Europarecht

Rückwirkende Aufhebung der vorläufigen Dienstenthebung wegen unterlassener Anhörung der Schwerbehindertenvertretung

Aktenzeichen  16a DS 19.388

Datum:
21.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 19783
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB IX § 178 Abs. 2 S. 2
BayDG Art. 39, Art. 40 Abs. 1, Art. 53 Abs. 3, Art. 61 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Vor Erlass der Entscheidung über die Disziplinarmaßnahme (hier: vorläufige Dienstenthebung) ist die erforderliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung durchzuführen; maßgeblich dafür ist das Zustellungsdatum der vorläufigen Dienstenthebung und nicht ihre Aufgabe zur Post, da bis dahin die getroffenen Verfügungen noch hätten aktualisiert oder geändert werden können. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Notwendigkeit zur Anwendung des Mängelbeseitigungsverfahrens auch bei vorläufiger Dienstenthebung entsprechend der Anwendung im gerichtlichen Verfahren besteht nicht, da im Disziplinarklageverfahren aufgrund der Regelung des Art. 59 BayDG Klageverbrauch eintreten könnte, wohingegen bei nur vorläufiger Dienstenthebung nach korrekter Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung der Dienstherr erneut über diese entscheiden kann. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 19L DA 18.5643 2019-02-07 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 7. Februar 2019 wird aufgehoben. Die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung des Antragstellers und die Einbehaltung von 30 Prozent der monatlichen Dienstbezüge in der Verfügung des Antragsgegners vom 22. Oktober 2018 werden rückwirkend ab dem 19. November 2018 ausgesetzt.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Gründe

