Europarecht

Vorläufiger Rechtsschutz gegen bevorstehende Überstellung eines Minderjährigen in die Schweiz im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  M 9 S 16.50785

Datum:
27.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, Abs. 2 S. 1 Nr. 3
AsylG AsylG § 34a Abs. 1, Abs. 2 S. 1, § 75 Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2 lit. j, Art. 3 Abs. 1, 2, Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 4, Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 17, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 20 Abs. 1 lit. d
SGB VIII SGB VIII § 42f Abs. 2 S. 1
RL 2013/32/EU Art. 25 Abs. 5
Dublin II-VO Dublin II-VO Art. 6 Abs. 2
GRCh GRCh Art. 24

 

Leitsatz

1. In der Schweiz bestehen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens. (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist nicht Sache des Gerichts, sondern des dafür zuständigen Bundesamts, bei Vorliegen eines Zweifelsfalles bezüglich der Minderjährigkeit das Alter eines Asylantragstellers festzustellen. Erfolgt dies nicht und bleiben die Zweifel bestehen, ist von einer Minderjährigkeit auszugehen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 4. Oktober 2016 (M 9 K 16.50784) gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … September 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die bevorstehende Überstellung in die Schweiz im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller ist (alles nach eigenen Angaben) Staatsangehöriger von Sierra Leone mit der Volkszugehörigkeit der Limba und geboren am … 1999. Mit dem Formblatt (Bl. 2 der vorgelegten Bundesamtsakte mit dem Az.: …; für den Antragsteller wurden 2 Bundesamtsakten vorgelegt, die mit dem soeben genannten Aktenzeichen und eine weitere unter dem Az.: …; soweit nicht besonders gekennzeichnet, ist bei Bezugnahmen die zuerst genannte, umfangreichere Bundesamtsakte gemeint) „Meldung Aufgriffsfall gemäß EU (VO) Nr. 604/2013“ wurde von der Bundespolizeiinspektion … unter dem Aufgriffsdatum … Mai 2016 an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) der Aufgriff des Antragstellers gemeldet. Im Formular ist als Geburtsdatum der … 1999 eingetragen. Beigefügt ist (Bl. 3 der Bundesamtsakten) ein Übergabebericht Jugendamt ebenfalls vom … Mai 2016, aus dem hervorgeht, dass der Antragsteller im Anschluss an die Aufgriffsaufnahme dem Jugendamt … übergeben wurde, von diesem wiederum wurde er im Jugendhilfswerk „…“ in … untergebracht. Begründet wurde die Übergabe an das Jugendamt im Bericht der Bundespolizeiinspektion folgendermaßen: „Da der D. noch Jugendlicher ist, wird er dem Jugendamt …,,Haus …‘ überstellt“.
Für den Antragsteller folgt aus dem von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgang ein EURODAC-Treffer für die Schweiz (CH…; Bl. 5 der Bundesamtsakten).
In den vom Bundesamt vorgelegten Akten wird der Antragsteller wechselnd als am … 1999 bzw. … 1998 geboren geführt, wobei aus den Akten nicht hervorgeht, woher das Geburtsdatum … 1998 stammt, wohingegen das Datum … 1999 aus der Aufgriffsmeldung der Bundespolizeiinspektion … herrührt.
Am 22. Juni 2016 wurde der Antragsteller von der Regierung von Oberbayern Zentrale Ausländerbehörde Oberbayern /Zentrale Passbeschaffung Bayern erstbefragt. Auf die Niederschrift über die Erstbefragung (Bl. 5 – 12 der unter dem Az. … – … vorgelegten Bundesamtsakten) sowie auf die beigefügte Einschätzung zur Erstbefragung (Bl. 13 – 14 der unter dem Az. … – … vorgelegten Bundesamtsakten) wird Bezug genommen. Ebenso wird auf die Angaben des Antragstellers im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 9. August 2016 (Bl. 20 – 23 der unter dem Az. … – … vorgelegten Bundesamtsakten) Bezug genommen. Er habe sein Heimatland im Jahr 2014 verlassen und sei über Mali, Burkina Faso, den Niger und Libyen nach Italien und über die Schweiz weiter nach Deutschland gereist. Er sei am 8. Juni 2016 in das Bundesgebiet eingereist und hat am 9. August 2016 beim Bundesamt – Außenstelle Regensburg einen Asylantrag gestellt.
