Europarecht

Widerspruchsbescheid, Bescheid, Leistungen, Gemeinde, Widerruf, Zahlung, Anspruch, Wirksamkeit, Zuziehung, Erstattungsanspruch, Klage, Verfahren, Stundung, Kenntnis, Kosten des Verfahrens, Treu und Glauben, Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung

Aktenzeichen  RN 11 K 19.603

Datum:
29.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 53612
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Marktes … vom 24.02.2015 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamtes D. vom 18.02.2019 werden aufgehoben. Der Markt … wird verpflichtet, den durch die Klägerinnen bezahlten Erschließungsbeitrag in Höhe von 33.890,16 € an die Klägerinnen als Gesamtgläubigerinnen zurückzuerstatten. Der Rückzahlungsbetrag ist mit zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB jährlich seit 01.04.2019 zu verzinsen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.  

Gründe

Die Klage, über die mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und weitestgehend begründet. Der Bescheid des Marktes … vom 24.02.2015 und der Widerspruchsbescheid des Landratsamtes D. vom 18.02.2019 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Den Klägerinnen steht ein Anspruch auf Rückzahlung des von ihnen bezahlten Erschließungsbeitrags in Höhe von 33.890,16 € nebst Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit, d. h. seit 1.4.2019, zu. Soweit die Klägerinnen darüber hinaus eine Verzinsung des Rückzahlungsbetrages seit 10.7.2012 fordern wird, ist die Klage unbegründet.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Rückzahlungsanspruch der Klägerinnen ist der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch.
Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch, der als eigenständiges Rechtsinstitut des allgemeinen Verwaltungsrechts in Rechtsprechung und Literatur anerkannt ist und dessen Anspruchsvoraussetzungen denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs (§§ 812 ff. Bürgerliches Gesetzbuch – BGB -) entsprechen, dient der Rückabwicklung ohne Rechtsgrund erbrachter Leistungen oder sonstiger rechtsgrundloser Vermögensverschiebungen (vgl. BVerwG, U.v. 12.3.1985 – 7 C 48/82 – BVerwGE 71, 85 ff.; BayVGH, U.v. 9.3.1999 – 9 B 96.3716 – juris; U.v. 1.2.2006 – 14 B 00.2202 – BayVBl 2007, 403 ff.).
Vorliegend haben die Klägerinnen den Erschließungsbeitrag in Höhe von 33.890,16 € ohne Rechtsgrund erbracht, weil die Forderung des Beklagten aus den Erschließungsbeitragsbescheiden vom 2.11.2005 bereits durch Zahlungsverjährung erloschen war (Art. 13 Abs. 1 Nr. 5a KAG i.V. mit §§ 228 bis 232 AO).
Ansprüche aus dem Beitragsschuldverhältnis unterliegen einer besonderen Zahlungsverjährung. Die Verjährungsfrist beträgt fünf Jahre (§ 228 AO). Sie beginnt mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem der Anspruch erstmals fällig geworden ist (§ 229 Abs. 1 Satz 1 AO), vorliegend also mit Ablauf des Jahres 2005. Geendet hat die Zahlungsverjährungsfrist mit Ablauf des Jahres 2010.
Ein Hinausschieben der Fälligkeit des festgesetzten Erschließungsbeitrags und damit ein Hinausschieben des Beginns der Zahlungsverjährungsfrist bzw. eine Unterbrechung der Zahlungsverjährung durch eine Stundung gemäß § 231 Abs. 1 Nr. 1 AO i.V.m. Art. 13 Abs. 1 Nr. 5a KAG ist nicht erfolgt.
Zwar wurden mit Bescheiden vom 2.11.2005 die festgesetzten Erschließungsbeiträge zugleich gemäß § 135 Abs. 4 BauGB gestundet, solange das Grundstück von den Klägerinnen landwirtschaftlich genutzt wird und in ihrem Eigentum ist. Diese Stundung hat jedoch von Anfang an keine Wirkung entfaltet.
Wie die Klägerinnen durch Vorlage des Landpachtvertrages vom 16.1.1997 nachgewiesen haben, waren die streitgegenständlichen Grundstücke FlNrn. 7…8 und 7…9 bereits seit 1.1.1997 an den Cousin der Klägerinnen, Herrn Z. …, verpachtet. Die Grundstücke wurden damit zum Zeitpunkt der mit Bescheiden vom 2.11.2005 gewährten Stundung nicht mehr durch die Klägerinnen landwirtschaftlich genutzt. Die Klägerinnen haben zu diesem Zeitpunkt keine Landwirtschaft mehr betrieben. Die Voraussetzungen für eine Stundung gemäß § 135 Abs. 4 BauGB lagen damit nicht vor. Dies wird auch vom Beklagten nicht in Frage gestellt. Der Beklagte hat vielmehr selbst, nachdem er von dem Umstand der Verpachtung der Grundstücke erfahren hatte, die Stundungen mit Bescheiden vom 5.6.2012 widerrufen und zur Begründung ausgeführt, aufgrund der Verpachtung der Grundstücke seien die Voraussetzungen für eine Stundung des Erschließungsbeitrags nach § 135 Abs. 4 BauGB nicht gegeben.
