Europarecht

Verspätung, Flug, Luftverkehr, Außergewöhnliche Umstände, Verkehrsaufkommen

Aktenzeichen  5 C 2980/17

Datum:
27.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 38974
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Erding
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AEUV Art. 267
VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 3 der

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Europäischen Gerichtshof werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
1.Ist von einem außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) 261/2004 bereits dann auszugehen, wenn ein Flug verspätet durchgeführt wird, weil das Flugunternehmen, ohne dies beeinflussen zu können, für den Flug eine gegenüber der planmäßigen Startzeit verspätete Starterlaubnis durch die Luftverkehrskontrolle erhält?
2.Falls Frage 1) verneint werden sollte: Ist im Fall der Frage 1 von einem außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) 261/2004 auszugehen, wenn die verspätete Startfreigabe mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen begründet wird?

Gründe

I.
1. Die Klägerin verfügte über eine bestätigte Buchung für den von der Beklagten am 18.07.2016 durchgeführten Flug … von München nach Amsterdam mit Anschlussflug … nach Humberside. Die Klägerin wurde aufgrund dieser Buchung von der Beklagten mit dem Flug … befördert.
2. Der Flug sollte planmäßig um 07:00 Uhr Ortszeit in München abfliegen und um 08:35 Uhr Ortszeit in Amsterdam landen. Tatsächlich startete der Flug in München mit einer Verspätung von 40 Minuten, so dass die Klägerin ihren Anschlussflug verpasste und das Endziel Humberside mit einer Verspätung von sieben Stunden und 23 Minuten erreichte.
3. Die Klägerin verlangt eine Ausgleichszahlung nach Art. 5, 7 der VO (EG) 261/2004 wegen des mit erheblicher Verspätung durchgeführten Fluges.
II.
4. Die Beklagte beruft sich darauf, dass sie nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung nicht zur Ausgleichszahlung verpflichtet sei. Die Verspätung sei auf außergewöhnlicher Umstände zurückzuführen, die auch dann nicht hätte verhindert werden können, wenn sie alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe. Dies sei der Fall, weil der verspätete Start auf einer Anweisung durch Eurocontrol beruhe. Der Grund für die Anweisung von Eurocontrol sei ein erhöhtes Verkehrsaufkommen gewesen. In Amsterdam seien statt der üblichen 64 Flüge über 80 Flüge in Warteposition gewesen.
5. Um diesen Vortrag zu beweisen, hat sich die Beklagte auf die Zeugin S… bezogen, die in der mündlichen Verhandlung vernommen wurde. Diese erklärte die Verspätung mit einer Anweisung der Luftverkehrskontrolle, zu der der Delaycode 82 angegeben war. Über den Delaycode hinaus konnte sie keine Angaben machen. Aus den vorgelegten Unterlagen ergibt sich ein Delaycode 87, ohne dass weitere Informationen ersichtlich sind. Dieser Code soll für ein erhöhtes Verkehrsaufkommen stehen. Zu den Umständen des erhöhten Verkehrsaufkommens sind keine näheren Feststellungen möglich, auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Zeugin S… irrtümlich statt des Codes 82 den Code 87 nannte.
6. Die Starterlaubnis war durch die startbereite Beklagte nicht beeinflussbar.
III.
7. Für das vorlegende Gericht kommt es daher darauf an, ob die Erteilung einer verspäteten Starterlaubnis durch die Luftverkehrskontrolle ohne Hinzutreten weiterer Umstände bereits einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) 261/2004 darstellt.
8. Nach Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) 261/2004 ist eine Entlastung möglich, wenn das Luftfahrtunternehmen nachweisen kann, dass die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.
9. Die Verordnung enthält keine Legaldefinition außergewöhnlicher Umstände.
10. Der Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 deutet darauf hin, dass es nicht ausreicht, dass die Umstände für das Luftfahrtunternehmen nicht zu beherrschen sind. Diese müssen vielmehr auch außergewöhnlich (extraordinary, extraordinnaires, buitengewone,…) sein.
11. Außergewöhnliche Umstände sind nach ständiger Rechtsprechung Vorkommnisse, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Tätigkeit des betroffenen Luftfahrunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.12.2009, C-549/07, BGH, Urteil vom 12.11.2009, Xa ZR 76/07). Bei Art. 5 Abs. 3 der Verordnung handelt es sich um eine Ausnahme von der Leistungspflicht gemäß Art. 7. Der Ausnahmecharakter entspricht dem angestrebtem hohen Schutzniveau für die Fluggäste nach Erwägungsgrund 1 der Verordnung.
12. Beispielhaft ist in Erwägungsgrund 14 der Verordnung aufgeführt, dass solche Umstände bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des Fluges nicht vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks auftreten können. Erwägungsgrund, 15 betrifft Anordnungen des Flugverkehrsmanagemant. Danach sollte vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ausgegangen werden, wenn eine Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug zu einem bestimmten Tag zur Folge hat, dass es bei einem oder mehreren Flügen des betreffenden Flugzeugs zu einer großen Verspätung bis zum nächsten Tag oder zu einer Annullierung kommt, obgleich vom betreffenden Luftfahrtunternehmen alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verspätungen oder Annullierungen zu verhindern.