Auf ein Übernahmeersuchen der Antragsgegnerin vom 27. Juni 2016 erklärten die Schweizer Behörden mit Schreiben vom 29. Juni 2016 (Bl. 87 der Bundesamtsakten; im streitgegenständlichen Bescheid ist fälschlich vom 30.07.2016 die Rede), welches mit E-Mail vom 30. Juni 2016 übersandt wurde, ihr Einverständnis.
Die Bundesamtsakte enthält ein Schreiben der Stadt … vom 11. Juli 2016 (Bl. 91 der Bundesamtsakten), an das zuvor ein „Fragenkatalog Dublin“ zur Weiterleitung an den Antragsteller übersandt worden war, mit der Mitteilung: „Zu unserer Entlastung übersenden wir Ihnen den Fragebogen zurück. Es wurde Volljährigkeit festgestellt. Die Inobhutnahme wurde zum 06.06.2016 beendet. Der UMA … wurde an die LEA Karlsruhe verwiesen.“
Mit Bescheid vom … September 2016 ordnete das Bundesamt die Abschiebung in die Schweiz an (Nr. 1). Die Nr. 2 des Bescheids enthält die Befristungsentscheidung hinsichtlich des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG. Auf den Bescheid und seine Begründung wird Bezug genommen.
Mit Begleitschreiben vom 23. September 2016 wurde der Bescheid an den Antragsteller versandt. Laut der bei den Bundesamtsakten befindlichen Kopie der Postzustellungsurkunde wurde der Bescheid dem Antragsteller am 27. September 2016 zugestellt.
Der Antragsteller ließ hiergegen mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 4. Oktober 2016, bei Gericht eingegangen per Telefax am selben Tag, Klage erheben (Az.: M 9 K 16.50784) mit dem Antrag, den Bescheid vom … September 2016 aufzuheben.
Mit Schreiben seines Bevollmächtigten ebenfalls vom 4. Oktober 2016, bei Gericht eingegangen per Telefax am selben Tag, ließ der Antragsteller außerdem beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … September 2016 hinsichtlich der Androhung (sic!) der Abschiebung anzuordnen.
Mit Schriftsatz des Bevollmächtigten des Antragstellers vom 10. Oktober, auf den Bezug genommen wird, wurden Klage und Antrag begründet.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten vor, äußerte sich in der Sache aber nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in diesem und im dazugehörigen Klageverfahren und der Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Der Antrag ist sachdienlich dahin auszulegen, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Abschiebungsanordnung begehrt wird und nicht, wie der Bevollmächtigte des Antragstellers unzutreffend beantragt hat, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Abschiebungsandrohung; durch die Bezugnahme auf den streitgegenständlichen Bescheid ist ausreichend klar, was gemeint sein soll, da dieser Bescheid eben nur eine Abschiebungsanordnung, aber keine Abschiebungsandrohung enthält.
Der Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG zulässig, insbesondere rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) bei Gericht gestellt worden.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage im Fall des hier einschlägigen gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob die Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten oder die, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (beispielsweise BVerwG, B. v.25.03.1993 – 1 ER 301/92 – NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigenständige gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG kommt es für den vorliegenden Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, der ohne mündliche Verhandlung ergeht, maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung an.
Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage wird die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage gegen die Abschiebungsanordnung voraussichtlich Erfolg haben. Damit überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.
Die Klage ist voraussichtlich begründet, da das Bundesamt nach der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt zu Unrecht die Abschiebung in die Schweiz angeordnet hat.
