Europarecht

Unzulässige Feststellungsklage einer Nigerianerin gegen Überstellung nach Italien

Aktenzeichen  W 10 K 20.50217

Datum:
25.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35709
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 43 Abs. 2, § 71
Dublin III-VO Art. 27, Art. 29
AsylG § 29, § 71
VwVfG § 51

 

Leitsatz

Die Zweiteilung des Asylverfahrens ist unionsrechtlich zwingend und für die Mitgliedstaaten verbindlich mit der Folge, dass das Verwaltungsgericht, wenn es die Zulässigkeit des Asylantrags bejaht, nicht aus Gründen der Verfahrensökonomie bzw. Verfahrensbeschleunigung im Falle eines Folge- oder Zweitantrags sogleich in der Sache entscheiden („durchentscheiden“) darf (BVerwG BeckRS 2019, 11001 unter ausdrücklicher Abkehr von der früheren Rspr.); das Verfahren gem. § 71 AsylG iVm § 51 VwVfG hat insofern Vorrang. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Über die Klage entscheidet das Gericht mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
Die Klage ist bereits unzulässig (1.), jedenfalls aber unbegründet, denn die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin ist nicht infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin III-VO oder aus anderen Gründen auf die Beklagte übergegangen (2.).
1. Die Klage ist unzulässig.
a) Der Klageantrag zu (1.), festzustellen, dass die sechsmonatige Dublin-Frist am 6. September 2020 abgelaufen ist, ist unzulässig. Zwar ist die Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO grundsätzlich statthaft. Bei sachgerechter Auslegung (§ 88 VwGO) begehrt die Klägerin die Feststellung, dass infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist der in Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO vorgesehene Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte eingetreten und eine Überstellung nach Italien deshalb aus Rechtsgründen nicht mehr möglich ist. Dabei handelt es sich um ein zwischen den Parteien streitiges Rechtsverhältnis im Sinne einer rechtlichen Beziehung, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis mehrerer Personen zueinander ergibt (Eyermann/Happ, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 43 Rn. 12). Die Klägerin kann sich dabei auf den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris). Sie hat im Übrigen auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung in der Gestalt eines (rechtlich anerkannten) Interesses rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art, da von dem Ablauf der Frist die Frage der internationalen Zuständigkeit für die Prüfung ihres Asylbegehrens abhängt.
b) Der Feststellungsklage steht jedoch der Grundsatz der Subsidiarität nach § 43 Abs. 2 VwGO entgegen. Die Klägerin hätte zunächst einen Folgeantrag gemäß § 71 AsylG wegen des nachträglichen Ablaufs der Überstellungsfrist gegenüber der Beklagten stellen müssen und anschließend gegen eine etwaige weitere ablehnende Entscheidung um Rechtsschutz nachsuchen können, auch wenn dies im Hinblick auf den das gesamte Asylverfahren prägenden Beschleunigungsgrundsatz als formale Betrachtungsweise erscheinen mag (vgl. VG Ansbach, U.v. 9.8.2019 – AN 17 K 18.50463 – juris Rn. 25 ff.). Das Folgeantragsverfahren gemäß § 71 AsylG findet auch dann Anwendung, wenn – wie hier – der Asylantrag nicht als unbegründet, sondern auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt wurde (VG München, B.v. 14.3.2019 – M 5 S 19.50043 – juris Rn. 11; VG Ansbach, U.v. 20.8.2019 – AN 17 K 19.50538 – juris Rn. 19; VG Würzburg, B.v. 13.11.2019 – W 10 S 19.50732 – juris Rn. 31; VG Düsseldorf, B.v. 17.9.2020 – 22 L 1454/20.A – juris Rn. 26; anderer Ansicht z.B. VG Ansbach, U.v. 23.9.2020 – AN 17 K 20.50258 – juris Rn. 26 m.w.N.). Für den Vorrang eines solchen Vorgehens gegenüber einer Feststellungsklage mit dem Ziel der Feststellung des Zuständigkeitsübergangs infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO spricht, dass die Entscheidung über einen Asylantrag seit der Einführung der Unzulässigkeitstatbestände in § 29 AsylG n.F. in Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU vom 26. Juni 2013 in zwei Stufen unterteilt ist. Auf der ersten Stufe steht die Entscheidung über die Zulässigkeit des Asylantrags, welche unter anderem die internationale Zuständigkeit der Beklagten zum Gegenstand hat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), aber auch die Frage, ob der Antragsteller auf die Verfolgungssicherheit in einem anderen Staat verwiesen werden darf (§ 29 Abs. 1 Nr. 3, 4 AsylG) bzw. ob bereits durch die Beklagte oder durch einen anderen Mitgliedstaat eine unanfechtbare Entscheidung über das Asylbegehren getroffen wurde (§ 29 Abs. 1 Nr. 2, 5 AsylG). Erst auf der zweiten Stufe steht sodann bei Bejahung der Zulässigkeit die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens (Begründetheit des Asylantrags). Denn das Asylverfahren ist nach der