Familienrecht

Betreuungssache: Vorführung des Betroffenen zur persönlichen Anhörung im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung; Unverhältnismäßigkeit der Vorführung

Aktenzeichen  XII ZB 215/21

Datum:
3.11.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:031121BXIIZB215.21.0
Normen:
§ 26 FamFG
§ 34 Abs 3 FamFG
§ 278 Abs 5 FamFG
§ 278 Abs 6 FamFG
§ 278 Abs 7 FamFG
Spruchkörper:
12. Zivilsenat

Leitsatz

1. Bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn alle zwanglosen Möglichkeiten, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, vergeblich ausgeschöpft sind und die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 24. Februar 2021 – XII ZB 503/20, FamRZ 2021, 795).
2. Bei der Frage, ob die Vorführung des Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ausnahmsweise unverhältnismäßig sind, ist insbesondere die Bedeutung des Verfahrensgegenstands in den Blick zu nehmen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 12. Oktober 2016 – XII ZB 246/16, FamRZ 2017, 142).

Verfahrensgang

vorgehend LG Berlin, 19. April 2021, Az: 83 T 122/19vorgehend AG Schöneberg, 16. April 2019, Az: 53 XVII V 108/18

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 83. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 19. April 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Wert: 5.000 €

Gründe

I.
1
Für die 43jährige Betroffene hat das Amtsgericht ein Betreuungsverfahren eingeleitet, nachdem ihre ehemalige Vermieterin angezeigt hatte, dass die Betroffene einem Asylbewerber 180.000 € geschenkt habe und dadurch selbst „zum Sozialfall“ geworden sei. Die Betroffene bestätigte diese Angaben schriftlich, bat selbst um die Einrichtung einer Betreuung und reichte ein hausärztliches Attest zu den Akten, wonach sie wegen einer bipolaren affektiven Störung mit gemischter Symptomatik sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung geschäftsunfähig sei.
2
Versuche der Betreuungsbehörde, einen Kontakt zu der Betroffenen herzustellen, sind in der Folgezeit fehlgeschlagen. Nachdem die Betroffene auch von der gerichtlich beauftragten Sachverständigen zweimal bei angekündigten Hausbesuchen nicht angetroffen worden war, hat das Amtsgericht das Verfahren mit Beschluss vom 16. April 2019 eingestellt.
3
Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Amtsgericht im Abhilfeverfahren die Sachverständige um einen erneuten Begutachtungsversuch gebeten, der jedoch erfolglos geblieben ist, weil die Betroffene bei einem ersten, durch ihren „Bevollmächtigten“ vereinbarten Untersuchungstermin nicht angetroffen werden konnte, und ein weiterer vereinbarter Termin zwei Tage vorher mit der Begründung abgesagt worden ist, die Betroffene sei für zwei Wochen in die Türkei verreist.
4
Das Landgericht hat den sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirksamts zum neuen Gutachter bestellt. Zum vereinbarten Termin in der Dienststelle ist die Betroffene nicht erschienen. Bei einem anschließend angekündigten Hausbesuch ist sie angetroffen worden. Hierbei sind keine psychiatrischen Symptome erkennbar gewesen und hat sie auf den Gutachter psychisch gesund gewirkt. Als kurz nach dem Beginn der Untersuchung und Befragung Handwerker erschienen sind, hat die Betroffene keine weiteren Auskünfte mehr geben wollen, so dass über ihre Wünsche bezüglich einer Betreuung nicht weiter gesprochen werden konnte.
5
Sodann hat das Landgericht die Betroffene zur persönlichen Anhörung geladen und darauf hingewiesen, dass das Beschwerdeverfahren auch ohne die persönliche Anhörung beendet werden könne, wenn sie unentschuldigt in dem Termin ausbleibe (§ 34 Abs. 3 FamFG). Nachdem die Betroffene zum Termin nicht erschienen ist und auch keine Entschuldung vorgebracht hat, hat das Landgericht ihre Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
6
Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft, obwohl vorliegend die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 519/13 – FamRZ 2014, 652 Rn. 8 mwN).
7
Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde als verfahrensfehlerhaft, dass das Landgericht unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 26 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen entschieden hat.
8
1. Zwar ordnet § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG eine persönliche Anhörung nur vor der Bestellung eines Betreuers für den Betroffenen an. Damit ist aber nicht die Aussage verbunden, dass es einer Anhörung dann, wenn es nicht zur Betreuerbestellung kommt, generell nicht bedarf. Die persönliche Anhörung dient nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. § 34 Abs. 1 Nr. 1 FamFG), sondern hat – wie sich auch aus § 278 Abs. 1 Satz 2 FamFG ergibt – vor allem den Zweck, dem Gericht einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Ihr kommt damit auch in den Fällen, in denen sie nicht durch Gesetz vorgeschrieben ist (§ 34 Abs. 1 Nr. 2 FamFG), eine zentrale Stellung im Rahmen der gemäß § 26 FamFG in einem Betreuungsverfahren von Amts wegen durchzuführenden Ermittlungen zu. Dies gilt auch bei einem Einverständnis des Betroffenen mit der Betreuungserrichtung. Wird diese ohne die erforderlichen Ermittlungen, zu denen regelmäßig auch eine persönliche Anhörung gehören wird, abgelehnt, so wird dem Betroffenen der ihm durch das Betreuungsrecht gewährleistete Erwachsenenschutz ohne ausreichende Grundlage entzogen (Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 519/13 – FamRZ 2014, 652 Rn. 15 mwN).