1.1. Zwar bestehen keinerlei Zweifel daran, dass das Asylsystem in der Schweiz den anzulegenden Maßstäben gerecht wird. In der Schweiz sind keine sog. systemischen Mängel des Asylverfahrens vorhanden (vgl. nur VG Hannover, B. v.26.09.2016 – 13 B 5311/16 -, juris Rn. 23f. m. w. N.), so dass die Abschiebung dorthin an sich möglich wäre.
1.2. Allerdings ist die Annahme der Antragsgegnerin im Bescheid vom … September 2016, wonach die Schweiz gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, voraussichtlich falsch. Daher fehlt es nach jetzigem Stand folgerichtig auch am Vorliegen der Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 AsylG, da die Abschiebung in die Schweiz aus Rechtsgründen nicht durchgeführt werden kann.
Im Fall des Antragstellers ist voraussichtlich die Antragsgegnerin aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013 in Kraft getretene Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, also auch auf das am 14. Januar 2014 gestellte Schutzgesuch des Antragstellers.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Die Zuständigkeitskriterien kommen dabei gemäß Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO in der in dem Kapitel III genannten Rangfolge zur Anwendung.
Zwar ergibt sich hier grundsätzlich eine Zuständigkeit der Schweiz aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da der Antragsteller über die Schweiz in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Im Fall des Antragstellers kommt jedoch die gegenüber Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO vorrangige Zuständigkeitsbestimmung des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO zum Tragen.
Diese Vorschrift enthält besondere Zuständigkeitsbestimmungen für Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen. Nach der Begriffsdefinition in Art. 2 j) Dublin III-VO sind als unbegleitete Minderjährige Personen unter 18 Jahren zu verstehen sind, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden.
Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO bestimmt, dass bei unbegleiteten Minderjährigen der Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des Asylsuchenden rechtmäßig aufhält, für die Prüfung seines Asylantrags zuständig ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat.
Im Fall des Antragstellers sind die Voraussetzungen nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO erfüllt.
a) Derzeit ist davon auszugehen, dass der Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung unbegleiteter Minderjähriger im vorgenannten Sinne war (und immer noch ist).
Seinem eigenen Vortrag nach ist der Antragsteller am … 1999 geboren und war damit sowohl bei seiner Antragstellung in der Schweiz als auch bei seiner Antragstellung in Deutschland noch minderjährig. Bei seiner Ankunft im Bundesgebiet bzw. bei seinem ersten Kontakt mit Behördenvertretern hier hat er ausweislich der Niederschrift der Bundespolizeiinspektion … vom … Mai 2016 den … 1999 als sein Geburtsdatum angegeben. Es ist nicht ersichtlich, dass und warum dieses Geburtsdatum sicher falsch sein sollte. Daher ist dieses Datum zunächst zugrunde zu legen.
Die dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel geben weder Anlass, Grund noch auch nur nachvollziehbare Anhaltspunkte, an der Altersangabe des Antragstellers durchgreifende Zweifel zu hegen.
Aus der vorgelegten Behördenakte geht nicht nachvollziehbar hervor, auf welchen tatsächlichen Anhaltspunkten die von den Angaben des Antragstellers abweichende Altersfeststellung durch das Bundesamt beruht.
Aus dem vorgelegten Bundesamtsvorgang ergibt sich lediglich, dass erstens als Geburtsdatum des Antragstellers abwechselnd einerseits der … 1999, andererseits der … 1998 aufgenommen wurde. Woher das Datum … 1998 überhaupt stammt – wie oben ausgeführt ist der Antragsteller zunächst mit Geburtsdatum … 1999 erfasst und anschließend konsequenterweise auch als Minderjähriger behandelt worden -, ist nicht nachvollziehbar.
