Europarecht

(Zur umsatzsteuerrechtlichen Behandlung von Gutachtertätigkeiten im Auftrag des MDK (Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil Finanzamt D vom 08.10.2020 – C-657/19))

Aktenzeichen  XI R 30/20 (XI R 11/17), XI R 30/20, XI R 11/17

Datum:
24.2.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BFH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BFH:2021:U.240221.XIR30.20.0
Normen:
§ 4 Nr 14 UStG 2005
§ 4 Nr 15a UStG 2005
§ 4 Nr 16 UStG 2005
Art 132 Abs 1 Buchst g EGRL 112/2006
§ 4 Nr 15 UStG 2005
UStG VZ 2012
UStG VZ 2013
UStG VZ 2014
Spruchkörper:
11. Senat

Leitsatz

1. Das Leistungsmerkmal “eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden” setzt voraus, dass die betreffenden Lieferungen bzw. Dienstleistungen jedenfalls für die der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze unerlässlich sind.
2. Dienstleistungen, die die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit betreffen, müssen nicht unmittelbar an die pflegebedürftigen Personen erbracht werden, um als eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden angesehen werden zu können (Änderung der Rechtsprechung).
3. Die Anerkennung eines Gutachters als Einrichtung mit sozialem Charakter folgt nicht aus einer bloß mittelbaren Erstattung der Kosten für die Gutachtertätigkeit über den MDK, ohne dass dies auf einer expliziten Entscheidung der Pflegekasse beruht oder der Gutachter die Möglichkeit genutzt hätte, in Bezug auf diese Tätigkeit mit der Pflegekasse einen entsprechenden Vertrag zu schließen (Änderung der Rechtsprechung).

Verfahrensgang

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 9. Juni 2016, Az: 11 K 15/16, Urteilvorgehend BFH, 10. April 2019, Az: XI R 11/17, EuGH-Vorlagevorgehend EuGH, 8. Oktober 2020, Az: C-657/19, Urteil

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 09.06.2016 – 11 K 15/16 aufgehoben.
Die Klage wegen Umsatzsteuer 2012 und 2013 wird abgewiesen.
Wegen Umsatzsteuer 2014 wird die Sache an das Niedersächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des gesamten Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.
1
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist ausgebildete Krankenschwester mit medizinischer Grundausbildung und akademischer Ausbildung im Bereich der Pflegewissenschaft sowie einer Weiterbildung in Qualitätsmanagement im Bereich der Pflege. Zu ihrem Unternehmen gehörte auch eine steuerpflichtige Unterrichtstätigkeit als Lehrerin für Pflege.
2
Die Klägerin erstellte in den Jahren 2012 bis 2014 (Streitjahre) für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Niedersachsen Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten. Die Leistungen rechnete der MDK monatlich ihr gegenüber ab, wobei er keine Umsatzsteuer auswies. Die Umsätze aus der Gutachtertätigkeit erklärte die Klägerin als steuerfrei, nahm jedoch den Vorsteuerabzug aus allen Eingangsleistungen ungekürzt in Anspruch.
3
Nach einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung (Bericht vom 23.01.2015) gelangte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) zu der Auffassung, die Gutachtertätigkeit sei weder nach nationalem noch nach Unionsrecht umsatzsteuerfrei. Das FA unterwarf die betreffenden, bislang als steuerfrei erklärten Umsätze der Umsatzsteuer, wobei es die Umsatzsteuer jeweils aus den erklärten Umsätzen herausrechnete, und setzte die Umsatzsteuer für 2012 und 2013 sowie die Vorauszahlungen für das 1. bis 3. Quartal 2014 mit Bescheiden vom 03.02.2015 entsprechend fest. Der Einspruch der Klägerin blieb in der Einspruchsentscheidung vom 18.12.2015 ohne Erfolg.
4
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 09.06.2016 – 11 K 15/16 zum überwiegenden Teil statt. Es führte im Wesentlichen aus, die Erstellung von Pflegegutachten sei als “eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistung” unter unmittelbarer Berufung auf das Unionsrecht steuerfrei. Mit der seit November 2012 gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit der Pflegekassen, unabhängige Gutachter mit der Begutachtung der Sozialversicherten zu beauftragen, sei die Klägerin aufgrund der Beauftragung durch den MDK auch als Einrichtung mit sozialem Charakter staatlich anerkannt.
5
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es macht im Wesentlichen geltend, dass sich aus den nationalen Befreiungsvorschriften keine Steuerfreiheit der konkreten Gutachterleistungen ergebe. Da diese Regelungen unionsrechtskonform seien, sei ein unmittelbares Berufen auf Unionsrecht nicht möglich. Im Übrigen sei nicht festgestellt, dass die Pflegekasse die Kosten für die gutachterliche Tätigkeit der Klägerin wissentlich übernommen habe.
6
Die Klägerin verteidigt die Vorentscheidung und führt aus, ihre Tätigkeit sei nach § 4 Nr. 15a des Umsatzsteuergesetzes i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2009 vom 19.12.2008 (BGBl I 2008, 2794) –UStG– i.V.m. § 18 Abs. 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) i.d.F. des Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung vom 23.10.2012 (BGBl I 2012, 2246) ab November 2012 steuerfrei; die Regelung setze europäisches Recht um. Sie, die Klägerin, sei als Einrichtung mit sozialem Charakter i.S. des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) anzusehen, die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen erbringt.
7
Nach Ergehen der mit der Revision angefochtenen Vorentscheidung hat das FA am 02.03.2017 den Umsatzsteuerjahresbescheid für 2014 erlassen.
8
Mit Beschluss vom 10.04.2019 – XI R 11/17 (BFHE 264, 478, BStBl II 2019, 683) hat der erkennende Senat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
   
