Europarecht

Vertrags(zahn) arztangelegenheiten

Aktenzeichen  S 38 KA 70/18

Datum:
9.10.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27702
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 44 Abs. 2 S. 2
KVB § 3 Abs. 1
SGG § 54

 

Leitsatz

1. Im Rahmen der nach § 44 Abs. 2 S. 2 SGB X zu treffenden Ermessensentscheidung kann dem Aspekt der Gesamtvergütung, die im aktuellen Quartal an die Vertragsärzte ausgekehrt werden soll, ohne dass diese durch Belastungen aus den Vorquartalen geschmälert wird, maßgebliche Bedeutung beigemessen werden. (Rn. 22)
2. Zur Handlungsfreiheit der Kassenärztlichen Vereinigung gehört auch, dass diese die finanziellen Auswirkungen einer positiven Entscheidung für die Gesamtheit der Vertragsärzte in die Ermessensabwägungen mit einstellt (vgl. BSG, Urteil vom 20.06.2005, Az B 6 KA 21/04 R). Dabei kommt es nicht darauf an, welche finanziellen Auswirkungen eine Nachvergütung bei einem einzelnen Vertragsarzt wie dem Kläger für die Gesamtheit hätte. Denn im Zuge der Gleichbehandlung der Vertragsärzte nach Art. 3 GG müssten bei allen Vertragsärzten, die von der Rechtsänderung betroffen und deren Honorarbescheide ebenfalls bestandskräftig sind, ebenfalls die Honorarbescheide für die Vergangenheit aufgehoben werden und entsprechende Nachvergütungen erfolgen. In diesem Fall kann kein Ermessensfehler darin gesehen werden, die finanziellen Interessen der Gesamtheit der Vertragsärzte vorrangig zu berücksichtigen.    (Rn. 22)
3. Ein individuelles Betroffensein – egal in welchem Umfang – muss bei der Ermessensentscheidung hintanstehen. (Rn. 22)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage – es handelt sich um eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG ist zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind als rechtmäßig zu erachten und der Kläger ist nicht in seinen Rechten verletzt.
Der Kläger begehrt die Aufhebung bestandskräftiger Honorarbescheide für die Quartale 01/08 – 2/14 und Nachvergütung von Leistungen, die er im Rahmen der Notfallversorgung erbracht hat auf der Basis des EBM nach den durch den Bewertungsausschuss vorgenommenen Änderungen.
In Betracht kommt die Regelung in § 44 SGB X. Darin ist die Rücknahme rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte geregelt. Die Voraussetzungen hierfür liegen aber nach Auffassung des Gerichts nicht vor.
Zunächst ist äußerst fraglich, ob der Kläger für den Zeitraum vom Quartal 1/08 – 1/10 die Aufhebung der Honorarbescheide und gegebenenfalls entsprechende Nachvergütungen beanspruchen kann. Denn in dem Zeitraum befand er sich in einer Gemeinschaftspraxis. In diesem Fall kann Gläubigerin nur die BGB-Gesellschaft in Liquidation sein, worauf die Beklagte zutreffend aufmerksam gemacht hat. Darauf kommt es jedoch letztendlich nicht an.
In § 44 Abs. 1 SGB X ist geregelt, dass der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Es handelt sich somit um eine gebundene, nicht um eine Ermessensentscheidung. Liegen die Voraussetzungen vor, besteht ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsaktes/der Verwaltungsakte. Die Vorschrift des § 44 Abs. 1 ist jedoch im streitgegenständlichen Verfahren nicht anwendbar, da diese Vorschrift nur für Sozialleistungen gilt. Bei dem Honorar aus vertragsärztlicher Tätigkeit handelt es sich nicht um Sozialleistungen.
Grundsätzlich anwendbar ist deshalb die Regelung in § 44 Abs. 2 SGB X. Danach ist im Übrigen ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Die Vorschrift bestimmt, dass der Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden k a n n (§ 44 Abs. 2 S. 2 SGB X). Die Vorschrift stellt – anders als die Vorschrift des § 44 Abs. 1 SGB X – für die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit keine gebundene, sondern eine Ermessensentscheidung dar.
Die Honorarbescheide der Quartale 01/08 – 2/14 sind bestandskräftig, da keine Widersprüche eingelegt wurden.