Zweitens ergibt sich aus dem Vorgang, dass das Jugendamt der Stadt … mit Schreiben vom 11. Juli 2016 dem Bundesamt mitgeteilt hat, dass der Antragsteller volljährig sei. Im Dunkeln bleibt aber, auf welchen tatsächlichen Feststellungen diese Angabe beruht. Das Bundesamt hat weder im Behördenvorgang dokumentiert, worauf diese Einschätzung beruhen soll noch, was ebenso möglich gewesen wäre, eigene Feststellungen getroffen bzw. treffen lassen. Das Gesetz hält hierfür sowohl im Aufenthaltsgesetz (§ 49 Abs. 2, 3 – 6 und 10 AufenthG) als auch im Sozialgesetzbuch Achtes Buch entsprechende Regelungen bereit. Ob hier von der Regelung in § 42f Abs. 1 Satz 1 Var. 2 SGB VIII Gebrauch gemacht wurde, kann weder aus den vorgelegten Behördenakten beantwortet werden noch hat das Bundesamt hierzu irgendetwas vorgetragen. Da das Gericht somit nicht einmal weiß, ob das vom Bundesamt offenbar zugrunde gelegte Alter des Antragstellers überhaupt auf einer sog. qualifizierten Inaugenscheinnahme beruht, kann offenbleiben, welcher Wert dieser beizumessen wäre, geschweige denn, was eine „qualifizierte Inaugenscheinnahme“ überhaupt sein soll.
Weiterhin ist auf die Vorschrift des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hinzuweisen. Danach hat das Jugendamt auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Ob das hier vom zuständigen Jugendamt veranlasst worden ist, ist ebenso vollkommen unklar; von einem Zweifelsfall und infolgedessen einer Untersuchungspflicht von Amts wegen dürfte nach Aktenlage jedenfalls auszugehen sein, aber auch dazu fehlt jegliche Angabe in den Behördenakten, ebenso wenig hat das Bundesamt hierzu Stellung genommen.
Weiterer Vortrag seitens der Antragsgegnerin zum Alter des Antragstellers und insbesondere dazu, worauf es beruhen soll, dass das Bundesamt vom Geburtsdatum … 1998 ausgeht, erfolgte bisher während des gerichtlichen Verfahrens nicht. Ob ein nicht aussagekräftiges bzw. nicht gesichertes Datum in z. B. Aufenthaltsgestattungen oder in Formulare u.ä. geschrieben wird, ist unerheblich.
Nach alledem ist aufgrund der dargelegten Umstände aktuell davon auszugehen, dass der Antragsteller minderjährig ist. Darüber hinaus ist auch aus jetziger Sicht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage davon auszugehen, dass diese Erfolg haben wird. Insofern könnte die Antragsgegnerin zwar noch reagieren, als sie beispielsweise die Unterlagen vorlegen könnte, die Aufschluss darüber geben, welche tatsächlichen Umstände das Jugendamt … dazu bewogen haben, den Antragsteller für volljährig zu halten. Oder die Antragsgegnerin könnte den Antragsteller zur Altersbestimmung ärztlich untersuchen lassen und das Ergebnis vorlegen. Bislang ist in diese Richtung allerdings nichts geschehen. Bleibt das so, wird auch in der Hauptsacheklage von der Minderjährigkeit des Antragstellers zum maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung auszugehen sein. Es ist nicht Sache des Gerichts, sondern des dafür zuständigen Bundesamts, bei Vorliegen eines Zweifelsfalles das Alter eines Asylantragstellers festzustellen. Erfolgt das nicht, mit der Folge, dass die Zweifel bestehen bleiben, gilt als Rechtsfolge, dass von einer Minderjährigkeit auszugehen ist. Der deutsche Gesetzgeber hat es unterlassen, im Rahmen der Regelung des § 42f SGB VIII über das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung eine Regelung dahingehend aufzunehmen, wie in den Fällen zu entscheiden ist, in denen das tatsächliche Alter auch nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten unklar bleibt. Diesem Fall steht der Fall gleich, dass die zuständigen Behörden es trotz in der Sache offensichtlicher Notwendigkeit versäumen, von bestehenden Erkenntnismöglichkeiten und den dazugehörigen Befugnissen Gebrauch zu machen; denn auch in diesem Fall bedarf es letztlich einer Regelung, wie damit umzugehen ist. Die Rechtsfolge der – bei bestehen bleibenden Zweifeln – Annahme der Minderjährigkeit