“1. Liegt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein Steuerpflichtiger im Auftrag des MDK Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten erstellt, eine Tätigkeit vor, die dem Anwendungsbereich des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g [MwStSystRL] unterfällt?
   
2. Falls die Frage 1 bejaht wird:
   
a) Reicht es für die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g [MwStSystRL] aus, dass dieser als Subunternehmer im Auftrag einer Einrichtung, die nach nationalem Recht als soziale Einrichtung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g [MwStSystRL] anerkannt ist, Leistungen erbringt?
   
b) Falls die Frage 2a) verneint wird: Ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die pauschale Übernahme der Kosten einer anerkannten Einrichtung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g [MwStSystRL] durch die Kranken- und Pflegekassen ausreichend dafür, dass auch ein Subunternehmer dieser Einrichtung als eine anerkannte Einrichtung zu beurteilen ist?
   
c) Falls die Fragen 2a) und 2b) verneint werden: Darf der Mitgliedstaat die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter davon abhängig machen, dass der Steuerpflichtige einen Vertrag mit einem Träger der sozialen Sicherheit oder Sozialfürsorge tatsächlich abgeschlossen hat, oder reicht es für eine Anerkennung aus, dass nach nationalem Recht ein Vertrag abgeschlossen werden könnte?”
9
Der EuGH hat mit seinem Urteil Finanzamt D vom 08.10.2020 – C-657/19 (EU:C:2020:811) wie folgt geantwortet:
   
“Art. 132 Abs. 1 Buchst. g [MwStSystRL] ist dahin auszulegen, dass- die durch einen unabhängigen Gutachter im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse erfolgende Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit, die von dieser Pflegekasse zur Ermittlung des Umfangs etwaiger Ansprüche ihrer Versicherten auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verwendet werden, eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung darstellt, soweit sie für die sachgerechte Bewirkung der Umsätze in diesem Bereich unerlässlich ist;
  
– diese Vorschrift dem nicht entgegensteht, dass diesem Gutachter die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter verwehrt wird, auch wenn er erstens seine in der Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestehenden Leistungen als Subunternehmer im Auftrag des genannten Medizinischen Dienstes erbringt, der als eine solche Einrichtung anerkannt worden ist, zweitens die Kosten der Erstellung dieser Gutachten indirekt und pauschal von der betreffenden Pflegekasse getragen werden und drittens der genannte Gutachter nach innerstaatlichem Recht die Möglichkeit hat, unmittelbar mit dieser Kasse einen Vertrag über die Erstellung der Gutachten zu schließen, um in den Genuss dieser Anerkennung zu gelangen, von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch gemacht hat.”
10
Nach Wiederaufnahme des Revisionsverfahrens sieht sich das FA durch das EuGH-Urteil in seiner Rechtsauffassung bestätigt.
11
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
12
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision wegen Umsatzsteuer 2012 und 2013 als unbegründet zurückzuweisen und den Umsatzsteuerbescheid für 2014 vom 02.03.2017 dahingehend zu ändern, dass ihre gutachterlichen Leistungen als steuerfrei erfasst werden,
hilfsweise, dass die betreffende Bemessungsgrundlage durch Herausrechnen der Umsatzsteuer ermittelt wird.
13
Sie hält an ihrem Revisionsvorbringen fest und sieht es für ihre Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter nicht als zwingend an, dass zwischen ihr und der jeweiligen Pflegekasse ein Vertrag geschlossen werde. Hilfsweise macht sie geltend, dass im Umsatzsteuerbescheid für 2014 vom 02.03.2017 die Bemessungsgrundlage der vom FA als steuerpflichtig angesehenen Umsätze unzutreffend ermittelt worden sei.


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