Die zulässige, insbesondere fristgemäß eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 7. Februar 2019 ist begründet. Gemäß Art. 61 Abs. 2 BayDG ist die vorläufige Dienstenthebung und die Einbehaltung von Bezügen ganz oder zum Teil auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen. Das ist vorliegend der Fall, weil es an einer den Vorgaben der §§ 176 ff. SGB IX entsprechenden Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung mangelt.
Der Antragsgegner hat vor Erlass der Entscheidung über die Disziplinarmaßnahmen eine erforderliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nicht durchgeführt, obwohl für den Antragsteller mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Schwaben, Versorgungsamt, vom 25. September 2018 ab dem 14. August 2018 ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt worden war. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller habe den Dienstherrn erst nach Erlass der Disziplinarverfügung in der gebotenen Form über die Behinderung informiert, so dass er sich auf die Rechte aus der Schwerbehinderung nicht mehr berufen könne und keinen Anspruch auf Aussetzung der Disziplinarverfügung und Nachholung der Anhörung habe, trifft nicht zu. Zwar ist der Anwaltsschriftsatz vom 18. Oktober 2018, mit dem der Antragsteller den Bescheid des Versorgungsamts ausweislich des darauf angebrachten Eingangsstempels des Polizeipräsidiums München am 23. Oktober 2018 dort zugegangen (Bl. 265 Disziplinarakte). Zu diesem Zeitpunkt war indes die Disziplinarverfügung vom 22. Oktober 2018 noch nicht „erlassen“. Insoweit kommt es auf deren Zustellung am 29. Oktober 2018 an, nicht auf den anhand der behördlichen Disziplinarakte nicht feststellbaren Zeitpunkt der Unterschrift des Polizeipräsidenten und auch nicht darauf, dass die angefochtene Disziplinarverfügung erst am 24. Oktober 2018 zur Post gegeben (Bl. 235 Disziplinarakte) und per Telefax an das Landesamt für Finanzen übermittelt worden ist, so dass die getroffenen Verfügungen noch hätten aktualisiert werden können und müssen. Die Zustellverfügung zur Disziplinarverfügung vom 22. Oktober 2018 verweist zutreffend auf Art. 40 Abs. 1 BayDG (a.a.O. Bl. 258). Danach wird die vorläufige Dienstenthebung mit der Zustellung, die Einbehaltung von Bezügen mit dem auf die Zustellung folgenden Fälligkeitstag wirksam und vollziehbar. Die Durchführung oder Vollziehung einer ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung getroffenen Entscheidung ist auszusetzen und die Beteiligung innerhalb von sieben Tagen nachzuholen; sodann ist endgültig zu entscheiden, § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Die bloße nachträgliche Information der Schwerbehindertenvertretung beim Polizeipräsidium Schwaben Süd/West durch Schreiben des Polizeipräsidiums München vom 26. November 2018 unter Übersendung der behördlichen Disziplinarakten (Bl. 296 der Disziplinarakte) und deren anschließende Rückleitung durch die Schwerbehindertenvertretung (a.a.O. Bl. 319) genügt nicht.
Die Verpflichtung des Arbeitgebers bzw. des Dienstherrn, die Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören, gilt auch im Disziplinarverfahren. Da die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen schwerbehinderten Beamten noch keine Entscheidung in diesem Sinne ist, ist die Schwerbehindertenvertretung hierüber lediglich zu unterrichten; eine Anhörung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen muss erst vor Entscheidungen, insbesondere vor dem Erlass einer Disziplinarverfügung bzw. vor der Erhebung einer Disziplinarklage sowie vor einer vorläufigen Dienstenthebung und Einbehaltung von Bezügen erfolgen. Bei den Ermessensentscheidungen über die vorläufige Dienstenthebung und die Einbehaltung von Dienstbezügen sowie die Höhe des Einbehaltungssatzes hat der Antragsgegner die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und dabei auf die persönlichen Umstände und die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen abzustellen, zu denen auch die Schwerbehinderung gehört (vgl. BayVGH, B.v. 15.11.2011 – 16a DA 11.1261 – juris Rn. 22; SächsOVG, B.v. 12.8.2014 – D 6 B 78/14 – juris Rn. 6; OVG SH, B.v. 26.9.2018 – 14 MB 1/18 – juris Rn. 8).
Die fehlende oder fehlerhafte Anhörung der Schwerbehindertenvertretung ist zwar nach § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX grundsätzlich heilbar (vgl. SächsOVG, B.v. 12.8.2014 – D 6 B 78/14 – juris Rn. 6 mit Verweis auf BVerwG, B.v. 27.4.1983 – 2 WDB 2/83 – BVerwGE 76, 82/87), dies führt aber nicht zur Anwendung des Mängelbeseitigungsverfahrens nach Art. 53 Abs. 3 BayDG. Das Mängelbeseitigungsverfahren gilt nur für das Disziplinarklageverfahren. Eine Notwendigkeit zur entsprechenden Anwendung im gerichtlichen Verfahren über die Aussetzung einer vorläufigen Dienstenthebung besteht nicht. Denn während im Disziplinarklageverfahren aufgrund der Regelung des Art. 59 BayDG anderenfalls ein Klageverbrauch einträte, ist es dem Dienstherrn unbenommen, nach korrekter Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung erneut über die vorläufige Dienstenthebung und die Einbehaltung von Dienstbezügen zu entscheiden (OVG SH, B.v. 26.9.2018 – 14 MB 1/18 – juris Rn. 33). Insoweit weist der Senat darauf hin, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Anordnung der vorläufigen Dienstenthebung könne auf die Prognose einer voraussichtlichen Entfernung des Antragstellers aus dem Dienst gestützt werden, durch den Vortrag auf Seite 3 f. des Anwaltsschriftsatzes vom 8. März 2019 nicht ernsthaft in Zweifel gezogen ist.
Sowohl die vorläufige Dienstenthebung als auch die Kürzung der Dienstbezüge waren mit rückwirkender Kraft aufzuheben, da der Antragsteller Anspruch auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung nicht erst im Entscheidungszeitpunkt durch den Senat hat, sondern im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG für den gesamten Zeitraum, in dem die Maßnahme seine Rechte beeinträchtigt hat, jedoch nicht vor Anrufung des Gerichts (vgl. BayVGH, B.v. 15.11.2011 – 16a DA 11.1261 – juris Rn. 24; SächsOVG, B.v. 12.8.2014 – D 6 B 78/14 – juris Rn. 9 m.w.N.; OVG SH, B.v. 26.9.2018 – 14 MB 1/18 – juris Rn. 31).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus Art. 72 Abs. 4 Satz 1 BayDG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei (Art. 73 Abs. 1 Satz 1 BayDG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (Art. 3 BayDG i.V.m. § 152 Abs. 1 VwGO).


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