ergibt sich auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Regelungen des SGB VIII; dort gilt nach den allgemeinen Grundsätzen der materiellen Beweis- bzw. Feststellungslast unter Berücksichtigung des anzuwendenden materiellen Rechts, dass bei Nichtauflösbarkeit bestehender Zweifel die Antragsgegnerin die Folgen der Nichterweislichkeit trägt. Denn der nationale Gesetzgeber ist insofern durch Art. 25 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU, die seit dem 21. Juli 2015 in Kraft ist, gebunden. Nach Satz 1 dieser Norm können die Mitgliedstaaten im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ärztliche Untersuchungen des Alters unbegleiteter Minderjähriger durchführen lassen, wenn aufgrund allgemeiner Aussagen oder anderer einschlägiger Hinweise Zweifel bezüglich des Alters des Antragstellers bestehen. Nach Satz 2 der Norm gehen die Mitgliedstaaten, wenn diese Zweifel bezüglich des Alters des Antragstellers danach fortbestehen, davon aus, dass der Antragsteller minderjährig ist. Die Anwendung dieser Regelung auf Fälle wie den vorliegenden ist auch angemessen, da es sich für das Bundesamt im Falle des Antragstellers geradezu aufdrängt, bei diesem durch eine ärztliche Untersuchung den Versuch zu unternehmen, sein Alter zu bestimmen.
b) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung hielt sich auch kein Familienangehöriger des Antragstellers rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates auf.
c) Liegen die Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO für eine Zuständigkeit nicht vor, so ist nach der subsidiären Regelung in Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat. Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat die Vorgängervorschrift zu Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO in einem Fall, in dem Minderjährige in mehreren Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt hatten, über die noch nicht entschieden war (konkurrierende Asylanträge), dahingehend ausgelegt, dass der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat (vgl. EuGH, U. v.06.06.2013 – C-648/11 -, juris). Dieser Entscheidung liegt zentral zugrunde, dass aufgrund von Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Minderjährigen, die in keinem EU-Mitgliedstaat Angehörige haben, besonderer Schutz zukommt. Dieser gebietet es, sie bei einer Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union grundsätzlich nicht in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu überstellen, weil – jedenfalls solange ein in einem anderen EU-Staat gestellter Asylantrag noch nicht beschieden wurde – regelmäßig der EU-Staat zuständiger Staat im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO ist, in dem er einen Asylantrag gestellt hat und sich tatsächlich aufhält, ohne dass es auf die vorherige Asylantragstellung in dem anderen EU-Staat ankommt (vgl. auch VG Trier, U. v.30.09.2013 – 5 K 987/13.TR -, juris Rn. 20). Diese Rechtsprechung ist auf Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO als Nachfolgevorschrift zu Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO übertragbar, da der Minderjährigenschutz durch die Neufassung der Dublin-Verordnung nicht eingeschränkt wurde.
d) Hiervon ausgehend obliegt die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers der Bundesrepublik Deutschland als dem Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller seinen Asylantrag gestellt hat und in dem er sich seitdem aufhält, ohne dass es hier auf die vorherige Antragstellung in der Schweiz ankommt. Denn es ist davon auszugehen, dass es dem Kindeswohl entspricht, dem Antragsteller einen raschen und effektiven Zugang zu dem Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und ihn nicht unbegleitet auf einen anderen Mitgliedstaat zu verweisen. Des Weiteren ist auch nicht ersichtlich, dass das Asylbegehren des Antragstellers in der Schweiz bereits abgelehnt bzw. überhaupt entschieden worden ist.