unionsrechtlichen Konzeption ein mit besonderen verfahrensrechtlichen Sicherungen und besonderer Sachkunde der zuständigen Behörden ausgestaltetes Verwaltungsverfahren, welches nicht vollständig durch eine Anhörung im gerichtlichen Verfahren ersetzt werden kann. Die Zweiteilung des Asylverfahrens steht deshalb der Annahme entgegen, das Verwaltungsgericht müsse, wenn es die Zulässigkeit des Asylantrags bejaht, aus Gründen der Verfahrensökonomie bzw. Verfahrensbeschleunigung im Falle eines Folge- oder Zweitantrags sogleich in der Sache entscheiden („durchentscheiden“) und dürfe die Sache nicht an das Bundesamt zur Sachprüfung zurückverweisen (BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 51.18 – juris Rn. 12; U.v. 15.4.2019 – 1 C 46.18 – juris Rn. 20; U.v. 1.6.2017 – 1 C 9.17 – juris Rn. 15; U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 17; U.v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – juris Rn. 14 unter ausdrücklicher Abkehr von der früheren Rspr.; BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 21 f.). Insoweit tritt der Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung oder Verfahrensökonomie zurück, weil die Zweiteilung des Asylverfahrens unionsrechtlich zwingend und somit für die Mitgliedstaaten verbindlich ist (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Dies führt zu einem Vorrang des Verfahrens gemäß § 71 AsylG in Verbindung mit § 51 VwVfG, sodass einer Feststellungsklage mit dem konkreten Feststellungsbegehren der Klägerin die Subsidiarität gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO entgegensteht.
c) Die Klage ist darüber hinaus unzulässig, soweit die Klägerin mit dem weiteren Klageantrag zu (2.) die Verpflichtung der Beklagten zur Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 14. Februar 2020 begehrt. Das Klagebegehren ist sachgerecht (§ 88 VwGO) dahingehend auszulegen, dass die Klägerin im Wege der Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO begehrt, die Beklagte zur Aufhebung ihres Bescheides im Wege des Wiederaufgreifens des Verwaltungsverfahrens gemäß § 71 AsylG in Verbindung mit § 51 VwVfG zu verpflichten. Eine Klage auf unmittelbare Aufhebung dieses Bescheides wäre schon deshalb unzulässig, weil ein vorangegangenes Klageverfahren gegen diesen Bescheid erfolglos geblieben und rechtskräftig abgeschlossen ist. Dieses bindet die Beteiligten nach § 121 VwGO. Die Rechtskraft entzieht die materielle Richtigkeit der behördlichen bzw. gerichtlichen Entscheidung grundsätzlich einer erneuten Überprüfung (BVerwG, U.v. 18.9.2001 – 1 C 4.01 – juris Rn. 13). Soweit die Klägerin hingegen begehrt, die Beklagte zur Aufhebung ihres Bescheides zu verpflichten, steht dem Klagebegehren entgegen, dass die Klägerin noch keinen entsprechenden Antrag auf Aufhebung des Bescheides und Durchführung eines weiteren Asylverfahrens bzw. eines vorgelagerten Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens gestellt hat (vgl. oben 1.b)). Die Stellung eines Antrags auf Erlass des begehrten begünstigenden Verwaltungsaktes bei der Verwaltungsbehörde stellt eine nicht nachholbare Zugangsvoraussetzung für die verwaltungsgerichtliche Verpflichtungsklage dar (Pietzcker/Marsch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 42 Rn. 96 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42 Rn. 37 m.w.N.).
2. Die Klage ist jedenfalls auch unbegründet. Im Falle der Klägerin ist kein Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte eingetreten, weil die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 u. Abs. 2 Dublin III-VO zum maßgeblichen Zeitpunkt nach § 77 Abs. 1 AsylG nicht abgelaufen ist. Damit ist Italien weiterhin der für ihren Asylantrag zuständige Mitgliedstaat. Insoweit hat die Klägerin keinen auf die Feststellung des Zuständigkeitsübergangs oder auf ein Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gerichteten Anspruch.
Die Zuständigkeit der italienischen Behörden für das Asylverfahren der Klägerin folgt aus Art. 23 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 Buchst. d, Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO. Das Bundesamt hat rechtzeitig ein entsprechendes Aufnahmegesuch an Italien gestellt. Zwar antworteten die italienischen Behörden auf dieses Gesuch nicht, dies hat aber nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III VO zur Folge, dass mit dem Ablauf der Antwortfrist gemäß Art. 25 Abs. 1 Dublin III-VO die Verpflichtung der italienischen Behörden zur Wiederaufnahme der Klägerin eingetreten ist. Die danach begonnene Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO von sechs Monaten ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht abgelaufen, weil sie wiederholt unterbrochen wurde und anschließend erneut zu laufen begann.
Dies beruht auf Folgendem:
