Familienrecht

Abschiebehaft zur Sicherung einer Rücküberstellung: Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde gegen eine Haftanordnung trotz fehlender Angabe einer ladungsfähigen Anschrift des betroffenen Ausländers; Begründetheit bei Haftvollzug in einer nordrhein-westfälischen Justizvollzugsanstalt

Aktenzeichen  V ZB 73/15

Datum:
21.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2016:210416BVZB73.15.0
Normen:
§ 62a Abs 1 AufenthG
Art 16 Abs 1 S 1 EGRL 115/2008
Art 1 EGV 343/2003
Art 1ff EGV 343/2003
Art 1 EUV 604/2013
Art 1ff EUV 604/2013
§ 62 Abs 1 FamFG
Spruchkörper:
5. Zivilsenat

Verfahrensgang

vorgehend LG Kleve, 29. April 2015, Az: 4 T 491/14, Beschlussvorgehend AG Kleve, 11. Juni 2014, Az: 22 XIV 27/14 B

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Kleve vom 29. April 2015 aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die mit Beschluss des Amtsgerichts Kleve vom 11. Juni 2014 angeordnete Haft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Kleve auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

I.
1
Der Betroffene, ein malischer Staatsangehöriger, reiste am 1. August 2013 ohne gültige Einreisedokumente nach Deutschland ein. Dort stellte er am 15. Oktober 2013 einen Antrag auf Asyl, den das zuständige Bundesamt mit Bescheid vom 3. Februar 2014 zurückwies, weil er schon in Italien Asyl beantragt hatte. Ein Antrag des Betroffenen nach § 80 Abs. 5 VwGO hatte keinen Erfolg. Ein Versuch, den Betroffenen an Italien rückzuüberstellen, scheiterte an dessen Gegenwehr.
2
Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 11. Juni 2014 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung von dessen Rücküberstellung für die Dauer von acht Wochen angeordnet. Die – nach seiner Entlassung aus der Haft am 25. Juli 2014 auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichtete – Beschwerde hat das Landgericht als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.
II.
3
Das Beschwerdegericht hält den Feststellungsantrag und damit auch die Beschwerde des Betroffenen für unzulässig. Er sei mangels Angaben, die eine Identifizierung des Betroffenen erlaubten, insbesondere mangels Angabe des Aufenthalts des Betroffenen, nicht hinreichend bestimmt. Ferner fehle das Feststellungsinteresse. Dieses sei zwar regelmäßig bei Grundrechtseingriffen gegeben. Es könne aber ausnahmsweise fehlen, wenn sich der Betroffene nicht rechtstreu verhalte. So liege es hier. Der Betroffene habe sich unter Verstoß gegen die Meldevorschriften nicht ordnungsgemäß angemeldet.
III.
4
Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
5
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist statthaft und auch sonst zulässig. Zwar hat die Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen dessen aktuelle Anschrift nicht angegeben. Das änderte aber an der Zulässigkeit des Rechtsmittels nur etwas, wenn der geordnete Ablauf des Rechtsmittelverfahrens ohne Angabe der ladungsfähigen Anschrift gefährdet wäre oder die fehlende Angabe der ladungsfähigen Anschrift Rückschlüsse auf ein rechtsmissbräuchliches Verhalten des Betroffenen erlaubte (Senat, Beschlüsse vom 20. November 2014 – V ZB 54/14 InfAuslR 2015, 104 Rn. 5 u. vom 18. Februar 2016 – V ZB 74/15, juris Rn. 5). Diese Ausnahmetatbestände liegen hier nicht vor. Der geordnete Ablauf des Rechtsmittelverfahrens wird durch die fehlende Angabe der Anschrift des Betroffenen nicht beeinträchtigt. Dass und aus welchen Gründen sich der Betroffene mit der Stellung des Antrags rechtsmissbräuchlich verhalten würde, ist nicht erkennbar.
6
2. Das Rechtsmittel ist begründet.
7
a) Die Beschwerde des Betroffenen ist statthaft und auch sonst zulässig. Das Beschwerdeverfahren hat sich zwar mit der Entlassung des Betroffenen aus der Haft am 25. Juli 2014 in der Hauptsache erledigt. Es konnte aber nach § 62 Abs. 1 FamFG mit dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung fortgesetzt werden. Ein solcher Antrag soll dem Betroffenen eine Möglichkeit geben, sich auch nach ihrer Beendigung gegen die unberechtigte Freiheitsentziehung und den in ihr enthaltenen Vorwurf zur Wehr zu setzen (Senat, Beschluss vom 31. Januar 2013 – V ZB 22/12, BGHZ 196, 118 Rn. 12). Dieses Interesse ist auch bei einem späteren rechtswidrigen Verhalten des Betroffenen anzuerkennen (Senat, Beschluss vom 14. Januar 2016 – V ZB 174/14, juris Rn. 6). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Beschluss des Senats vom 18. Februar 2016 in einer gleich gelagerten Sache Bezug genommen (Beschluss vom 18. Februar 2016 – V ZB 74/15, juris Rn. 13 f.).
8
b) Die Beschwerde ist auch begründet.
9
aa) Zur sachlichen Bescheidung der Beschwerde ist der Senat in der Lage. Das Beschwerdegericht hat sich zwar, da es die Beschwerde als unzulässig angesehen hat, nicht inhaltlich mit der Haftanordnung befasst. Die Endentscheidung in der Sache erfordert aber keine zusätzlichen Feststellungen.
10
bb) Die Haftanordnung war schon deshalb rechtswidrig, weil abzusehen war, dass die Haft in der Justizvollzugsanstalt Büren und damit unter Verletzung der im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG auszulegenden Vorschrift des § 62a Abs. 1 AufenthG vollzogen werden würde (vgl. näher Senat, Beschluss vom 25. Juli 2014 – V ZB 137/14, FGPrax 2014, 230 Rn. 7 bis 10). Diese Richtlinie ist auf die Haft zur Sicherung von Rücküberstellungen sowohl nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003 (ABl. Nr. L 50 S. 1 – sogenannte Dublin-II-Verordnung) als auch nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (ABl. Nr. L 180 S. 31 – sogenannte Dublin-III-Verordnung) anzuwenden (Senat, Beschlüsse vom 20. November 2014 – V ZB 54/14, InfAuslR 2015, 104 Rn. 8 für Dublin-II-Verordnung und vom 3. März 2015 – V ZB 108/14, juris Rn. 1 für Dublin-III-Verordnung). Seine richtlinienwidrige Praxis hat das Land Nordrhein-Westfalen erst mit Runderlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom 25. Juli 2015 (15-39.16.04-2-13-339(2604), veröffentlicht im Sammelblatt Nordrhein-Westfalen) aufgegeben.
IV.
11
Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 EMRK. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 36 Abs. 3 GNotKG.
Stresemann                           Schmidt-Räntsch                                Brückner
                         Göbel                                        Haberkamp


Ähnliche Artikel


Nach oben