e) Der Zuständigkeit Deutschlands zur Prüfung des Asylantrags des Antragstellers steht auch nicht die Annahme des Wiederaufnahmeersuchens durch die Schweiz mit Schreiben vom 29. Juni 2016 entgegen. Die Annahme eines (Wieder-) Aufnahmeersuchens verpflichtet den ersuchten Mitgliedstaat zwar gemäß Art. 18 bzw. Art. 20 Abs. 1 d) Dublin III-VO zur (Wieder-) Aufnahme des Asylsuchenden, führt jedoch nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen nicht zu einem Zuständigkeitswechsel (vgl. BVerwG, U. v.16.11.2015 – 1 C 4/15 -, juris Rn. 21 ff.; EuGH, U. v.06.06.2013 – C-648/11 -, juris).
f) Die Zustimmung der Schweiz beinhaltet schließlich auch keine zuständigkeitsbegründende Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO. Der Dublin III-VO lässt sich eine Unterscheidung zwischen den (originären) Zuständigkeitskriterien im Kapitel III, dem (fakultativen) Selbsteintrittsrecht der Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 2 und Art. 17 Dublin III-VO und dem in Kapitel V geregelten (Wieder-) Aufnahmeverfahren entnehmen. Mit der ausdrücklich auf Art. 18 Abs. 1 b) Dublin III-VO gestützten Annahme des Wiederaufnahmeersuchens hat die Schweiz vorliegend lediglich ihre Bereitschaft erklärt, den Antragsteller wieder aufzunehmen. Eine Entscheidung, den Asylantrag des Antragstellers – unabhängig von den in der Dublin III-VO niedergelegten Zuständigkeitskriterien – im Wege des Selbsteintritts zu prüfen, ist dem – ungeachtet der Frage, ob ein solcher Selbsteintritt überhaupt zulässig wäre – nicht zu entnehmen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte für eine konkludente Ausübung des Selbsteintrittsrechts vor. Hierfür genügen reine Verfahrenshandlungen regelmäßig nicht (vgl. BVerwG, U. v.16.11.2015 – 1 C 4/15 -, juris Rn. 23).
g) Der Antragsteller hat auch einen subjektiven Anspruch darauf, dass sein Asylantrag in Deutschland geprüft wird.
Der Unionsgesetzgeber hat zur zügigen Bearbeitung von Asylanträgen in der Dublin III-VO organisatorische Vorschriften für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats festgelegt. Diese sind individualschützend, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen. Ist dies der Fall, hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat und kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung des Bundesamts erfolgreich angreifen (vgl. BVerwG, U. v.16.11.2015 – 1 C 4/15 -, juris Rn. 24 ff.). Die Bestimmungen zur Zuständigkeit für Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen sind – im Gegensatz etwa zur Fristenregelung für die Stellung eines Aufnahmegesuchs (vgl. hierzu BVerwG, U. v.27.10.2015 – 1 C 32.14 -, juris Rn. 17 ff.) – individualschützend in diesem Sinne, da diese im Lichte des Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszulegen sind, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. EuGH, U. v.06.06.2013 – C-648/11 -, juris; BVerwG, U. v.16.11.2015 – 1 C 4/15 -, juris Rn. 24 ff.; VG München, U. v.28.07.2014 – M 11 K 14.30084 -, juris Rn. 20).
1.3. Darauf, dass die weitere Begründung des Bevollmächtigten des Antragstellers zu Art. 5 Dublin III-VO nicht trägt, da ein persönliches Gespräch ja durchgeführt wurde (zunächst am 22.06.2016) und nicht ersichtlich ist, warum es schädlich sein sollte, dass dieses Gespräch nicht beim Bundesamt, sondern bei der Regierung von Oberbayern geführt wurde, da auch letztere europarechtlich zweifelsohne dem Mitgliedstaat, von dem in Art. 5 Dublin III-VO die Rede ist, zugeordnet wird (abgesehen wurde der Antragsteller am 09.08.2016 auch vom Bundesamt persönlich angehört), kommt es aufgrund des oben Gesagten nicht mehr an.
3. Nach alledem ist dem Antrag stattzugeben. Die Kosten sind der Antragsgegnerin aufzuerlegen, § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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