9
2. Über Art und Umfang dieser Ermittlungen entscheidet zwar grundsätzlich der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen. Auch kann das Betreuungsgericht selbst im Anwendungsbereich von § 278 FamFG in bestimmten Fallkonstellationen das Verfahren nach § 34 Abs. 3 FamFG ohne persönliche Anhörung des Betroffenen beenden. Das Rechtsbeschwerdegericht hat jedoch unter anderem nachzuprüfen, ob das Beschwerdegericht die Grenzen seines Ermessens eingehalten hat, ferner, ob es von zutreffenden Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist (Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 519/13 – FamRZ 2014, 652 Rn. 15 mwN).
10
3. Gemessen daran kann das Verfahren des Beschwerdegerichts keinen Bestand haben.
11
a) Zwar hat das Landgericht einen Termin zur Anhörung im Gerichtsgebäude bestimmt. Es hat jedoch nach dem unentschuldigten Ausbleiben der Betroffenen bereits keinen Versuch unternommen, sie nach § 278 Abs. 1 Satz 3 FamFG in ihrer üblichen Umgebung anzuhören. Damit hat es nicht alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft, die Betroffene anzuhören und sich von ihr einen persönlichen Eindruck zu verschaffen.
12
b) Auch hält die Entscheidung, von einer persönlichen Anhörung nach § 34 Abs. 3 FamFG abzusehen, einer Nachprüfung nicht stand. Die Einrichtung einer Betreuung war dadurch angeregt worden, dass die ehemalige Vermieterin der Betroffenen angezeigt hatte, diese habe einem Asylbewerber 180.000 € geschenkt und sei dadurch „zum Sozialfall“ geworden. Die Betroffene hat diese Angaben bestätigt und selbst um die Einrichtung einer Betreuung gebeten. Ein hausärztliches Zeugnis liegt vor, wonach die Betroffene wegen einer bipolaren affektiven Störung mit gemischter Symptomatik sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung geschäftsunfähig sei. Bei dieser Sachlage und in Anbetracht des nur verkürzt möglich gewesenen Kontakts zwischen dem Sachverständigen und der Betroffenen muss sich das Gericht einen persönlichen Eindruck von der Betroffenen verschaffen, um auf dieser Grundlage den Bedarf weiterer sachverständiger Aufklärung beurteilen zu können.
13
Da die Anhörung in Betreuungssachen nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung dient, darf das Betreuungsgericht in einem solchen Fall grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn und soweit die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (Senatsbeschluss vom 24. Februar 2021 – XII ZB 503/20 – FamRZ 2021, 795 Rn. 12).
14
Überdies lassen sich dem angefochtenen Beschluss keine Erwägungen dazu entnehmen, dass eine Vorführung der Betroffenen nach § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG etwa unverhältnismäßig und mithin unzulässig gewesen wäre. Das Landgericht hätte, nach Ausschöpfung aller zwanglosen Möglichkeiten, die Vorführung der Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ins Verhältnis zum Verfahrensgegenstand setzen müssen. Nachdem es um eine Betreuung ging, die wegen der im Raume stehenden Geschäftsunfähigkeit weite Lebensbereiche der Betroffenen abzudecken hätte, wäre die Annahme einer Unverhältnismäßigkeit allenfalls dann in Betracht gekommen, wenn von der Vorführung und deren Durchsetzung gemäß § 278 Abs. 6 und 7 FamFG sonstige negative Folgen erheblichen Ausmaßes für die Betroffene zu erwarten gewesen wären. Zu denken wäre hierbei insbesondere an eine sachverständig festgestellte Gefahr, dass es durch die Vorführung zu erheblichen Nachteilen für die Gesundheit käme (Senatsbeschluss vom 12. Oktober 2016 – XII ZB 246/16 – FamRZ 2017, 142 Rn. 12). Derartiges ist aber weder festgestellt noch anderweitig ersichtlich. Die Nichtdurchsetzung einer notwendigen Anhörung mit den Mitteln des § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG bedeutet einen Verstoß gegen § 26 FamFG (Senatsbeschluss vom 13. Februar 2019 – XII ZB 485/18 – FamRZ 2019, 736 Rn. 21).
15
4. Da sich nicht ausschließen lässt, dass das Landgericht nach der auch von ihm selbst für erforderlich gehaltenen Anhörung der Betroffenen zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, da er die noch erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann.
16
5. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Dose     
      
Schilling     
      
Nedden-Boeger
      
Botur     
      
Guhling     
      


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