Sie sind allerdings rechtswidrig, was von den Beteiligten nicht bestritten wird. Ausgangspunkt ist die von den Beteiligten mehrfach zitierte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 12.12.2012 (Az. B 6 KA 3/12 R). Dort war das BSG mit der Frage befasst – Klägerin war ein Krankenhaus -, ob Krankenhausambulanzen von Zusatzpauschalen im Zusammenhang mit Leistungen im Rahmen der ambulanten Notfallversorgung, die den Vertragsärzten zustehen, ausgenommen werden dürfen. Das Bundessozialgericht hat auf den Grundsatz gleicher Vergütung der in Notfällen im ärztlichen Notfalldienst bzw. von Notfallambulanzen erbrachten Leistungen abgestellt und zum Ausdruck gebracht, dieser Grundsatz dürfe nicht dadurch unterlaufen werden, dass im Bewertungsmaßstab Zusatzpauschalen normiert werden, deren Leistungsinhalt Krankenhausambulanzen – anders als Vertragsärzte – von vornherein nicht erfüllen können. Deshalb nahm der Bewertungsausschuss (mehrere Sitzungen) eine Neuregelung vor, mit der dem Grundsatz gleicher Vergütung Rechnung getragen werden sollte. Im Ergebnis wurden einzelne Leistungen aus dem EBM genommen (GOP´s 01211, 01215, 01217, 01219), die GOP 01210 geändert und die GOP 01212 neu in den EBM aufgenommen.
Rechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn – wie in den angefochtenen Bescheiden – im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung (§ 44 Abs. 2 S.2 SGB X) dem Aspekt der Gesamtvergütung, die im aktuellen Quartal an die Vertragsärzte ausgekehrt werden soll, ohne dass diese durch Belastungen aus den Vorquartalen geschmälert wird, maßgebliche Bedeutung beigemessen wird. Zur Handlungsfreiheit der Kassenärztlichen Vereinigung gehört auch, dass diese die finanziellen Auswirkungen einer positiven Entscheidung für die Gesamtheit der Vertragsärzte in die Ermessensabwägungen mit einstellt (vgl. BSG, Urteil vom 20.06.2005, Az. B 6 KA 21/04 R). Dabei kommt es nicht darauf an, welche finanziellen Auswirkungen eine Nachvergütung bei einem einzelnen Vertragsarzt wie dem Kläger für die Gesamtheit hätte. Denn im Zuge der Gleichbehandlung der Vertragsärzte nach Art. 3 GG müssten bei allen Vertragsärzten, die von der Rechtsänderung betroffen und deren Honorarbescheide ebenfalls bestandskräftig sind, ebenfalls die Honorarbescheide für die Vergangenheit aufgehoben werden und entsprechende Nachvergütungen erfolgen. Nachdem sich nach den Angaben der Beklagten viele Vertragsärzte in der gleichen Situation wie der Kläger befinden (bestandskräftige Honorarbescheide) und Honorar für einen langen Zeitraum (mehrere Jahre von 2008-2015) nachzuvergüten wäre, käme es zu einer nicht unerheblichen finanziellen Belastung, die sich spürbar auf die Gesamtvergütung im aktuellen Quartal auswirken würde. In diesem Fall kann kein Ermessensfehler darin gesehen werden, die finanziellen Interessen der Gesamtheit der Vertragsärzte vorrangig zu berücksichtigen. Aus diesem Grund muss ein individuelles Betroffensein – egal in welchem Umfang – hintanstehen. Abgesehen davon ist darauf hinzuweisen, dass Hintergrund für die Änderung des EBM die vom Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 12.12.2012, Az. B 6 KA 3/12 R) festgestellte Ungleichbehandlung von Krankenhäusern und Vertragsärzten bei Leistungen der ambulanten Not(fall-)Versorgung war. Bei den Leistungen, die der Kläger, seiner persönlichen Situation geschuldet, in den Quartalen ab 1/08 ff. erbrachte, handelte es sich hauptsächlich um Besuchsleistungen, die dem Kläger nach den Gebührenordnungspositionen (GOP) 01411 und 01411N (alte Fassung) vergütet wurden. Ab dem Jahr 2015 wurden diese Leistungen von der GOP 01418 erfasst. Es trifft somit die Behauptung des Klägers nicht zu, seine von ihm erbrachten Leistungen seien nicht vergütet worden.
Soweit der Kläger geltend macht, er habe auf Äußerungen von Mitarbeitern der Beklagten vertraut, man werde sich der Angelegenheit annehmen und ihn rechtzeitig über die aktuelle Entwicklung auf dem Laufenden halten, lassen sich dafür keinerlei Nachweise finden. Denn es gibt keinerlei Protokollnotizen oder Telefonnotizen, geschweige denn schriftliche Zusagen der Beklagten.
Aus den genannten Gründen war die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


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