a) Die in Lauf gesetzte Frist ist durch den fristgemäß am 26. Februar 2020 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung vom 14. Februar 2020, welcher kraft Gesetzes ein Überstellungsverbot auslöst (vgl. § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO), unterbrochen worden. Hiervon hat die Beklagte die italienischen Behörden in Kenntnis gesetzt. Mit Ergehen der ablehnenden gerichtlichen Eilentscheidung vom 5. März 2020 wurde die sechsmonatige Überstellungsfrist erneut in Gang gesetzt (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11).
b) Die ab dem 6. März 2020 (neu) laufende Überstellungsfrist ist vor ihrem Ablauf durch die Aussetzungserklärung des Bundesamtes vom 20. April 2020 gemäß § 80 Abs. 4 VwGO erneut unterbrochen worden. Diese Unterbrechung, die den italienischen Behörden mitgeteilt worden ist, dauerte bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens (W 8 K 20.50086) am 26. Mai 2020 an und hinderte bis zu diesem Zeitpunkt den Übergang der Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylgesuchs der Klägerin auf die Beklagte.
Die Unterbrechungswirkung ergibt sich dabei aus Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO. Danach erfolgt die Überstellung des Antragstellers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Die Mindestvoraussetzung einer Unterbrechung der Überstellungsfrist ist danach, dass der Asylantragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat. Dem ist mit der am 26. Februar 2020 erhobenen und zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes weiterhin anhängigen Klage (W 8 K 20.50086), die sich auch gegen die Abschiebungsanordnung gerichtet hat, entsprochen worden.
Des Weiteren setzt Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO voraus, dass der Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO hat und daher eine Überstellung nicht durchgeführt werden darf. Bei dem Begriff der „aufschiebenden Wirkung“ handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der alle Fälle erfasst, in denen eine Überstellungsentscheidung nach den nationalen Vorschriften zur Ausgestaltung des Rechtsbehelfsverfahrens nicht vollzogen werden darf. Die in Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, dass auch die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung aussetzen können, erweitert lediglich die Fallgruppen, in denen einem Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung im Sinne des Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO zukommt. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet. Eine derartige behördliche Entscheidung steht in ihrer Wirkung einer gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung gleich und hat zur Folge, dass die Verfügung weiterhin nicht vollzogen werden kann (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris Rn. 20).
Dementsprechend konnte auch die im Fall der Klägerin ergangene Abschiebungsanordnung aufgrund der Aussetzungserklärung des Bundesamtes nach § 80 Abs. 4 VwGO vorübergehend nicht vollzogen werden. Dies galt vorliegend aber nicht bis zu dem behördlichen Widerruf derselben vom 3. August 2020, sondern lediglich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens (W 8 K 20.50086) am 26. Mai 2020. Nur bis zu diesem Zeitpunkt war der nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erforderliche Rechtsbehelf gegeben.
c) Die erfolgte Aussetzungserklärung hält sich in den Grenzen des nationalen Rechts und des Unionsrechts und führt damit zur wirksamen Unterbrechung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO. Für eine Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO bedarf es lediglich eines sachlich tragfähigen, willkürfreien und nicht missbräuchlichen Anlasses. Dass dieser gegeben war, steht für das Gericht nicht in Zweifel. Unter Berücksichtigung der mit der COVID-19-Pandemie verbundenen europaweiten, sehr dynamischen Entwicklung war es durch die Beklagte nicht ermessensfehlerhaft, von der Aussetzungsmöglichkeit Gebrauch zu machen (vgl. VG Minden, B.v. 6.7.2020 – 12 L 485/20.A -juris). Zwar war eine Überstellung von Asylbewerbern nach Italien im fraglichen Zeitraum nicht aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich (vgl. VG Würzburg, GB. v. 25.3.2020 – W 10 K 19.50254 – juris). Nach Sinn und Zweck der Überstellungsfrist begegnet die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes dennoch keinen unionsrechtlichen Bedenken, weil eine Überstellung des Klägers in den zuständigen Mitgliedstaat Italien im fraglichen Zeitraum wegen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Gesundheitsgefahren auf praktische Durchführungsschwierigkeiten gestoßen wäre, zu deren Behebung der Beklagten die zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung stehen musste, in der nach dem rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln waren.