Die Stundungsbescheide haben damit (automatisch) von Anfang an keine Wirkungen entfaltet. Eines besonderen Aufhebungsbescheides bzw. einer Rücknahme oder eines Widerrufs der Stundungen bedarf es dazu nicht. Es kommt allein darauf an, dass die Stundungsvoraussetzungen objektiv nicht vorlagen (vgl. BayVGH, U.v. 25.01.2013 – 6 B 12.355 – juris Rn. 21; Driehaus in Berliner Kommentar, BauGB, § 135 Rn. 27; ders. in Erschließungs- und Ausbaubeiträge, 9. Aufl. 2012, § 26 Rn. 30; Vogel in Brügelmann, BauGB, § 135 Rn. 44; Rhein/ Eschenbach, Stadt und Gemeinde 1991, 223/226). Dies folgt aus dem Regelungsgehalt der Stundungsbescheide, wonach die Erschließungsbeiträge gestundet sind, solange das Grundstück von der Klägerinnen landwirtschaftlich genutzt wird und in ihrem Eigentum ist. Die Stundungsregelung sollte also nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur solange gelten, wie die Grundstücke FlNrn. 7…8 und 7…9 von den Klägerinnen landwirtschaftlich genutzt werden, nicht aber darüber hinaus. In einem solchen Fall büßt der Stundungsbescheid seine Wirksamkeit automatisch in dem Zeitpunkt ein, in dem diese Voraussetzung wegfällt (BayVGH, U.v. 25.01.2013 – 6 B 12.355 – juris Rn. 21).
Vorliegend fehlte es bereits von Anfang an am Vorliegen dieser Voraussetzung. Die Stundungsbescheide entfalteten demnach von Anfang an keine Wirkungen, so dass der Beginn der Zahlungsverjährungsfrist nicht aufgrund der Stundung hinausgeschoben wurde und auch keine Unterbrechung der Zahlungsverjährungsfrist erfolgte. Zahlungsverjährung ist damit mit Ablauf des 31.12.2010 eingetreten.
Der Eintritt der Zahlungsverjährung hat nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 a) KAG i.V. m. § 232 AO zur Folge, dass den Ansprüchen des Beklagten aus den Erschließungsbeitragsbescheiden vom 2.11.2005 nicht lediglich – wie im bürgerlichen Recht – eine Einrede entgegensteht, sondern die Ansprüche des Beklagten erlöschen [sog. Extinktionsverjährung] (vgl. Grziwotz/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 135 Rn. 1a und 1b; BayVGH, U.v. 25.1.2013 – 6 B 12.355 – juris Rn. 19).
Im Zeitpunkt der Zahlung der Erschließungsbeiträge durch die Klägerinnen im Jahre 2012 waren die Ansprüche des Beklagten aus den Erschließungsbeitragsbescheiden vom 2.11.2005 demnach bereits erloschen. Die Zahlung der Klägerinnen erfolgte ohne Rechtsgrund.
Der Beklagte kann dem Verlangen der Klägerinnen auf Rückzahlung der rechtsgrundlos erbrachten Leistung auch nicht den Rechtsgedanken des § 814 1. Alt. BGB entgegenhalten, wonach das zum Zweck der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete nicht zurückgefordert werden kann, wenn der Leistende gewusst hat, dass er zur Leistung nicht verpflichtet ist.
Zum einen sind bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 814 1. Alt. BGB nicht erfüllt. Die Kondiktionssperre des § 814 1. Alt. BGB greift erst dann ein, wenn der Leistende nicht nur die Umstände kennt, aus denen sich ergibt, dass er nicht zur Leistungserbringung verpflichtet ist, sondern auch positiv weiß, dass er nach der Rechtslage nichts schuldet (BayVGH, B.v. 15.7.2020 – 3 ZB 19.553 – juris Rn. 18; vgl. auch BGH, U.v. 28.11.1990 – XII ZR 130/89 – juris Rn. 25; BGH, U.v. 20.7.2005 – VIII ZR 199/04 – juris Rn. 20). Vorliegend haben die Klägerinnen vorgetragen, dass sie keine Kenntnis davon hatten, dass ein Stundungsbescheid automatisch seine Wirkung verliert, wenn die Stundungsvoraussetzungen wegfallen. Dies ist auch glaubhaft, da das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, in dem diese Rechtslage in den Entscheidungsgründen erstmals erläutert wurde, vom 25.1.2013 datiert. Die Zahlung der Klägerinnen erfolgte aber bereits zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich im Jahre 2012. Sie konnten damit im Zeitpunkt der Zahlung noch keine Kenntnis von der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs haben. Auch sonst sind keine Umstände ersichtlich oder vom Beklagten vorgetragen, aus denen sich ergäbe, dass die Klägerinnen positive Kenntnis davon hatten, dass sie zur Leistungserbringung nicht verpflichtet waren.
