Europarecht

Unzulässige Klage, Bestandskraft des Ausgangsbescheids, Öffentliche Zustellung, Keine ausreichenden Ermittlungen zum unbekannten Aufenthaltsort, Verwirkung des Widerspruchsrechts (bejaht)

Aktenzeichen  M 10 K 20.2627

Datum:
20.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 17253
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwZG § 10

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

1. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
2. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts … … vom 13. Mai 2020 hat keinen Erfolg, da sie bereits unzulässig ist. Der Klage fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, da der Bescheid vom 4. Oktober 2017 infolge Verwirkung des diesbezüglichen Widerspruchsrechts bestandskräftig geworden ist.
Zwar ist die Klage innerhalb der Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO erhoben worden. Die am 15. Juni 2020 bei Gericht eingegangene Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts … … vom 13. Mai 2020 hat die Klagefrist gewahrt, da sie innerhalb von einem Monat nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids am 15. Mai 2020 eingelegt worden ist.
Aber der Klage mangelt es jedenfalls am Rechtsschutzbedürfnis, da der Ausgangsbescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2017 infolge Verwirkung des diesbezüglichen Widerspruchsrechts bestandskräftig geworden ist. Auch wenn im vorliegenden Fall der Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2017 nicht wirksam öffentlich zugestellt worden ist (siehe hierzu unter a), kann der Kläger sich unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung prozessualer Rechte nicht ohne zeitliche Begrenzung hierauf berufen (siehe hierzu unter b).
a) Der Bescheid vom 4. Oktober 2017 ist nicht wirksam im Wege der öffentlichen Zustellung nach § 122 Abs. 5 Abgabenordnung (AO) i.V.m. Art. 5, 13 Abs. 1 Nr. 3b Kommunalabgabengesetz i.V.m. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) bekannt gegeben worden.
aa) Die Beklagte durfte im Zeitpunkt der Zustellung dieses Bescheids nicht davon ausgehen, dass der Kläger unbekannten Aufenthalts im Sinne von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG war, da sie zum seinerzeitigen Aufenthaltsort des Klägers keine ausreichenden aktuellen Ermittlungen angestellt hatte.
Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist.
Nach der Rechtsprechung zur öffentlichen Zustellung, insbesondere zur Frage des unbekannten Aufenthaltsorts nach § 10 VwZG, ist die öffentliche Zustellung ultima ratio. Die Behörde muss erst alle anderen Möglichkeiten erschöpft haben, um das Dokument dem Empfänger zu übermitteln. Um einen unbekannten Aufenthaltsort annehmen zu können, muss der Aufenthaltsort des Zustellungsadressaten allgemein, d.h. infolge gründlicher und umfassender sachdienlicher sowie zeitnaher Bemühungen, z.B. durch Anfragen bei der Polizei, Befragungen von Angehörigen oder der Einwohnermeldebehörden, unbekannt sein (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 18.4.1997 – 8 C 43-95 – NVwZ 1999, 178 (179); BFH, B.v. 13.3.2003 – VII B 196/02 – NVwZ-RR 2004, 461 (462); VGH Baden-Württemberg, B.v. 7.12.1990 – 10 S 2466/90 – NVwZ 1991, 1195 (1196)). Zeitnah sind die Bemühungen jedenfalls dann nicht mehr, wenn sie einige Monate zurückliegen (vgl. BFH, B.v. 13.3.2003, a.a.O.: 5 Monate; VGH Baden-Württemberg, B.v. 7.12.1990, a.a.O.: 2 Monate).
Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben lagen im konkreten Fall die Voraussetzungen für die Annahme eines unbekannten Aufenthalts des Klägers im Zeitpunkt der öffentlichen Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids im Oktober 2017 nicht vor. Die Postzustellungsurkunde vom 9. Oktober 2015, nach der der Kläger unter der Anschrift …straße 27 in … nicht zu ermitteln war, beweist entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten nicht, dass der Kläger im Oktober 2017 unbekannten Aufenthalts war. Einer derartigen Annahme steht zwar nicht entgegen, dass die Adresse auf dem zuzustellenden Schriftstück falsch angegeben gewesen wäre, wie die Klägerbevollmächtigte meint. Ausweislich der Kopien der Postzustellungsurkunde sowie des Kuverts des zuzustellenden Schriftstücks, dessen Adressfeld im Brieffenster des Kuverts erkennbar ist, ist die Hausnummer lediglich auf der Postzustellungsurkunde falsch, nämlich …straße 24 (Bl. 37 Gerichtsakte im Verfahren M 10 K 19.5002), auf dem zuzustellenden Schriftstück ist sie jedoch korrekt angegeben (Bl. 38 Gerichtsakte im Verfahren M 10 K 19.5002). Aus diesem Zustellungsversuch vom 9. Oktober 2015 lässt sich aber schon deswegen nicht ableiten, dass der Kläger auch im Oktober 2017 unbekannten Aufenthalts war, da dieser Zustellungsversuch zwei Jahre zurückgelegen und es sich damit nicht um eine zeitnahe Erkenntnisquelle gehandelt hat.
Das Gleiche gilt für die Auskunft der Meldebehörde der Stadt … vom 12. Juli 2016 sowie die Ermittlungen der Beklagten zum Aufenthaltsort des Klägers in den Jahren 2015 und 2016 (u.a. in Südafrika). Auch diese liegen zu lange zurück, um sie als zeitnahe Ermittlung des Aufenthaltsorts des Klägers gelten lassen zu können.
Hieran ändert auch die später eingeholte weitere Auskunft der Meldebehörde der Stadt … vom 6. November 2019, aus der sich das Gleiche wie aus der Auskunft vom 12. Juli 2016 ergibt, nichts. Insbesondere kann aus dieser Auskunft nicht der unbekannte Aufenthalt des Klägers im Oktober 2017 mit dem Argument abgeleitet werden, wenn die Beklagte vor der öffentlichen Zustellung des angegriffenen Bescheids eine Auskunft bei der Stadt … eingeholt hätte, wäre ihr eine gleichlautende Auskunft wie die vom 6. November 2019 und vom 12. Juli 2016 erteilt worden. Mit den Auskünften der Meldebehörde der Stadt … kann lediglich belegt werden, dass der Kläger nicht in … gemeldet war. Allerdings ist damit nicht nachgewiesen, dass er nicht an einem anderen Ort in Deutschland melderechtlich erfasst war.
Auch auf den gescheiterten Zustellungsversuch im Juli 2020 kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg berufen, da es sich hierbei nicht um eine Ermittlung des Aufenthaltsorts vor Erlass des angefochtenen Ausgangsbescheids handelt.
Im Ergebnis hat die Beklagte kein einziges Mal versucht, den Bescheid vom 4. Oktober 2017 dem Kläger persönlich zuzustellen. Sie hat diesen vielmehr sofort ohne weitere aktuelle Ermittlungen öffentlich zugestellt. Dies genügt nicht, um einen unbekannten Aufenthalt annehmen zu können. Insbesondere hätte die Beklagte eine bundesweite Melderegisterauskunft nach § 34 Bundesmeldegesetz einholen können. Außerdem hätte es sich aufgedrängt, sich beim Miteigentümer des Grundstücks, der überdies der Schwager des Klägers ist, oder bei den Rechtsanwälten, die sich für die GbR bestellt hatten, nach dem aktuellen Aufenthaltsort des Klägers zu erkundigen. Dies ist nach Lage der Akten jedoch nicht geschehen.
bb) Da es für eine öffentliche Zustellung gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG bereits an der Voraussetzung des unbekannten Aufenthaltsorts des Klägers fehlt, kann an dieser Stelle dahinstehen, ob ein Zustellbevollmächtigter vorhanden gewesen wäre, an den die Zustellung möglich gewesen wäre, § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG. Auch die anderen Alternativen einer öffentlichen Zustellung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 VwZG sind nicht einschlägig. Daher kann offenbleiben, ob die formellen Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung nach § 10 Abs. 2 VwZG erfüllt sind.
b) Im konkreten Fall kann sich der Kläger jedoch prozessual nicht mehr auf diesen Zustellungsmangel berufen. Der Kläger hat die Rüge des Zustellungsmangels rechtsgrundlos zu spät, nämlich erst mit der Widerspruchseinlegung am 3. Februar 2020, erhoben, obwohl er bereits im Oktober 2018 Kenntnis vom Bescheid vom 4. Oktober 2017 gehabt hatte. Angesichts dessen war sein Widerspruchsrecht jedenfalls im Februar 2020 verwirkt.
Auch die Geltendmachung prozessrechtlicher Befugnisse kann im Einzelfall verwirkt werden, wenn der Betroffene die Rüge des Zustellungsmangels rechtsgrundlos zu spät oder gar nicht erhebt. Bleibt der Rechtsmittelführer unter solchen Verhältnissen untätig, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt, kann davon ausgegangen werden, dass nach Ablauf eines Jahres von dem Zeitpunkt an, in dem die Frist bei fehlerfreier Bekanntgabe bzw. Zustellung der Entscheidung zu laufen begonnen hätte, darauf zu vertrauen ist, dass ein Rechtsmittel nicht mehr geltend gemacht werden soll (BFH, B.v. 2.9.2003 – V B 129/02 – BeckRS 2003, 25002637; vgl. auch: Ronellenfitsch in: Bader/ders., BeckOK VwVfG, 50. Ed. 1.10.2019, § 8 VwZG Rn. 23).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat der Kläger die Rüge des Zustellungsmangels im Zuge der Erhebung des Widerspruchs am 3. Februar 2020 ohne triftigen Grund zu spät erhoben. Nach Aktenlage und dem unbestrittenen Sachvortrag der Beklagtenpartei ist davon auszugehen, dass die Klagepartei zu diesem Zeitpunkt bereits seit über einem Jahr, nämlich bereits seit Oktober 2018, Kenntnis von der Existenz des Bescheids vom 4. Oktober 2017 hatte. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2018 auf Nachfrage der Klägerbevollmächtigten vom 21. September 2018 auf den aus ihrer Sicht infolge öffentlicher Zustellung bestandskräftigen Bescheid vom 4. Oktober 2017 und die hierauf beruhende Vollstreckung verwiesen. Zwar hat die Klagepartei nach Aktenlage und ihrer Widerspruchsbegründung vom 3. Februar 2020 den Bescheid vom 4. Oktober 2017 im Oktober 2018 von der Beklagten wohl nicht übermittelt bekommen. Auch lässt sich den Akten nicht entnehmen, ob das Schreiben der Beklagten vom 4. Oktober 2018 der Klägerbevollmächtigten zugegangen ist. Insbesondere befindet sich weder ein Vermerk über die Aufgabe des Schreibens zur Post noch ein Faxbericht in der Akte.
Aber aufgrund des unbestrittenen Sachvortrags der Beklagtenpartei ist anzunehmen, dass das Schreiben der Beklagten vom 4. Oktober 2018 der Klagepartei zugegangen ist. Die Beklagte beruft sich in ihrer Klageerwiderung vom 12. August 2020 auf Verwirkung und begründet diese explizit mit der Kenntnis der Klagepartei vom streitgegenständlichen Bescheid im Oktober 2018. Die Klagepartei hat in ihrer Replik vom 21. September 2020 jedoch nicht bestritten, bereits im Oktober 2018 Kenntnis vom angefochtenen Bescheid gehabt zu haben. Sie hat zur Frage der Verwirkung vielmehr gar nicht Stellung genommen. Indiz für die Kenntnis vom streitgegenständlichen Bescheid bereits im Oktober 2018 ist auch, dass der Widerspruch am 3. Februar 2020 (nur) mit der Begründung erhoben worden ist, dass die Klagepartei erst im Zuge der Akteneinsicht im anderweitig betriebenen Verfahren M 10 K 19.5002 festgestellt habe, dass der Bescheid mangels Vorliegens der Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung nicht wirksam bekannt gegeben worden sei. Mit der Widerspruchsbegründung wird – anders als in der Klagebegründung – gerade nicht geltend gemacht, dass der Bescheid erst im Zuge der Akteneinsicht bekannt geworden wäre. Im Übrigen spricht für eine Kenntnis vom Bescheid bereits im Oktober 2018, dass – unterstellt die Klagepartei hätte das Schreiben der Beklagten vom 4. Oktober 2018 nicht erhalten – sich eine Nachfrage der Klägerbevollmächtigten bei der Beklagten aufgedrängt hätte, weil das Schreiben vom 21. September 2018 wegen der Kontopfändung über fast 3.000 EUR unbeantwortet geblieben wäre. Den Akten lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass die Klagepartei an ihr Schreiben vom 21. September 2018 erinnert und eine Beantwortung angemahnt hätte.
Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die Klagepartei bereits im Oktober 2018 Kenntnis von der Existenz des Bescheids vom 4. Oktober 2017 hatte. Ab diesem Zeitpunkt hätte sich eine Nachfrage bei der Beklagten nach dem Bescheid bzw. erneute Bitte um dessen Übermittlung und eine entsprechende Rechtsmitteleinlegung aufgedrängt. Da der Kläger dies zunächst unterlassen und trotz Kenntnis vom Bescheid erst am 3. Februar 2020 Widerspruch eingelegt hat, war sein Widerspruchsrecht nach diesem langen Zeitraum von über einem Jahr verwirkt.
c) Angesichts der Verwirkung des Widerspruchsrechts kommt es auf die Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht an.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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