Der unionsrechtliche Maßstab für die Aussetzung der Vollziehung einer Überstellungsentscheidung folgt aus Art. 27 Abs. 3 u. Abs. 4 Dublin III-VO. Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen dürfen, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Ein Rechtsbehelf in diesem Sinne war vorliegend – wie gezeigt – gegeben. Zudem wurde durch die Dauer der Aussetzung („bis auf weiteres“) nicht gegen die zeitlichen Grenzen des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO verstoßen, insbesondere kann hieraus keine zeitlich unbefristete Aussetzung gefolgert werden (vgl. VG Minden, B.v. 6.7.2020 – 12 L 485/20.A – juris). Durch den Wortlaut der Verordnung „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ wird die äußerste Grenze der Aussetzung definiert.
Weitere Bedenken bestehen gegen die Aussetzungserklärung nicht. Die unionsrechtlichen Regelungen der Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO dienen dem angestrebten Ziel des angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrages zuständigen Mitgliedstaates (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel, zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (sog. forum shopping). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge über einen längeren Zeitraum hinweg nicht geprüft werden. Zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (EuGH, U.v. 29.1.2009 – Petrosian, C-19/08 – juris Rn. 48, 49). Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erlaubt dabei eine behördliche Aussetzungsentscheidung nur aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die insbesondere nicht missbräuchlich sein dürfen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris). Danach begegnet die Aussetzungsentscheidung des Bundesamtes keinen unionsrechtlichen Bedenken. Es stellt sich als gerechtfertigt dar, dass die Beklagte im Rahmen einer Abwägung dem Aussetzungsinteresse ein überwiegendes Gewicht gegenüber den betroffenen Interessen der Klägerin eingeräumt hat. Die durch die COVID-19-Pandemie hervorgerufene außerordentliche und extreme Lage sowie die zu deren Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen und die damit verbundenen Erschwernisse einer Überstellung von Asylantragstellern in den zuständigen Mitgliedstaat stellen einen sachlich tragfähigen, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Anlass dar, welchen keiner der Prozessbeteiligten beeinflussen konnte. Es sind dem Gericht auch keine Umstände bekannt, die nahelegen könnten, dass die Aussetzungsentscheidung allein oder auch nur vorrangig getroffen worden wäre, um die Überstellungsfrist aufgrund behördlicher Versäumnisse bei der Organisation der Überstellung der Klägerin nach Italien zu verlängern. Darüber hinaus diente die vorübergehende Aussetzung der Anordnung der Vollziehung der Eindämmung von Gesundheitsgefahren für alle an einer Abschiebung beteiligten Personen einschließlich der Klägerin (ebenso VG Minden, B.v. 6.7.2020 – 12 L 485/20.A – juris; VG Berlin, B.v. 16.7.2020 – 28 L 203/20 A; VG Düsseldorf, U.v. 21.7.2020 – 22 K 8760/18.A – juris; VG Münster, B.v. 2.9.2020 – 10 L 704/20.A; a.A. bspw. VG Schleswig, U.v. 15.5.2020 – 10 A 596/19 – juris; VG Ansbach, U.v. 23.09.2020 – AN 14 K 18.50955 – juris).
Somit bewirkte die Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt am 20. April 2020 eine erneute Unterbrechung der Überstellungsfrist. Diese lief erst mit dem Eintritt der Rechtskraft des Gerichtsbescheides vom 6. Mai 2020, mit welchem die Klage gegen die Überstellungsentscheidung (Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sowie der Feststellung von Abschiebungsverboten, verbunden mit der Abschiebungsanordnung) am 26. Mai 2020 erneut an. Denn Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gestattet eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung nur bis zum „Abschluss des Rechtsbehelfs“, d.h. bis zum Eintritt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über den Rechtsbehelf beziehungsweise bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit der Überstellungsentscheidung wegen Rücknahme oder Einstellung des Rechtsbehelfs(-verfahrens). Der maßgebliche Rechtsbehelf ist dabei nicht das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in welchem es nur um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geht, sondern das gerichtliche Hauptsacheverfahren, d.h. nach dem deutschen System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes das Klageverfahren (vgl. EuGH, U.v. 29.1.2009 – Petrosian, C-19/08 – juris Rn. 45, 53). Der Widerruf der Vollzugsaussetzung mit Schreiben des Bundesamtes vom 17. August 2020 ging damit ins Leere.
Nach alledem ist die Überstellungsfrist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) weiter nicht abgelaufen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, da die Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit unterlegen ist. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.


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