13. Die Erwägungsgründe sind bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung zu berücksichtigen.
14. In der Rechtsprechung der nationalstaatlichen Gerichte wird die Frage, ob eine Verschiebung der Start- oder Landezeit einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, unterschiedlich bewertet.
15. In einem Fall, den das Handelsgericht Wien zu entscheiden hatte, berief sich das Luftfahrtunternehmen auf eine Slotverschiebung wegen Luftraumüberlastung. Das HG Wien hat dazu mit Urteil vom 06.10.2017, 60 R 62/17y, entschieden, dass es nicht ausreicht, dass das Luftfahrtunternehmen einen verspäteten Slot erhält und es darauf keinen Einfluss hatte. Wenn sich das Luftfahrtunternehmen auf Maßnahmen der Flugsicherung beruft, müsse es auch behaupten und nachweisen, dass mit dieser Maßnahme aufgrund ihrer Unüblichkeit nicht gerechnet werden konnte. Dazu gehöre auch die Behauptung, inwiefern der Grund für die Beschränkung des Luftverkehrs außergewöhnlich sei.
16. In einem Fall, den der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte, berief sich das Luftfahrtunternehmen darauf, dass ein Flug nach pünktlichem Start mit einer Verspätung landete, weil die Landeerlaubnis verspätet erteilt worden sei. Der BGH entschied mit Urteil vom 13.11.2013, X ZR 115/12, dass in einer verspäteten Landeerlaubnis ein außergewöhnlicher Umstand liege. Das Luftfahrtunternehmen müsse von den in seinem Flugplan vorgesehenen Start- und Landezeiten ausgehen. Es habe keinen Einfluss auf Entscheidungen der Luftverkehrsbehörden oder eines Flughafenbetreibers. Da diese wie Wetterbedingungen von außen in den Flugverlauf eingriffen, handele es sich um außergewöhnliche Umstände. Der Bundesgerichtshof begründete dies auch mit Erwägungsgrund 15 der VO (EG) 261/2004.
17. Das vorlegende Gericht hält eine enge Auslegung des Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 für geboten. Danach erscheint es zweifelhaft, ob die Anweisung, später abzufliegen, ohne Weiteres als außergewöhnlicher Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung anzusehen ist.
18. Die Durchführung von Flügen ist typischerweise Gegenstand weitgehender Regulierungen. Insbesondere Start und Landung sind von einer Genehmigung abhängig. Bei der Durchführung eines Fluges und der Benutzung eines Flughafens können Fluggesellschaften Adressat vielfältiger Anweisungen sein. Diese können sich insbesondere daraus ergeben, dass viele Bedingungen und Akteure auf den Luftverkehr einwirken. Es ist davon auszugehen, dass ein Luftfahrtunternehmen dabei Anweisungen erhält, die sie im Einzelfall nicht beeinflussen kann. Es ist aber kaum festzustellen, dass dies völlig außerhalb der normalen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens liegt. Dass eine Abfluggenehmigung oder ein Slot zugeteilt wird, der außerhalb der im Flugplan vorgesehenen Zeiten liegt, erscheint daher nicht ohne Weiteres außergewöhnlich.
19. Es stellt sich die Frage wie im Rahmen der Auslegung Erwägungsgrund 1 und Erwägungsgrund 15 der Verordnung zu berücksichtigen sind. Erwägunsgrund 1 erklärt als Ziel der Verordnung, ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sicherzustellen. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung stellt eine Ausnahme dar und ist daher eng auszulegen.
20. Erwägungsgrund 15 ist in diesen Zusammenhang einzuordnen. Er ist – wie Erwägungsgrund 14 – bewusst nicht als bindende Begriffsbestimmung in Art. 2 der Verordnung aufgenommen worden. Ihm kommt daher kein stärkeres Gewicht zu, als dem Ziel des hohen Schutzniveaus und dem Verbraucherschutz. Das System von Erwägungsgrund 14 und Erwägungsgrund 15 lässt auch eine enge Auslegung zu. Danach würde Erwägungsgrund 14 sich – nicht abschließend – darauf beziehen, was außergewöhnliche Umstände sind, während Erwägungsgrund 15 sich darauf bezieht, in welchem zeitlichen und organisatorischem Umfang ein Luftfahrtunternehmen sich entlasten kann. Dafür spricht der Wortlaut, nach dem es um eine „Entscheidung des Flugverkehrsmanagements zu einem einzelnen Flugzeug“ (impact of an „airtraffic management decision in relation to a particular aircraft“), nicht um eine Entscheidung zu einem bestimmten Flug, geht. Dies deutet dahin, Erwägungsgrund 15 insbesondere auf Fälle anzuwenden, in denen es durch näher aufzuklärende außergewöhnliche Umstände zu einer Umlaufverspätung bei weiteren Flügen des vorgesehenen Fluggeräts kommt.
21. Demgegenüber entspricht eine Entlastung des Luftfahrtunternehmens durch jede Anweisung, die nicht im Einfluss der Fluggesellschaft steht, nicht dem Ziel, ein hohes Schutzniveau zu schaffen.
IV.
22. Soweit es darauf ankommen sollte, auf welchem Grund die Anordnung der Luftverkehrskontrolle beruht, ist es nach Ansicht des vorlegenden Gerichts entscheidend, ob es ausreicht, dass diese mit erhöhtem Verkehrsaufkommen begründet ist. Bei einer engen Auslegung des Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) 261/2004 ist dies kein Umstand, der außerhalb der normalen Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens liegt.
V.
23. Da die vorliegende Frage durch eine Auslegung des Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 zu beantworten ist, hat das Gericht den Rechtsstreit ausgesetzt und die Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.


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