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen, die allein statthafte Klageart. Hintergrund hierfür ist der Umstand, dass die Asylanträge in diesen Fällen ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, abgelehnt werden. Insoweit kommt auch kein eingeschränkter, auf die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkter Verpflichtungsantrag (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris, U.v. 1.6.2017 – 1 C 9.17 – NVwZ 2017, 1625; BayVGH, U.v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris) oder gar auf ein „Durchentscheiden“ des Gerichts in Betracht. Bei einer erfolgreichen Klage führt die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelung zur weiteren Prüfung der Anträge durch die Beklagte und damit zum erstrebten Rechtsschutzziel. Dabei bleibt es auch nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137; zuvor schon angelegt in EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris), der lediglich inhaltliche Vorgaben im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz für international Anerkannte im Sinne des Art. 47 GRCh und Art. 46 Verfahrens-RL macht, aber keine prozessualen oder verfahrensrechtlichen Vorgaben, die dem nationalen Recht überlassen sind.
2. Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid vom 16. Dezember 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Er ist daher aufzuheben.
a) Die Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags der Klägerin findet keine Rechtsgrundlage in der von der Beklagten herangezogenen Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG. Nach dieser Norm ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Aus der Dublin III-VO folgt jedoch nicht die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin als ein sog. nachgeborenes Kind, d.h. einem Kind, dass nach Abschluss des Asylverfahrens seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde. Entgegen der Ansicht des Bundesamts im Bescheid vom 16. Dezember 2019 wird eine Zuständigkeit Griechenlands nicht aufgrund der Regelung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO begründet.
Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO findet auf Fälle der vorliegenden Art jedenfalls unmittelbar keine Anwendung. Nach Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO gilt für mit ihren Eltern einreisende minderjährige Kinder eines Asylantragstellers, die selbst keinen Asylantrag stellen, dass ihre Situation untrennbar mit der ihrer Eltern verbunden ist. Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO bestimmt, dass mit nach der Ankunft der Eltern im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates geborenen Kindern ebenso zu verfahren ist wie in den Fällen nach Satz 1 und für sie kein eigenes Zuständigkeitsverfahren durchzuführen ist. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO greift direkt aber nicht für die Fälle ein, in denen die Eltern eines Antragstellers, wie hier, in einem anderen Mitgliedstaat bereits anerkannt sind. Sie sind dann keine Asylantragsteller mehr im Sinne der Dublin III-VO (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 15).
Eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf derartige Konstellationen sieht das Bundesverwaltungsgericht mangels planwidriger Regelungslücke und vergleichbarer Interessenslage kritisch (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 17 f., ebenso OVG SH, U.v. 7.11.2019 – 1 LB 5/19 – juris Rn. 35 ff., a.A. bisher VGH BW, B.v. 14.3.2018 – A 4 S 544/18 – juris Rn. 9, NdsOVG, B.v. 26.2.2019 – 10 LA 218/18 – juris Rn.5, BayVGH, B.v. 22.11.2018 – 21 ZB 18.32867 – juris Rn. 17 ff., OVG Saarl, B.v. 29.11.2019 – 10 LA 218/18 – juris Rn. 5, SächsOVG, B.v. 5.8.2019 – 5A/595/19.A – juris Rn. 5).
Mit dem Bundesverwaltungsgericht kann es hier letztlich offenbleiben, ob eine analoge Anwendung greift – oder ein Tatbestand der Art. 7 ff Dublin III-VO einschlägig ist -, jedenfalls ist die Zuständigkeit auf die Beklagte wegen des Ablaufs der Frist für die Unterbreitung eines Aufnahmegesuchs an Griechenland übergegangen, Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 16, 19 f.). Nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin-III-VO kann ein Mitgliedstaat, der einen anderen Mitgliedstaat nach einem Tatbestand der Dublin III-VO für zuständig hält, diesen innerhalb von drei Monaten nach der Antragstellung ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen. Erfolgt keine fristgerechte Antragstellung kommt es zum Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Staat, Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO.
Der Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens bedarf es auch. Andernfalls bestünde die Aufnahmepflicht eines Mitgliedstaates ohne zeitliche Grenze und ohne Kenntnis des Aufnahmestaates, was die Dublin III-VO nicht vorsieht. Da das Fristenregime der Dublin III-VO auch Schutzfunktion für den Asylantragsteller hat (vgl. hierzu EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-670/16 – juris Rn. 41 ff.), wäre dies auch ihm gegenüber problematisch. Der Verzicht auf das Aufnahmeverfahren kann eine „refugee in orbit“-Situation für ihn begründen, wenn sich kein Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags für zuständig erachtet. Der Verzicht auf ein Übernahmeverfahren liefe damit den zentralen Anliegen des Dublin-Regimes der Gewährleistung des effektiven Verfahrenszugangs und einer zügigen Bearbeitung zuwider (vgl. BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 16, 19 f., VG Würzburg, U.v. 21.8.2020 – W 10 K 19.32291 – juris Rn. 224, VG Ansbach, U.v. 22.9.2020 – AN 17 K 50208; U.v. 19.10.2020 – AN 14 K 19.50692).
Auf die Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens für die Klägerin konnte damit nicht verzichtet werden. Ein Übernahmeersuchen an Griechenland wurde von der Beklagten nicht gestellt. Ausgehend von der Asylantragstellung am 28. Oktober 2019 ist die Dreimonats-Frist für ein Übernahmeersuchen nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO abgelaufen und damit die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin begründet worden, Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO.
b) Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig kann auch nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Eine direkte Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ausgeschlossen, da die Klägerin nicht in einem anderen Mitgliedstaat Schutz erhalten hat. Eine analoge Anwendung der Vorschrift, weil ihre Eltern einen Schutzstatus in Griechenland haben, ist nicht möglich, da die Tatbestände einer Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig durch Art. 33 Abs. 2 der RL 2013/32/EU (Verfahrens-RL) abschließend geregelt sind und Art. 33 Abs. 2 Verfahrens-RL im Falle eines Asylantrags eines nachgeborenen Kindes von anerkannt schutzberechtigten Eltern in einem anderen Mitgliedstaat keine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig vorsieht (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris Rn. 76, BVerwG, U.v. 23.6.2020 – 1 C 37/19 – juris Rn. 22).
c) Da die Beklagte zur Durchführung des nationalen Asylverfahrens verpflichtet ist, sind die Folgeentscheidungen zu Ziffer 2 bis 4 des Bescheids vom 16. Dezember 2019 über das Bestehen von Abschiebungsverboten, über die Abschiebungsandrohung und über ein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot, deren Grundlage die Unzulässigkeitsentscheidung ist, verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51/18 – juris Rn. 20; OVG SH, U.v. 7.11.2019 – 1 LB 5/19 – juris Rn. 80). Von der Aufhebung umfasst ist auch die Feststellung in Ziffer 3 letzter Satz des streitgegenständlichen Bescheids, dass die Klägerin nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf. Diese steht ersichtlich in unmittelbarem und untrennbarem Zusammenhang mit der Abschiebungsandrohung und kann ohne diese nicht mit sinnvollem Regelungsgehalt isoliert stehen bleiben. Die Benennung des behaupteten Verfolgerstaats als denjenigen, in den nicht abgeschoben werden darf, erfolgt allein deshalb, weil bei einem unzulässigen Asylantrag nicht inhaltlich geprüft wird und es deshalb auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass im Herkunftsstaat des Ausländers eine Verfolgungsgefahr besteht (Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition Stand 1.4.2021, § 35 AsylG Rn. 11).
3. Die Kostenentscheidung der erfolgreichen Klage beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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