Zum anderen ist § 814 1. Alt. BGB im öffentlichen Recht ohnehin nicht anwendbar (so BayVGH, B.v. 15.7.2020 – 3 ZB 19.553 – juris Rn. 19). Im öffentlichen Recht übernimmt der Vertrauensschutz die Schutzfunktion der §§ 818 Abs. 3, 819 und 814 1. Alt. BGB. Der bürgerlich-rechtliche Bereicherungsanspruch nach §§ 812 ff. BGB unterliegt im besonderen Maße dem Grundsatz von Treu und Glauben. Diesem Anspruch gegenüber ist daher die Einwendung unzulässiger Rechtsausübung möglich. Für den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gilt entsprechendes. Auch dieser Anspruch ist durch Treu und Glauben begrenzt. Ein außerhalb dieser Grenzen liegender Erstattungsanspruch ist in Wahrheit keine Ausübung eines „Rechts“, sondern Rechtsüberschreitung und daher unzulässig (BayVGH, B.v. 15.7.2020 – 3 ZB 19.553 – jursi Rn. 20; vgl. auch BVerwG, U.v. 18.1.2001 – 3 C 7.00 – juris Rn. 27; BayVGH, U.v. 11.11.1998 – 6 B 95.2137 – juris Rn. 48).
Vorliegend verstößt das Rückzahlungsverlangen der Klägerinnen aber nicht gegen Treu und Glauben. Ein treuwidriges Verhalten der Klägerinnen ist nicht ersichtlich. Die Klägerinnen haben die Stundung nicht beantragt, nach Aktenlage ist die Stundung vielmehr von Amts wegen gewährt worden. Die Klägerinnen haben sich demnach entgegen der Meinung des Beklagten die Stundung nicht etwa durch falsche Angaben erschlichen. Auch haben sie nicht gegen die in den Bescheiden vom 2.11.2005 geregelte Pflicht verstoßen, für die Stundung maßgebliche Änderungen dem Beklagten mitzuteilen. Die Verhältnisse, die im Zeitpunkt der Gewährung der Stundung bestanden, haben sich nachträglich nicht geändert. Die Verpachtung der Grundstücke FlNrn. 7…8 und 7…9 war schon vor Gewährung der Stundung erfolgt. Anlass zur Mitteilung einer Änderung der Verhältnisse bestand für die Klägerinnen daher nicht. Auf die Aufforderung des Beklagten vom 5.3.2012 hin, mitzuteilen, ob die Stundungsvoraussetzungen noch vorliegen, haben die Klägerinnen wahrheitsgemäße Angaben gemacht. Ein treuwidriges Verhalten der Klägerinnen ist daher nicht ersichtlich.
Den Klägerinnen steht nach alledem ein Anspruch auf Rückzahlung der gezahlten Erschließungsbeiträge in Höhe von 33.890,16 € zu.
Dieser Betrag ist mit zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB jährlich seit Eintritt der Rechtshängigkeit, d. h. seit dem 1.4.2019, zu verzinsen, Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) bb) und dd) KAG i.V.m. § 236 Abs. 1, § 238 AO. Die Regelung über die Höhe der Prozesszinsen in Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) dd) KAG i.V.m. § 238 AO ist gegenüber § 291 BGB die speziellere Regelung (vgl. BayVGH, U.v. 29.9.2008 – 6 BV 05.3193 – juris Rn. 82; BVerwG, B.v. 21.1.2010 – 9 B 66/08 – Juris Rn. 14).
Soweit die Klägerinnen darüber hinaus eine Verzinsung des Rückzahlungsbetrages seit 10.7.2012 begehren, ist ihre Klage unbegründet. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 b) aa) KAG i.V.m. § 233 Abs. 1 Satz 1 AO werden Ansprüche aus dem Abgabenverhältnis nur verzinst, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Eine Verzinsung von rechtsgrundlos erbrachten Zahlungen vor Rechtshängigkeit der Leistungsklage ist aber in den Regelungen der Abgabenordnung nicht vorgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Kosten waren dem Beklagten ganz aufzuerlegen, da die Klägerinnen nur zu einem geringen Teil (nämlich nur hinsichtlich der begehrten Verzinsung des Rückzahlungsbetrages für den Zeitraum vom 10.7.2012 bis 31.3.2019) unterliegen.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war angesichts der schwierigen Sach- und Rechtslage für notwendig zu erklären (vgl. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO). Von den Klägerinnen konnte nicht erwartet werden, das Widerspruchsverfahren ohne Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zu führen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben